Der Vermittler

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

April 5, 2021

Featuring:
Wolfgang Aurose
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Ausgabe 30 / 2021:
|
April 2021
Kunst öffnet Welten
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Wolfgang Auroses Weg über Grenzen hinweg

Meine erste Begegnung mit Wolfgang Aurose war vor vielen Jahren auf einer Konferenz des Integralen Forums, das sich der Vermittlung und Erforschung der Integralen Theorie widmet – zu dieser Zeit noch sehr stark geprägt von der integralen Philosophie Ken Wilbers, die auch im deutschsprachigen Raum auf großes Interesse stieß. Ich war damals auch fasziniert von der Integration verschiedener Wissensformen, die Wilber durch sein Modell gelang. Wolfgang Aurose fiel mir durch seine hinterfragende Haltung auf und seinen kritischen Blick, den er in einige Gespräche einbrachte. Ich erfuhr dabei, dass er nicht nur das Werk Wilbers gut kannte, sondern auch einen anderen integralen Pionier sehr schätzte, den indischen Weisen Sri Aurobindo, der mit seiner spirituellen Partnerin Mira Alfassa, genannt »Die Mutter«, Mitte des 20. Jahrhunderts in Indien die spirituelle Stadt Auroville gründete. In einem umfassenden Blick war es Wolfgangs Anliegen, zwischen beiden integralen Traditionen zu vermitteln, die sich damals häufig skeptisch gegenüberstanden.

In einem Gespräch mit diesem Wegbereiter integralen Denkens im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus erfuhr ich, dass diese Haltung des Vermittelns sein ganzes Leben durchzieht. Ich erreichte ihn über Zoom in seinem neuen Zuhause in Oregon an der Westküste der USA. Dabei berichtete er mir von einer frühen Erfahrung, die für ihn diesen Weg der Vermittlung vorzeichnete: »Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, las mir meine Mutter, die Sozialistin und Nazihasserin war, zum Einschlafen deutsche Märchen und Balladen vor. Diese Geschichten haben mich sehr berührt, ich hatte das Gefühl, dass sie zu mir gehören.« Für den Heranwachsenden tat sich ein Zwiespalt auf. Er fragte sich, was es mit der deutschen Seele auf sich hat: Wie konnte man den Gegensatz zwischen den Schrecken der Geschichte und der Schönheit dieser poetischen Texte verstehen? Das war eine der Triebfedern, um sich auf einen inneren Weg zu machen. Dieser Weg begann mit Sri Aurobindo.

Als Wolfgang in den 60er-Jahren dessen Bücher las, machte er die Erfahrung, dass er die Stimme des indischen Heiligen in sich hörte. Durch die Lektüre erfuhr er auch von Auroville als einem experimentellen Ort zur Verwirklichung eines integralen Bewusstseins und es reifte in ihm der Wunsch, diese Gemeinschaft zu besuchen. Als er dort 1972 zum ersten Mal ankam, begegnete er Der Mutter. In einem Darshan mit ihr machte er die Erfahrung, dass sie ihm ihr tiefstes Selbst offenbarte – und damit auch sein eigenes inneres Sein. »Das ist das größte Geschenk, was uns verwirklichte Menschen machen können: einfach zu zeigen, wer sie sind. In einem einzigen, zeitlosen Moment offenbaren sie, wer wir als Menschen wirklich sind. Das ist prägend für das ganze Leben. Wenn man einmal diese Erfahrung gemacht hat, gibt es kein Zurück mehr«, sagt er heute über diese Erfahrung. Darin wurde auch der Bund mit Auroville geschmiedet, der ihn ein Leben lang begleitet.

Unermüdlich hat Wolfgang Aurose daran mitgewirkt, dass unsere zerrissene Welt etwas mehr zusammenfindet.

1972 verbrachte er ein halbes Jahr in Auroville, ging dann aber zurück nach Deutschland, weil er das Gefühl hatte, er brauchte mehr Qualifikation. Er wollte nicht nur eine »helfende Hand« sein, sondern wirklich etwas beitragen. Eigentlich wollte er Architektur studieren, um damit Auroville zu unterstützen. Er entschied sich dann für Journalismus, Geschichte und Ethnologie. Auch dieser Entschluss kam aus dem Wunsch zu vermitteln, denn, so Wolfgang: »Journalisten vermitteln zwischen der äußeren Realität und dem Privatleben des Einzelnen.«

Als Journalist spezialisierte er sich auf die Berichterstattung aus der Dritten Welt, war oft in Afrika und Asien unterwegs. Dabei fand er einen großen Zwiespalt zwischen den Qualitäten anderer Kulturen und der Unkenntnis und Arroganz gegenüber diesen traditionellen Kulturen hierzulande. Er wollte über diese Länder auf eine Art und Weise berichten, die vermittelte, dass sie ebenbürtig, bereichernd, notwendig sind. »Die verschiedenen Kulturen brauchen sich gegenseitig, ergänzen einander«, beschreibt er dieses Anliegen. Viele Jahre war er zudem mit seinen internationalen Kontakten für Auroville als Fundraiser und Berater tätig. Er war Vorstand von Auroville International und organisierte große Treffen in verschiedenen Ländern, um die Idee von Auroville in die Welt zu tragen. Jedes Jahr verbrachte er dort einige Wochen.

In den frühen 90er-Jahren lernte er die Schriften Ken Wilbers kennen und sah darin einige Aspekte, die eine integrale Weltsicht für die heutige Zeit aufgriffen. Schon bald suchte er nach Kontakten im deutschsprachigen Raum, die, so wie er, ein tiefes Interesse an den Ideen Wilbers hatten. Er lernte Menschen kennen, mit denen er sich zu selbst gestalteten Retreats traf, um tiefer in die integrale Theorie und Praxis einzudringen. Seine Ausbildung als Journalist und Fundraiser brachte er mit ein, um den »Arbeitskreis Ken Wilber« mitzugestalten, aus dem später das Integrale Forum hervorging.

Bei einem Besuch in Auroville in den 90er-Jahren begegnete er dann wieder der Frage aus seiner Jugend nach dem Wesen der deutschen Seele. Es wurde darüber gesprochen, einen Pavillon für Deutschland zu errichten. In Auroville wurde damals damit begonnen, für jede Nation einen Pavillon zu bauen, der die seelische Qualität dieses Landes zum Ausdruck bringt. »Als wir darüber sprachen, wie ein deutscher Seelenpavillon gestaltet werden könnte, wurde die seelische Spaltung Deutschlands deutlich: Es gibt einen starken Gestaltungswillen und Forschungsdrang, der aus einem rationalen Denken genährt wird. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine mystische, romantische Sehnsucht, die sich in Kunst, Musik und Dichtung ausdrückt. Diese empfindsame Seite wurde im Nationalsozialismus tiefgehend missbraucht, weshalb wir uns im Nachkriegsdeutschland auf unseren rationalen Teil zurückgezogen haben. Aber eigentlich besteht die Aufgabe, zwischen beiden zu vermitteln.« Fortan wollte Wolfgang Aurose sein Leben auch dieser Vermittlung widmen.

Deshalb forschte und recherchierte er jahrelang und schrieb das Buch »Die Seele der Nationen. Evolution und Heilung«, das 2014 erschien. Die Erkenntnisse über eine mögliche Integration in der deutschen Seele gab Wolfgang viele Jahre auch in Workshops weiter, die von seiner amerikanischen Partnerin, der Psychologin und Autorin Soleil Aurose, mitinitiiert und ausgestaltet wurden. Dabei weitete er seine Forschung auch auf andere Nationen aus. Darin folgte ­Wolfgang einer Erkenntnis Aurobindos, der allen Kulturen der Erde eine besondere Seelenaufgabe zusprach. Die Begegnung mit Soleil Aurose führte Wolfgang auf einen anderen Kontinent. Er zog mit Soleil und ihrem Sohn zusammen und heute wohnen sie in Ashland, Oregon. Hier arbeitete er an einem englischsprachigen Buch, das er in mancher Beziehung als eine Art Fortsetzung seines deutschen Bandes ansieht. In diesem neuen Werk, dessen Erscheinen für Juni dieses Jahres geplant ist, wirft Wolfgang Aurose auch einen aktualisierten Blick auf das gespaltene Amerika, das er hautnah erlebt. Es ist vor allem aber anderen heute bedeutsamen Ländern gewidmet, in denen er gewesen ist und die ihm vertraut sind wie China, Israel, der Iran, Indien und Russland.

Seit einigen Jahren leidet Wolfgang ­Aurose an Parkinson, was seine Workshop-Tätigkeit stark einschränkt. »Neben den Einschränkungen bringt mich die Krankheit aber auch in die Gegenwart.« Das morgendliche Meditieren ist für ihn überlebenswichtig, nicht nur wegen der Krankheit, sondern auch aufgrund der Zerrissenheit der Welt. »Jeden Morgen ist es das Eintauchen in die innere Verbundenheit, aus der ich den Tag heraus angehe.«

Es ist die Einheit, die er als junger Mensch in einem Darshan in Auroville erfuhr und die ihn sein Leben lang getragen hat. Unermüdlich hat er dort, wo er sich angesprochen sah, daran gewirkt, dass unsere zerrissene Welt etwas mehr zusammenfindet und die ebenso ursprüngliche wie zukünftige Einheit darin spürbarer wird.

Als wir uns verabschieden, habe ich das Gefühl, einem »Ältesten« im wahrsten Sinne des Wortes begegnet zu sein. Für vieles, was heute an globaler integrativer Arbeit getan wird, kann Wolfgang Aurose wichtige Impulse geben. 

Author:
Mike Kauschke
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