Die Geschichte der Zukunft

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 12, 2021

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Ausgabe 31 / 2021:
|
July 2021
Wir alle leben in Mythen
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Braucht die Zukunft Mythen?

Welche Geschichten erzählen wir uns eigentlich von der Zukunft? Wir haben fünf Menschen, die sich in verschiedener Weise mit mythischen, symbolischen und archetypischen Welten beschäftigen, gefragt:

Hanna Close, Kuratorin, Autorin, Fotografin, studiert Engaged Ecology am Schumacher College, England.


»Die Zukunft« ist ein Mythos. Sie ist eine gemeinschaftliche Vision von Zeit, Ort und Gefühl jenseits dessen, wo wir uns jetzt befinden – errichtet auf der entfernten Seite des Horizonts, außerhalb unserer Reichweite. Auch wenn wir sie nicht berühren können, spüren wir ihre Präsenz und ihr Potenzial. Wir müssen uns gemeinsam dorthin bewegen. »Die Zukunft« ist, ebenso wie der Mythos selbst, der vorletzte Punkt des Ankommens – sie ist bereits über uns hinausgegangen, wenn wir dort ankommen. So zieht uns die Zukunft – genauso wie der Mythos – vorwärts in eine ständige Verlebendigung. Die Welt träumt sich gemeinsam durch die Mythen. »Die Zukunft« entsteht durch unser kollektives Träumen, also durch unsere kollektive Mythologisierung.

Mythos ist im menschlichen Genom allgegenwärtig. Also geht es weniger darum, »ob die Zukunft Mythen braucht«, sondern eher darum, »welche Mythen die Zukunft sind«. So wie wir uns in einer Welt der wachsenden technologischen Abstraktion verfangen, werden wir die Mythen brauchen, um uns nach Hause zu bringen, uns an das Wesen unserer Herzen zu erinnern.

Tom Cheetham, Autor, Lehrer, Wissenschaftler und Dichter.

Die Zukunft braucht sie nicht nur, sie wird sie haben. Sie hat sie jetzt schon. Mythen sind die Geschichten, nach denen wir leben. Die Welt ist aus Geschichten gemacht. Wir können nicht außerhalb von ihnen stehen. Wenn wir sie nicht selbst aktiv gestalten, dann sind wir Figuren in den Geschichten anderer. Geschichten bringen unser Leben zum Ausdruck und lenken es, bestimmen unser Wissen, unsere Unwissenheit, unsere Hoffnungen und unsere Ängste. Die Welt ist das Theater unseres erzählten Lebens, und wir leben am vollsten, am intensivsten, wenn wir jenseits der von Gewohnheit und Autorität geschriebenen Drehbücher improvisieren.

Manche Geschichten wiederholen sich endlos und verändern sich so langsam, dass wir es nicht bemerken. Andere entstehen plötzlich, spontan, bieten Chaos und Schöpfung und alles dazwischen. Das Wichtigste ist nicht, was uns passiert, sondern wie wir reagieren: wie wir die Worte und die Geschichten, in denen wir leben, inszenieren, improvisieren, erschaffen und verkörpern. Die Welt ist viel größer und wahrscheinlich viel seltsamer, als wir uns vorstellen können. Das Wunder ist, dass sie der Vorstellungskraft überhaupt zugänglich ist. Welche Kräfte wir entfalten, hängt von unserer Fähigkeit ab, uns an veränderte Bedingungen anzupassen, neue Möglichkeiten zu entwerfen, die Bandbreite unserer Sympathien zu erweitern und unsere Wünsche neu zu erfinden.

Martin Spura, Autor, Traum- und Mythenforscher.


Wie der Körper Nahrung braucht, so braucht die Seele Mythen, Träume und Inbilder, mit denen sie spielen und in denen sie sich wiederfinden kann. Obwohl die innere Welt uns am nächsten ist, leben wir oft getrennt von ihr, als ginge sie uns nichts an. Das Nächste rückt in die weiteste Ferne und wird uns fremd. Doch indem wir uns fremd werden, entfremden wir uns auch von der Welt um uns herum. In den Mythen bleibt indessen das innerlich Verborgene im äußeren Bild anschaulich. Mythen können als Resonanzkörper wirken, die dasjenige zum Schwingen bringen, was unentdeckt und abgespalten in uns schlummert. Durch den Zusammenklang von äußerer Erzählung mit der inneren Wärmeempfindung erwacht die Erinnerung an das Vergessene. Wir können uns wieder innewerden. Es geht darum, die so fern scheinenden Bildspiele ins heutige Bewusstsein zu integrieren und als etwas uns Zugehöriges zu erfahren. Insofern brauchen wir keine neuen Mythen, aber wir brauchen die ewigen Mythen in einer verwandelten Weise. Nicht nur als phantastische Geschichten der Vergangenheit, vielmehr als unsere Geschichte der Gegenwart, als die Erzählung unseres eigenen Seelenlebens im Hier und Heute. Begegnen wir den Mythen in dieser intimen Weise, dann zeigen sie sich aktueller denn je. Sich den Mythen auszusetzen heißt, sich im Innersten berühren zu lassen. Entscheidend dabei ist, dass die innere Welt nicht mehr als getrennt von der äußeren Objektwelt erlebt wird. Innen und außen wollen sich in einem kreativen Geist umarmen. Der Mythos kann helfen, die Spaltung zu überbrücken. Er kann das Wundpflaster sein für den Riss, der den Verstand vom Herzen trennt und das Ich vom Du scheidet. Gerade der aufgeklärte Mensch in seiner Vereinzelung braucht den Mythos, damit das Denken nicht im einseitigen Logos erstarrt, sondern sich wieder als eine schöpferische Kraft erfahren kann. Erst wer das Verbindende wahrnimmt, findet aus der Abkapselung heraus ins Offene. Die Brücke hinüber zu den Dingen bildet der Mythos – oder in anderen Worten: ein wildes Denken, das wieder aufblühen darf als ein ungezähmtes, dem Spiel, Phantasie, Empfindungsreichtum und Wärme nicht länger fremd sind.

Jeremy Johnson, Präsident der International Jean Gebser Society und Autor von »Seeing Through the World: Jean Gebser and Integral Consciousness«.

Die Zukunft liegt in der Imagination. Wenn wir Geschichten erzählen, begeben wir uns erzählend in die Zukunft. Daraus erwächst dann die Frage: Welche Art von Geschichten erzählen wir? Welche Mythen lehren uns, wie wir unser Denken, unser Sein und unser Handeln auf eine planetare Ebene heben können? Wenn es uns mit den Lektionen des integralen Bewusstseins ernst ist, dann erkennen wir, dass Menschen gar nicht anders können, als Mythen zu erschaffen. Jedes einzelne Wort birgt, wie uns Jean Gebser mitteilt, einen archaischen Ursprung, einen magischen Klang und ein mentales Konzept. Wir entkommen den Mythen nicht, aber wir können darauf hinarbeiten, dass unsere kulturellen Mythen in genügendem Maße planetar sind, dass sie evolutionär genug sind, um als Katalysator für unsere soziale Vorstellungskraft zu dienen. Franco Bifo Berardi nennt dies »futurability«, also »Zukunftsfähigkeit«. Wir brauchen planetare Mythologien, die uns lehren, wie wir uns mit der nicht-menschlichen Welt verbinden können – die ökologische Wende – und wie wir integrale, regenerative Zukunftsformen imaginieren können, die über den Horizont des Zusammenbruchs der Zivilisation hinausweisen. Das Kreieren von integralen Mythen kann mit der Rolle des Künstlers oder Erzählers verglichen werden. Sie haben auf besondere Weise das nötige Gespür, um zu erkennen, dass die Zeit nicht so linear verläuft, wie wir glauben, und dass die Stimmen der Zukunft in der Gegenwart leise zu uns sprechen. Was sagen sie uns? Dass wir nicht in einer einzigen Geschichte gefangen sind. Wir können neue erzählen. Lasst uns also diese planetaren Mythen erzählen.

Author:
evolve
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