Die dritte Dimension des Integralen

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Published On:

July 19, 2018

Featuring:
Aurobindo Ghose
Jean Gebser
Ken Wilber
Rudolf Bahro
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Ausgabe 19 / 2018:
|
July 2018
Stadt & Land
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Das Feld des integralen Denkens ist inzwischen schon recht weitläufig und vielfältig – was letztlich eine schöne und ermutigende Entwicklung ist. Eine der gegenwärtig üblichsten Konkretionen dieses Denkens ist das insbesondere von Ken Wilber vorgeschlagene Vier-Quadrantenmodell, welches die Differenzierung und Integration der Dimensionen »Innen«, »Außen«, »Individuell« und »Kollektiv« verwendet. Bei Wilber und anderen wird diese vierdimensionale Grundunterscheidung des Weiteren ergänzt durch verschiedene Entwicklungslinien und -ebenen sowie Bewusstseinszustände.

Um einer im Vergleich zum Wilber-Modell etwas anderen Bedeutung des »integralen Denkens« auf die Spur zu kommen, gehe ich ein paar Schritte zurück, dahin, wo dieser Begriff in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen Ausgangspunkt hatte: zu Aurobindo Ghose (der oft auch Sri Aurobindo genannt wird) und Jean Gebser. Aurobindo wie auch Gebser verwenden zur konkreteren Bestimmung einer integralen Wissenschaft bzw. eines integralen Bewusstseins einige Begriffe, die in den heute dominanten Auffassungen des »Integralen« kaum auftauchen, meiner Ansicht nach jedoch essenziell für die Entwicklung und Wirksamkeit des integralen Denkens und Handelns sind. Dazu gehören insbesondere die Begriffe »Intensivierung« bzw. »Intensität«, »Ananda« bzw. »Freude« sowie der Begriff »Liebe« bzw. »kreative Liebe«.

Aurobindo wie auch Gebser verbinden mit der integralen Intensität eine befreite und subtile Kraft des Geistes.

Aurobindo wie auch Gebser verwenden zur konkreteren Bestimmung einer integralen Wissenschaft bzw. eines integralen Bewusstseins einige Begriffe, die in den heute dominanten Auffassungen des »Integralen« kaum auftauchen, meiner Ansicht nach jedoch essenziell für die Entwicklung und Wirksamkeit des integralen Denkens und Handelns sind. Dazu gehören insbesondere die Begriffe »Intensivierung« bzw. »Intensität«, »Ananda« bzw. »Freude« sowie der Begriff »Liebe« bzw. »kreative Liebe«.

Aurobindo wie auch Gebser verbinden mit dieser integralen Intensität eine neuartige Wirklichkeit, eine befreite und subtile Kraft des Geistes. Diese ist jedoch im oben skizzierten integralen Viergliederungsschema nicht fassbar, denn sie ist weder der Innennoch der Außendimension zuordenbar sondern transzendiert bzw. integriert beide und ist damit eine von diesen beiden zu unterscheidende dritte Dimension einer integralen Weltsicht oder Wissenschaft.

Nun könnte man versucht sein darauf hinzuweisen, dass auch der sich vor allem auf Ken Wilber beziehende vierdimensionale integrale Denkansatz diese Qualitäten von Intensität und kreativer Liebe nicht ausschließt. Wilber gab seinem noch unvollendeten Hauptwerk ja sogar den Titel »Eros, Kosmos, Logos«, und verweist damit neben der Außendimension »Kosmos« und der Innendimension »Logos« auf jene dritte Dimension »Eros«.

Schaut man jedoch näher hin wird deutlich, dass sich in diesem Titel zwar die Kraft des Faktischen äußert – d. h. die Wirklichkeit dieser dritten Dimension ist letztlich einfach zu stark als sie in einem Werk über die Evolution des Ganzen ausblenden zu können –; doch der Inhalt des bisherigen Werks wird der Eigenqualität dieser dritten Dimension ebenso unzureichend gerecht wie andere seiner Texte, in denen er versucht, die Begriffe Liebe bzw. Eros zu rekonstruieren.

Gebser und Aurobindo stehen mit ihrer Ergänzung einer wirkungsmächtigen integralen Perspektive durch eine Art dritte Dimension, die sich durch Begriffe wie »Intensität«, »Ananda« oder »kreative Liebe« charakterisieren lässt, übrigens nicht allein.

Unter anderem in Bezug auf Aurobindo und Gebser entwickelte Rudolf Bahro um 1990 einen sehr praktisch orientierten dreidimensionalen integralen Denkansatz, in dem Liebe und Ananda bzw. Glück zentrale Kategorien sind.

Völlig unabhängig von all den bisher genannten Denkern entstand noch ein weiterer Denkansatz, der sich zwar nicht explizit, sondern nur in Nebenbemerkungen als integral bezeichnet, doch in Gehalt und Impetus zweifellos zur weltweit im Werden begriffenen integralen Scientific Community dazugehört. Dessen zentrale Figur ist der russisch-amerikanische Soziologe Pitirim Sorokin, der um 1950 im Rahmen des von ihm initiierten Harvard-Zentrums für Soziologie eine tiefenkulturelle Evolutionstheorie entwickelte, die nicht nur gesellschaftliche Innovationen (Außendimension) und menschliche Bewusstseinsqualitäten (Innendimension) verband, sondern verschiedenen Entwicklungsstufen der kreativen Liebe (als dritte Dimension) die letztlich entscheidende Rolle bei der Evolution der beiden anderen zuwies.

Die moderne, vorwiegend äußerlich bzw. materialistisch orientierte Wissenschaft meidet bisher nicht nur die inneren Dimensionen, sondern ebenso die Außenund Innendimension integrierende »dritte Dimension«. Integrale Wissenschaften müssen daher nicht nur Begriffe, Heuristiken und Methoden zur Integration der Innenwelten, sondern ebenso Begriffe, Heuristiken und Methoden zur Integration dieser dritten Dimension entwickeln, welche wir mit Begriffen wie »Intensität«, »Freude« und »Liebe« umreißen können.

Author:
Mike Hosang
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