Der Segen der Freundschaft

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 16, 2020

Featuring:
Soryu Forall
Buddha
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 26 / 2020
|
April 2020
Menschliche Reife
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Wie Freude auch durch Leid führen kann

Der junge buddhistische Lehrer Soryu Forall hat in Vermont für junge Menschen eine Monastic Academy gegründet. Sie soll ein Ort für Verantwortungsträger und Pädagogen von morgen sein, ein Ort der ihnen das menschliche Rüstzeug gibt, in der Welt ihre Aufgabe zu erfüllen. Wir sprachen mit ihm über die Fähigkeit zur Freundschaft als lebendiger Ausdruck unserer Menschlichkeit.

evolve: »Reife« ist ein großes Wort mit vielen Bedeutungen. Wir leben in einer Zeit, in der globale und soziale Themen eine besondere Dringlichkeit haben und sehr direkt in unser Leben einwirken. Sie sind ein spiritueller Lehrer, in Ihrer Arbeit muss die menschliche Reife eine große Rolle spielen. Wie würden Sie Reife aus Ihrer Sicht beschreiben.

Soryu Forall: Die wichtigste Art von Reife, die ich kenne, ist die Fähigkeit, Leiden zu begegnen. Und daraus entsteht die Fähigkeit, Leiden aufzulösen. Die Fähigkeit, Leiden zu begegnen, ist die Fähigkeit, zu akzeptieren, dass wir Fehler gemacht haben, den angerichteten Schaden zu betrauern und diese Erfahrungen verarbeiten zu können. Dies mag sich schrecklich anhören und ist ein Grund, warum sich viele Menschen nicht auf einen spirituellen Weg begeben, denn das Tor zu diesem Weg beschreibe ich als die Auseinandersetzung mit Leiden, eigenen Fehlern, Verwirrung und Bedauern. Und viele von uns versuchen, das zu vermeiden. Aber wenn wir dies nicht tun, erleben wir nicht die erstaunliche Freude einer anderen Form von Reife. Vielen Menschen fehlt die Reife, glücklich zu sein, die Schönheit der Welt zu sehen und sich von ihr erheben zu lassen. Diese Reife, unsere Lebensweise tatsächlich verändern zu können, ermöglicht es uns, uns jeden Tag für den Rest unseres Lebens zu freuen. In dem Maße, wie wir zweifeln, trauern, alles hinterfragen und dem Leiden begegnen, erleben wir in jedem Moment Glück, Freiheit, Freude und Heiterkeit, da dies unsere Fähigkeit zum guten Leben ist, die Bestätigung, dass es in unserer Hand liegt, dies zum Ausdruck zu bringen.

Freude und Leiden

e: Wenn Reife bedeutet, sich dem eigenen Fehlverhalten zu stellen und Freude zu erleben, dann scheint es, dass beides nicht getrennt, sondern vielmehr sehr eng miteinander verbunden ist.

SF: Ja, und diese beiden Arten von Fähigkeiten oder Reife erzeugen idealerweise eine positive Rückkopplung: Sie unterstützen sich gegenseitig. Für viele Menschen ist es überwältigend, Leiden anzuerkennen, und ein sehr wichtiger Weg, um uns dem Leiden stellen zu können, besteht darin, uns dem Glück, dem Wunder des Seins und der einfachen Freude am Leben zu stellen – dem Geschenk, dass wir sehen, hören, fühlen, wissen können – nichts davon sollten wir für selbstverständlich nehmen. Im Gegenteil, in diesem Moment haben wir diese wunderbare Erfahrung: Du und ich, wir sind in Verbindung. In diesem Moment entsteht eine Freundschaft, und wir können uns dessen bewusst sein und ein Gefühl des tiefen Glücks empfinden. Das an sich ist eine Fähigkeit.

Oft fragen wir uns: Sind wir wirklich bereit, zum Wohle der Welt zu leiden? Eine andere Frage ist: Sind wir wirklich bereit, uns zum Wohle der Welt zu freuen? Oder: Sind wir bereit, glücklich zu sein?

Viele von uns sind eher bereit, Schmerz zu empfinden als Freude zu erleben. Eines der vielen Dinge, an denen wir arbeiten können, ist das Glücksgefühl. Danach ist es für die Menschen völlig natürlich, sich auf sehr gesunde Weise durch Mitgefühl in der Welt des Leidens zu bewegen. Wenn sich dein Glück in dir aufbaut und in die Welt überfließen will, trägt es dich in das Leiden der Welt, das sich als wundervolles Abenteuer herausstellt. Es scheint seltsam, ich weiß, aber meiner Erfahrung nach ist es weitaus freudiger, dem Leiden zu begegnen, als es vermeiden zu wollen. Es bestätigt unsere Kraft, unsere Neugier, unseren Platz in der Welt und die Liebe, die diesen Ort, diesen Sinn mit Leben erfüllt.

Wenn wir ein Gefühl des Glücks haben, begegnen wir dem Leiden automatisch anders. Wenn wir uns dem Leiden stellen, entdecken wir, dass es nicht gegeben ist. Unsere Handlungen, unser eigener Verstand, unsere Teilnahme an der Welt, die Art und Weise, wie wir wahrnehmen, wie wir uns verhalten, dies schafft das Leiden. Es existiert nicht an sich, was bedeutet, dass wir es verändern können. Wir können verändern, wie wir wahrnehmen, wie wir uns verhalten, wie wir uns engagieren, und dann wird das Leiden erlöst und ein noch tieferes Glück entsteht. Sobald dieses Glück unseren Körper durchdringt, bringt es uns ganz natürlich wieder dazu, uns dem Leiden zu stellen. Diese positive Rückkopplungsschleife führt uns weiter auf dem Weg. Es ist also so, als müssten wir drei Fähigkeiten entwickeln: ein tiefes Erleben von Glück, ein tiefes Erleben von Leiden und das Verbinden dieser beiden Empfindungen zu einem heilsamen Weg.

Aus Liebe zum Leben

e: Darf ich eine sehr einfache Frage stellen: Woher kommt das Glück?

SF: Das ist eine wunderbare Frage. Und wie Sie sagen, es ist ganz einfach. Die Antwort ist so einfach, dass wir sie nicht ausdrücken können. Jedes Konzept ist zu kompliziert, um unsere Aufmerksamkeit auf diese Antwort zu lenken. Wenn man sie direkt beantworten möchte, könnte man sagen: Nirgendwoher. Glück kommt nicht von etwas oder von irgendwoher, aber das ist vielleicht zu simpel, als dass es praktisch wäre. Wenn ich eine Antwort geben muss, die nicht unverständlich einfach, sondern verständlich und praktisch ist, dann würde ich sagen: Glück kommt von Freundschaft.

e: Können Sie mehr dazu sagen?

SF: Es ist schwer, mehr zu sagen, das ist schon zu kompliziert. Aber vielleicht hilft es, mehr zu sagen. Die Fähigkeit, angesichts des Leidens glücklich zu sein, ist die lebendige Erfahrung von Freundschaft. Warum? Ich bin zum Beispiel sehr besorgt um unsere Erde. Ich bin sehr besorgt darüber, was mit dem Leben auf diesem Planeten geschieht. Es ist die bestimmende Kraft meines Lebens seit meiner Kindheit. Ich habe mein persönliches Leben aufgegeben, ich habe es »hingegeben«, nicht nur philosophisch, sondern auch, wie ich es jeden Tag lebe. Die Gemeinschaft, in der ich lebe, unser Tagesablauf, was ich esse und was ich sage. Mein ganzes Leben gebe ich, um der Zerstörung des Lebens auf dem Planeten entgegenzuwirken. Ich bleibe stets in tiefer Verbindung mit dem Schrecken der Zerstörung des Lebens, die Tag für Tag geschieht. Ich spüre einen tiefen Schmerz, weil ich weiß, dass wir uns weiterhin aktiv an der Vernichtung beteiligen.

Hier stellt sich eine wichtige Frage: Wie kann ich noch normal mit Ihnen sprechen? Wieso bin ich nicht verrückt geworden? Wie ist es möglich, diese Besorgnis auf heilsame Weise zu erleben? Viele Menschen verletzen sich selbst, wenn sie sich dem Schmerz der Zerstörung des Lebens aussetzen, zum Beispiel dem Klimawandel und anderen ökologischen Problemen, dem Atomkrieg und potenziell verheerenden Technologien. Wir sind sehr verletzlich, wenn wir uns um diese Dinge sorgen. Wie kommt es, dass ich mich dem so voll und ganz stelle und trotzdem so glücklich bleibe? Meine Antwort ist, dass jedes Mal, wenn ich diesen Horror betrachte, er im Kontext der Freundschaft, der Liebe, meiner Liebe zum Leben auf Erden steht. Dieses Mitgefühl wird sofort bestätigt und geht über dieses Leiden hinaus. Wenn wir uns dem Leiden, der Ungerechtigkeit, der Zerstörung des Lebens ohne ein Gefühl von Liebe, Mitgefühl und Freude stellen, wird es uns zermalmen. Aber wenn wir all das Leid als Erfahrung der Liebe, der Freundschaft mit allen Wesen erleben, dann entsteht eine Art Glück, das größer ist als das Leiden und das uns zu seiner Lösung führt.

Ich unterrichte den buddhistischen Achtfachen Pfad. Eine der wichtigsten Lehren des Buddha ist, dass wir die Kausalität verstehen sollten, wie Dinge als Ergebnis anderer Dinge entstehen. Wenn wir die Dinge aus dieser Sicht betrachten, haben wir die Möglichkeit, die Wurzeln zu untersuchen, auf denen verschiedene Leiden und problematische Zustände beruhen. Wenn wir uns die Zerstörung des Lebens ansehen und etwas dagegen unternehmen wollen, können wir uns fragen: Woher kommt es? Was ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen das Leben zerstören?

Dies ist eine sehr komplexe Frage. Ich behaupte also nicht, eine umfassende Antwort geben zu können. Aber eine Ursache ist, dass wir Menschen, um es ganz platt zu sagen, das Leben nicht genug genießen. Wir schätzen das Leben nicht, weil wir nicht gerne am Leben sind. Wir haben Angst vor dem Tod, mehr als die meisten von uns zugeben wollen, und wir genießen das Leben nicht. Eine der besten Möglichkeiten, die Welt zu retten ist, das Leben zu genießen und die Erfahrung des Sehens, Hörens, Fühlens, Wissens, Liebens und der direkten Begegnung mit dem Wert allen Lebens durch tiefes Mitgefühl wertzuschätzen. Die Freude ist ein wesentlicher Bestandteil oder Voraussetzung für die Überwindung des Geisteszustands, der unsere Probleme verursacht.

e: So finden wir die Fähigkeit zu reagieren, ohne der Problematik auszuweichen oder in Panik zu geraten, sondern wir können uns der Situation aus Freude und Liebe zum Leben zuwenden.

SF: Viele von uns verharren am Rande dieser Krise und fühlen sich daher entmachtet. Aber keiner von uns muss machtlos abseits stehen. Wir alle haben Zugang zur Quelle des Problems. Der menschliche Geist verursacht diese Krisen. Wir alle haben Zugang zum menschlichen Geist. Wir können unseren Geist reinigen. Wir können üben und daran reifen, uns einzulassen und unsere Liebe zu allen Wesen auszudrücken. Es wird nur schrecklich, wenn wir uns an die Seitenlinie stellen. Was uns engagiert aufs Feld zurückbringt, ist Mitgefühl, ist Freundschaft. Und deshalb würde ich sagen, dass Freundschaft die Quelle ist, aus welcher diese große Freude kommt.

DIE FÄHIGKEIT, ANGESICHTS DES LEIDENS GLÜCKLICH ZU SEIN, IST DIE LEBENDIGE ERFAHRUNG VON FREUNDSCHAFT.

Lebendige Beziehung

e: Ich finde es interessant, dass Sie als buddhistischer Lehrer die Freundschaft betonen. Während wir buddhistische Meditation häufig so verstehen, dass man sich in die Leere oder die Ganzheit versenkt, scheint für Sie diese Beziehungsdimension ein sehr entscheidendes Element für Meditation und Spiritualität zu sein.

SF: Genau. Ich würde sagen, dass die Version des Buddhismus, die wir häufig im Westen praktizieren, nicht seiner ursprünglichen Absicht oder Struktur entspricht. In den traditionellen buddhistischen Texten macht Buddha klar, dass es auf dem Weg nichts Wichtigeres gibt als Freundschaft. Die Mahayana-Texte gehen noch weiter, wobei Mitgefühl und Freundlichkeit gegenüber allen Wesen als Anfang, Mitte und Ende des Weges hervorgehoben werden. Deshalb betone ich den Achtfachen Pfad, er verlangt, dass wir in allen Aspekten unseres Lebens zur Reife gelangen.

Am Anfang steht die richtige Sichtweise, was bedeutet, dass wir akzeptieren, dass unser Handeln Konsequenzen hat, und dass wir die Fähigkeit haben, zwischen Liebe und Hass, Fürsorge und Gier, Wahrheit und Täuschung zu unterscheiden und zu wählen. Und diese Wahl verändert unsere Zukunft.

e: Mitgefühl scheint eine Fähigkeit zu sein, die ich innerlich entwickeln kann, aber eine Freundschaft ist nur eine Freundschaft, wenn ich auf Freundschaft reagiere.

SF: Das stimmt. Wenn wir über Mitgefühl nachdenken, verstehen wir es oft als ein Gefühl. In der Geschichte der buddhistischen Tradition wurde das Wort Mitgefühl, Karunã, zunehmend durch das Wort Upaya ersetzt, was geschicktes Handeln oder geschickte Absicht bedeutet. Natürlich sollten wir Mitgefühl empfinden, aber wenn es nicht in Aktion, in Freundschaft ausgedrückt wird, gibt es weitere Arbeit zu tun.

Im Achtfachen Pfad beginnen wir mit der richtigen Sichtweise, danach arbeiten wir an unseren Gedanken und Absichten, sodass es Gedanken und Absichten der Freundschaft werden. Und dann arbeiten wir an der Redeweise und stellen sicher, dass unser Sprechen freundlich und ehrlich ist. Dann arbeiten wir an unserem Handeln, bis sich das ganze Leben in der Verbundenheit mit allen Wesen so verändert hat, dass unsere Lebensweise geheiligt wird.

Das ist die erste Hälfte des Weges. In der modernen Welt achten wir oft zu wenig darauf, wir wollen direkt zur Meditation und Einsicht gelangen. Im Allgemeinen würde der Buddha den Menschen keine Meditation beibringen, bis sie die richtige Lebensführung erreicht haben.

Freunde der Erde

e: Wenn ich Ihnen zuhöre, scheint es mir, dass Reife erst dann vollständig verstanden werden kann, wenn wir die Fähigkeit haben, ein Freund mit einem anderen Menschen, aber vielleicht auch ein Freund mit der Erde zu sein.

SF: Das ist genau richtig. Wie zeigt sich unsere Fähigkeit, ein Freund zu sein? Wenn Sie mich fragen: »Was ist der Buddha?«, würde ich sagen: »Der Buddha ist eine Person, die ihre Fähigkeit, ein wahrer Freund zu sein, vollständig perfektioniert hat.« Um ein wahrer Freund zu sein, unterrichten wir drei Fähigkeiten:

Die Weisheit, Menschen wirklich so erkennen zu können, wie sie sind. Wir können sie und die Situation so sehen, wie sie wirklich sind. Um an diesen Punkt zu gelangen, entfernen wir die problematischen Ansichten, die die moderne Welt in unsere Köpfe eingeprägt hat. Das tun wir größtenteils durch Meditation. Das reicht aber nicht. Wir brauchen auch den Wunsch, die Hoffnung und das Bestreben zu dienen, um den Menschen wirklich zu helfen. Wir wollen von jemandem erkannt werden, der das Beste für uns will, der mitfühlend ist gegenüber allen Wesen. Das ist die zweite Fähigkeit: Liebe. Die dritte Fähigkeit ist Wirkkraft, die Fähigkeit, etwas zu bewirken, Veränderungen herbeizuführen. Unser Ziel in der Monastic Academy ist es, Führungskräfte zu fördern, die alle drei Fähigkeiten entwickeln.

Und nicht nur eine Person, sondern auch eine Gemeinschaft sollte diese Fähigkeiten entwickeln. Wir bilden Gemeinschaften, die in der Lage sind, anderen Gemeinschaften und auch der Erde ein wahrer Freund zu sein.

Und solch eine Gemeinschaft als Ganzes sollte als kollektive Intelligenz in der Lage sein, effektiv auf die Probleme der Welt zu reagieren und als Einheit ein Freund zu sein, weil die Menschen zutiefst gemeinschaftliche Wesen sind.

SIND WIR WIRKLICH BEREIT, UNS ZUM WOHLE DER WELT ZU FREUEN?

Dadurch können wir zur Entwicklung einer Kultur beitragen, welche die Fähigkeit zur Freundschaft besitzt. Diese Kultur kann sich dann auf alle Menschen ausdehnen und kann die Menschheit zu einer Einheit führen, die zur Freundschaft fähig ist und alle Menschen zusammen zum Freund der Erde macht.

Wir haben die Reife zuerst auf individueller Ebene entwickelt und dann durch den Aufbau von Gemeinschaften ermöglicht, dass auf dieser Ebene Menschen, die sich kennen, einen Zustand tiefer Reife erreichen. Und dann gehen wir noch weiter, damit alle Menschen als eine einzige kollektive Intelligenz in der Lage sind, zur Freundschaft mit allen Wesen zu reifen. Auf diese Weise erfüllen wir die Tugend und somit alle Elemente der Erleuchtung. In dieser Zeit großen Leidens und großer Zerstörung haben wir die ebenso große Chance, zum Wohle aller Wesen auf dem Weg zur Befreiung voranzugehen.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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