Die Kraft der Integration

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

February 2, 2021

Featuring:
Yehudit ­Sasportas
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 29 / 2021:
|
February 2021
Wissenschaft
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Kollektives Trauma heilen

Das Pocket Project wurde 2016 von Thomas Hübl und Yehudit Sasportas zur Förderung der Integration kollektiver Traumata gegründet. In verschiedenen Ländern gibt es lebendige Initiativen und das Interesse an dem Thema wächst. Kosha Joubert hat im Sommer die Leitung übernommen und gibt uns Einblick in die aktuelle Entwicklung dieses Projekts zur kollektiven Traumaforschung.

evolve: Du arbeitest seit einigen Monaten für das Pocket Project und warst vorher zwölf Jahre für das Global Ecovillage Network tätig. Was motiviert dich zu deinem Engagement?

Kosha Joubert: Ich bin schon seit dreißig Jahren in dem Verständnis unterwegs, dass wir als Menschen die Systeme, in denen wir leben, gestalten. Dabei wirken lokale Initiativen wie homöopathische Medizin in einem System und verwandeln es von innen heraus. In diesem Sinne erlebe ich auch die Ökodorf-Bewegung als Heilungsimpuls.

Im Laufe der Jahre bemerkte ich allerdings, dass wir als Gruppen, Gemeinschaften und Organisationen in unserer Wandlungsarbeit auf unsere kollektiven Traumata stoßen. Viele Projekte beginnen mit einem hohen Innovationsimpuls und entwickeln sich zunächst wunderbar. In der Ökodorfbewegung haben wir sehr feine soziale Instrumente entwickelt, damit wir tiefer in eine authentische Kommunikation eintreten können – das hilft. Irgendwann kommen aber dann die gemeinsam geteilten Schattenbereiche hoch. Das ist ein natürlicher Heilungsimpuls des Systems.

In Deutschland ist das zum Beispiel der Schmerz des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Diese Erfahrungen wirken durch unsere Ahnenlinie, durch unsere Eltern und Großeltern in uns. Wie die Wissenschaft mehr und mehr herausfindet, wirken diese Erlebnisse auch auf genetischer Ebene. Es sind Erfahrungen, die damals abgespalten wurden, weil sie zu intensiv waren, um integriert zu werden. Gemeinsam schaffen wir eine Kultur, in der die kollektiven Traumata die Kreativität und Potenzialität in Schranken halten. Wir haben noch keine guten Werkzeuge entwickelt, um gemeinsam diese Bereiche anzuschauen und sie bewusst zu integrieren. Stattdessen bleiben unsere Gemeinschaften und Organisationen leicht auf einer bestimmten Entwicklungsebene stecken und beginnen sich im Kreis zu drehen.

WAS WIRD MÖGLICH, WENN WIR ZUSAMMENKOMMEN UND IMMER MEHR SCHICHTEN UNSERER VERGANGENHEIT MIT GEWAHRSEIN UND HEILUNG FREILEGEN?

e: Welche Initiativen sind bisher im Pocket Project entstanden und wie hat sich eure Arbeit konkret manifestiert?

KJ: Der Kern unserer Arbeit waren bisher die Pocket Groups, in denen sich in vielen Ländern Menschen zusammengetan haben, um das jeweilige kollektive Trauma ihrer Region zu erforschen und Heilungsimpulse zu finden. Dies war vor allem eine Arbeit der Bewusstseinsbildung, weil dieses Thema noch sehr neu ist und im wahrsten Sinne des Wortes im Verborgenen liegt. Es haben sich Gruppen in zahlreichen Ländern gebildet, von denen die in Argentinien, den USA und im deutschsprachigen Raum besonders aktiv sind.

Wir haben nun begonnen, sie als »International Labs« weiterzuführen und noch intensiver zu begleiten. Denn es stellte sich in den letzten Jahren heraus, dass die Qualität dieser Gruppen stark von der Begleitung der intersubjektiven Prozesse abhängt. Gleichzeitig habe wir durch unsere spirituelle Arbeit mit Thomas Hübl mehr über das Thema kollektives Trauma gelernt.

Momentan gibt es weltweit 23 Labs, die sich auf spezielle Länder und Themen konzentrieren, wie »Klimawandel und kollektives Trauma«, »Kolonialismus und kollektives Trauma«, »Frauen und kollektives Trauma«. Es gibt ein Lab, das sich ganz auf die deutsche Geschichte fokussiert und ein Lab zu den »Auswirkungen des Holocaust«, mit einer gemischten israelisch-deutsch-palästinensischen Gruppe.

In den Labs gehen wir auf eine achtmonatige »Reise«, wobei wir zunächst ein verbundenes Wir-Feld schaffen. Dann beginnen wir mit einer gemeinsamen historischen Erforschung des jeweiligen kollektiven Traumas: Was sind die Ereignisse, die dieses kollektive Trauma ausmachen? Welche Gruppierungen spielen eine Rolle? Im nächsten Schritt fragen wir nach dem persönlichen Bezug zu diesem kollektiven Trauma: Wie hat es meine Identität geformt? Wie formt es die Brille, durch die ich in die Welt schaue? Wie hat es die Strukturen und Systeme geformt, in denen ich aufgewachsen bin? Wo zeigt sich dieses Trauma in meiner Ahnenlinie? Wie spüre ich es in mir?

Nach diesem Prozess erforschen wir, worin die Heilung dieses kollektiven Traumas liegen könnte. Wie müssten sich die Institutionen in unserer Gesellschaft verändern, damit dieses Trauma wirklich integriert werden würde und die natürliche Kreativität aller Beteiligten wieder fließen könnte? Der Prozess wird wissenschaftlich begleitet, es werden Fragebögen eingesetzt und Blogs, Artikel und Doktorarbeiten geschrieben.

e: Gibt es Initiativen, in denen sich das Potenzial dieser Arbeit schon konkret zeigt?

KJ: Der Weg zur Integration eines kollektiven Traumas beginnt im intimen Kreis, bei der liebevollen Zuwendung zu und der Verantwortungsübernahme für die eigene Kindheitsatmosphäre und Ahnenlinie. Das ist oft einfacher gesagt als getan, die langfristige Auswirkung ist es allemal wert – ein stetiges Ankommen in unserem eigenen Sein, in der Lebendigkeit unserer Beziehungen und in unserem eigenen kreativen Potenzial. Ähnlich ist die Auswirkung für Gruppen oder ganze Gesellschaften, aber hier fängt die Forschung erst an.

Es sind erste Schritte, die wir gehen, aber wir spüren schon das darin mögliche Potenzial. Hier ein konkretes Beispiel dafür: Vor einiger Zeit war ich an einem Prozess in Israel beteiligt, in dem Deutsche und Israelis zusammenkamen. Es lag eine Schwere und ein Schmerz im Raum. Einige Menschen aus Israel sprachen über die Atmosphäre der Angst in Israel, das Gefühl einer ständigen Bedrohung, und wie schwer es für sie sei, mit so vielen Deutschen in einem Raum zu sein, sich darin nicht entspannen zu können. In diesem Prozess gab es einen Wendepunkt, als ein junger deutscher Mann aufstand und die Ebene wechselte. Er sprach aus der Verbundenheit mit seinem Großvater, der ein Nazi-Funktionär war. Er berührte die Kälte und Distanziertheit, das Schweigen in der Familie, das Gefühl der Schuld und die Unterdrückung einer positiven Männlichkeit. Das alles war jetzt ganz körperlich für ihn präsent. Durch dieses Offenlegen einer eigenen traumatisch begründeten Schmerz­erfahrung konnte sich eine Verhärtung in ihm lösen. Aber auch in den eingefrorenen Raum der Gruppe floss neue Energie durch Offenbarung ohne Verstecken. Daraufhin wurde eine neue Ebene von Dialog zwischen Israelis und Deutschen möglich. Weil eine Stimme aus dem Raum des kollektiven Traumas gemeinsam bezeugt wurde, war ­eine tiefere Begegnung und ein Impuls der Heilung möglich. Für mich hat diese Erfahrung noch lange nachgewirkt, und ich weiß das auch von anderen. Hier sieht man das kostbare Potenzial solcher Prozesse.

Bei alldem wissen wir, dass unsere individuellen und kollektiven Traumata nicht über Nacht zu integrieren sind. Es erfordert einen tiefen und umfassenden Prozess, zu dem wir mit dem Pocket Project beitragen wollen. Dabei bewegt uns die Vision, was möglich wird, wenn wir als kreative Menschen zusammenkommen und immer mehr Schichten unserer Vergangenheit mit Gewahrsein und Heilung freilegen. Dann wird unser Potenzial freigesetzt und steht zur Lösung unserer globalen Herausforderungen und der Gestaltung unserer Zukunft auf ganz neue Weise zur Verfügung.

Author:
Mike Kauschke
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