Der Ruf der Befreiung

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July 18, 2019

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Ausgabe 23 / 2019:
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July 2019
Was das Geld mit uns macht
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Von der Bankerin zur buddhistischen Nonne

Als junge Frau lebte die Britin Emma Slade in der globalen Finanzwelt bis ein einschneidendes Erlebnis sie in eine Krise warf, die ihrem Leben eine ganz neue Richtung geben sollte. Als ich Emma Slade auf Skype treffe, fällt mir sofort ihre energetische und hellwache Präsenz auf, mit der sie heute als buddhistische Nonne über ihren Weg zu dieser Weisheitstradition spricht. Auch in ihrem »ersten Leben« als Investmentbankerin und Fondsmanagerin war sie ein energievoller Mensch, sie genoss die intellektuell faszinierende Arbeit und die globale Vernetzung in der Finanzbranche. Sie unternahm viele Geschäftsreisen nach Asien, wo sie auch das traumatische Ereignis erfuhr, das ihr Leben für immer veränderte.

Im Jahr 1997 hatte sie einige Termine in Jakarta, um im Kontext der damaligen Finanzkrise einigen Firmen unangenehme Fragen zu stellen. Eines Abends, als sie zu ihrem Fünfsternehotel zurückgekehrt war, hörte sie ein Klopfen an der Tür. Als sie die Tür öffnete, stand dort ein Mann, der eine Pistole auf sie richtete. »Mir blieb keine Zeit zu reagieren,da war er schon im Zimmer.« Sie war sich nicht sicher, was dieser Mann von ihr wollte, und ob es etwas mit ihrer Geschäftsreise und mit den Fragen, die sie stellen wollte, zu tun hatte. Sie wurde seine Geisel und beide waren in diesem Raum zusammen gefangen. Weil die Leute im Nachbarzimmer ihren Schrei gehört hatten, war beiden klar, dass man Bescheid wusste, was vor sich ging. Nach einer quälenden Zeit der Ungewissheit tat sich plötzlich für sie die Gelegenheit zur Flucht auf und die Polizei stürmte das Zimmer und nahm den Mann gefangen.

Diese Erfahrung war der Auslöser für einen radikalen Wandel in Emma Slades Leben. Zwei Gefühle waren der Auslöser dafür: »Bei diesem Vorfall fühlte ich eine tiefe Verzweiflung darüber, dass ich in meinem Leben nichts getan hatte, das für die Welt hilfreich war. Ich fühlte, dass ich niemanden wirklich liebte. Ich habe mich, ehrlich gesagt, um niemanden gekümmert, außer um mich selbst. Und ich wusste, dass ich die Welt nicht verlassen möchte, ohne irgendetwas Gutes getan zu haben.« Der zweite starke Eindruck war, als die Polizei ihr das Foto des Angreifers zeigte, der jämmerlich in seiner Unterwäsche auf dem Boden lag. »Als ich dieses Foto sah, empfand ich eine überwältigende Traurigkeit für ihn und für die Situation. Das hat mich sehr mitgenommen, denn es war ein sehr unmittelbares Gefühl des Schmerzes für ihn, der mein Angreifer war. Ich war das Opfer, aber an diesem Punkt schien es, als wäre er derjenige, der wirklich Probleme hatte.«

Anfangs war es schwer für sie, diesen Vorfall zu verarbeiten. Sie hatte sich aus dieser ausweglos scheinenden Situation befreien können, aber innerlich war sie nicht frei. Sie begann mit Yogaübungen, die ihr bei der Heilung des Traumas halfen und in ihr ein Gefühl der Ganzheit stärkten. Sie ging den Yogaweg mit großer Konsequenz und wurde engagierte Yogalehrerin. Die Sehnsucht nach innerer Befreiung führte sie auch zur Meditation. Auch ausgelöst durch ihr erschütterndes Erlebnis und die damit verbundenen Emotionen wollte sie die Natur des Geistes tiefer erforschen. 2011 reiste sie das erste Mal nach Bhutan, um dort Meditation zu üben und die buddhistische Philosophie kennenzulernen. Der Buddhismus hatte sie schon als Kind interessiert. Ihre Mutter kaufte ihr ein Buch über Buddhismus, als sie ungefähr elf Jahre alt war, und sie hatte eine Buddha-Statue von ihrem Großvater. Aber da diese Tradition im Westen nicht etabliert war, vertiefte sie dieses Interesse zunächst nicht. Jetzt folgte sie diesem Impuls bei einigen Reisen nach Bhutan und wurde dort Schülerin eines tibetischen Lama, eines autorisierten Lehrers der buddhistischen Weisheitstradition.

Nach einigen Jahren der Übung sagte der Lama plötzlich zu ihr: »Jetzt wechselst du deine Kleidung«, und bald danach legte sie die Gelübde einer buddhistischen Nonne ab. Für sie war es ein folgerichtiger Schritt auf dem Weg der Befreiung. »In diesem Moment kam es mir nicht in den Sinn, Nein zu sagen. Ich spürte, er wusste, dass es das Richtige war, und ich vertraute ihm. Es berührte mich, dass er dachte, ich könnte diese Gelübde leben. Und es war eine große Ehre, weil er mir damit den Weg zu tieferen Lehren des Buddhismus eröffnete. Es gibt so viele Wege, sich als menschliches Wesen zu entwickeln. Für mich ist das Leben der Gelübde, das zölibatäre Leben, das Leben zum Wohl anderer, sehr stimmig.« In diesem spirituellen Prozess musste sie zunächst drei Jahre lang die 440.000 vorbereitenden Übungen praktizieren und die tibetische Sprache und buddhistische Philosophie studieren.

WIE KÖNNTE UNSER LEBEN SEIN, WENN ES AUF ZUFRIEDENHEIT GEGRÜNDET WÄRE?

Teil dieser Übungen war auch die Vertiefung des Mitgefühls, was sie dazu führte, 2015 die Organisation Open Your Heart To Bhutan zu gründen, um ihrem Studium des Mitgefühls einen Ausdruck zu geben. Diese Organisation hilft jungen behinderten Menschen. Emma Slade sagt über dieses Engagement: »Diese Kinder und Jugendlichen berühren mein Herz, weil sie gewissermaßen in ihren Körpern gefangen sind und sich in dieser Gesellschaft als bedeutungslos erleben. Das erinnert mich auch an meine Erfahrung in Jakarta, als ich mich in meinem eigenen Körper gefangen fühlte und die Ausweglosigkeit spürte. Diese Resonanz führte zu dem Entschluss, dass dies der Bereich ist, in dem ich helfen möchte. Bei der Organisation und dem Fundraising kommen mir auch meine Fähigkeiten aus meiner früheren Arbeit zugute.« Ihre Hilfsorganisation errichtete eine Schule für behinderte Kinder in Ost-Bhutan. »Es ist wirklich großartig, zu sehen, wie diese Kinder eine Chance bekommen zu lernen, sich vollwertig zu fühlen und sich mit Kindern mit ähnlichen Erfahrungen anzufreunden«, sagt sie. Auf diesem Weg ermöglicht sie diesen Kindern, die in Bhutan oft isoliert sind, einen Geschmack von der Befreiung, die sie in ihrem Leben geleitet hat.

Um ein größeres Publikum an ihrem Weg der Befreiung teilhaben zu lassen, veröffentlichte sie 2017 ihr Buch »Befreit«. Ebenso beginnt Emma Slade, zunehmend den Buddhismus an Menschen im Westen weiterzugeben. Sie denkt, dass diese dem Buddhismus in großer Klarheit begegnen können, weil die Lehren nicht in ihre Kultur eingebettet sind. In asiatischen Ländern ist Buddhismus vielmehr Teil einer Kultur von Glaubenssätzen und Ritualen. »Viele der Kernprinzipien des Buddhismus, die sich mit der Befreiung des Geistes beschäftigen und die Verwirklichung von Mitgefühl und Weisheit zum Ziel haben, können eine enorme Hilfe im Westen sein«, ist sie überzeugt. Und sie sieht, dass die Menschen im Westen bereit sein könnten für diese neue Art des Seins und Erkennens. Sie denkt, die Welt der Gier, die sie auch als Bankerin erlebte, kommt möglicherweise zu einem Ende, weil wir immer mehr die globalen Folgen unserer Lebens- und Wirtschaftsweise bemerken. Sie fragt: »Wie könnte unser Leben sein, wenn es auf Zufriedenheit gegründet wäre? Kann ich sagen, ich habe genug? Und kann ich aus dieser Zufriedenheit heraus fragen, was ich wirklich in der Welt beitragen möchte?« Ihre Erfahrung führte sie dazu, zu erkennen, dass das wahre Glück nicht darin liegt, noch mehr Dinge anzuhäufen. Sie denkt, dass viel mehr Menschen für diese Einsicht bereit sind, die auch sie befreit hat.

Author:
Mike Kauschke
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