Die Kraft der Räume

Our Emotional Participation in the World
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Published On:

February 2, 2021

Featuring:
Sashikala Ananth
Sri Krishnamachaya
Vaastu Chikitsa
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Issue:
Ausgabe 29 / 2021:
|
February 2021
Wissenschaft
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Sashikala Ananths Weg zur Bewahrung indischer Architektur-Tradition

Sashikala Ananth wuchs in den 1950er-Jahren in Chennai, Indien, auf und hätte ein ganz anderes Leben führen können. In jener Zeit und an einem Ort, an dem Frauen größtenteils zu Hause unterrichtet und von männlichen Autoritäten kontrolliert wurden, verhielt sich Ananths Familie jedoch höchst ungewöhnlich. In ihrer Familie, die aus zahlreichen Cousinen, Tanten, Onkeln und Großeltern bestand, erhielten alle Mädchen eine Ausbildung außerhalb des Hauses und wurden ermutigt, einen selbst gewählten Karriereweg einzuschlagen. Ananths Großtante war ein besonders einflussreiches Beispiel für diese Aufgeschlossenheit. Sie wurde mit neun Jahren verheiratet und war mit elf Jahren verwitwet. Anstatt im Haus gefangen und an die Hausarbeit gebunden zu sein, wie es für eine Frau in ihrer Situation damals üblich war, wurde sie eine der ersten weiblichen Hochschulabsolventinnen Indiens und arbeitete mit verlassenen Frauen und Witwen. Die besondere Nähe, die sich bei vielen Gesprächen zwischen Ananth und ihrer Großtante ergab, war für Ananths späteres Leben von entscheidender Bedeutung.

Ananth war als Kind zutiefst kreativ, sie skizzierte, malte und spielte regelmäßig Theater. Obwohl sie kurz überlegte, eine Karriere als Schauspielerin einzuschlagen, beschloss Ananth vor 18 Jahren, Architektur zu studieren.

Nachdem sie von weitgehend westlich ausgebildeten Architekten unterrichtet worden war und mehrere Jahre als freiberufliche Architektin gearbeitet hatte, erfuhr sie ein erstes Erwachen. Durch Zufall hörte sie von einem traditionellen Architekten und Baumeister in der Nähe. Dies erweckte sofort ihr Interesse und sie besuchte den Mann. In den folgenden Stunden wuchs in Ananth ein Bedürfnis, das ihre Arbeit bis heute bewegt: Sie machte es sich zur Aufgabe, die weitgehend vergessenen indischen Architektur-Traditionen von Vaastu Shastra zu studieren und zu lernen, wie man deren Weisheit in der m­odernen Welt effektiv umsetzen und anwenden kann.

Ihre erste Herausforderung kam schnell – ihr neuer Lehrer hatte noch nie von einer Frau gehört, die in der Vaastu Shastra-Tradition lernte oder arbeitete, und es erforderte Monate der Beharrlichkeit, bis Ananth ihn überzeugen konnte, sie als Schülerin anzunehmen.

Die nächsten zehn Jahre waren eine intensive Zeit des Studierens, Forschens und Praktizierens, in der Ananth ihren Lehrer zu vielen Tempeln und Gebäuden begleitete, um Antworten auf Fragen zu finden, die sie schon lange beschäftigt hatten: Wie konnten die spektakulären Tempel in Ellora, Puri Jagannath, ­Thanjavur ­Brihadeeswara, Chidambaram und Madurai ohne Einsatz mechanischer Geräte mit solcher Präzision gebaut werden? Wer waren die Erbauer und woher kam ihr Wissen? Wie verstanden sie Raum, Form, Proportionen und Symbolik? Könnte dieses Wissen dazu beitragen, einen modernen Architekturansatz zu schaffen, der auf der spirituellen Suche nach Sinn beruht?

Als Ananth nach Antworten auf diese Fragen suchte, erkannte sie, wie in ihrer Heimat auch nach der Unabhängigkeit von den Briten bedeutungsvolle indische Traditionen, die über Jahrtausende hinweg gepflegt worden waren, missachtet und vernachlässigt wurden. Je mehr Zeit Ananth damit verbrachte, nicht nur die Proportionen, Farben und Gestaltungsformen zahlreicher Tempeln zu studieren, sondern auch das Schicksal ihrer Erbauer von ihrem modernen Standpunkt aus zu analysieren, desto tiefer bewegte es sie. Als ihr Gefühl der Verbindung zu ihren kulturellen Wurzeln gestärkt wurde, wuchs auch ihr Gefühl der Ehrfurcht. Im Laufe der Zeit erlebte Ananth etwas, was sie »spirituelles Erwachen« nennt: »Spiritualität ist die tiefe innere Verbindung mit einer Energie im eigenen Selbst, die Teil des universellen Bewusstseins ist«, erläutert sie.

Dieses Erwachen wurde weiter unterstützt durch ein Yoga-Studium, das sie im Alter von 22 Jahren begonnen hatte. In der Praxis mit mehreren Lehrern der Schule von Sri Krishnamacharya hatte Ananth bereits eine Energieveränderung erfahren. Sie erkannte, wie man Einsicht findet, indem man darauf vertraut, dass dieses innere Wissen bereits im natürlichen System vorhanden ist und jedem offenbart wird, der es sucht. »Deshalb finden Menschen, die mit der Erde arbeiten und Pflanzen anbauen, Zugang zu einer bestimmten Weisheit, die Menschen in einem technischen Beruf niemals berühren«, reflektiert Ananth.

Auf dieser stabilen Grundlage im Yoga eröffnete Ananths vom ­Vaastu inspiriertes Erwachen erneut den Raum für neue Möglichkeiten.

Ananth integrierte Architektur und Yoga und sah darin einen Weg, um das Leiden an der modernen Fragmentierung zu heilen. »Weisheitstraditionen berücksichtigen einen ganzheitlicheren Rahmen, um Menschen dabei zu helfen, ihre unterschiedlichen Anteile so zu integrieren, dass sie Wohlbefinden und geistigen Frieden erleben können«, erklärt sie. Vaastu Chikitsa war Ananths erster Schritt auf diesem Weg. Dieses therapeutische System nutzt Kenntnisse aus den Bereichen Yoga, Verhaltenstherapie und Architektur, um traumatisierten, kranken oder leidenden Menschen zu helfen, die Energie in ihrem Zuhause zu verändern. Während nach Ananths Einschätzung bei den meisten Therapien eher die Ängste der Menschen im Mittelpunkt stehen, möchte sie den Menschen näherbringen, wie sie ihr Leiden transformieren können, indem sie lernen, wie sie ihren Lebensraum verändern können. »Ich arbeite mit ihnen und sie finden eine Lösung.«

Als Ananth begann, die Vaatsu-Traditionen mit Yoga zu verbinden, war dies noch ein einsamer Weg. Sie kämpfte bei jedem Buch um dessen Veröffentlichung und setzte sich vehement dafür ein, dass ihre Arbeit respektiert wurde. Während dieser Herausforderungen dienten ihr die Erinnerungen an ihre Großtante als nachhaltige Inspiration. Von ihr hatte Ananth nämlich gelernt, wie eine Frau mit Mut die Welt verändern kann, indem sie ihren Träumen folgt, ohne unter dem Widerstand zu zerbrechen – auch (oder besonders) unter schwierigen Umständen. Heute jedoch teilt Ananth ihr Wissen mit einem Lächeln, weil viele junge Leute empfänglich dafür sind und ihre Arbeit keine so schwierige Aufgabe mehr ist wie früher.

 DAS WESEN UNSERER ENTSCHEIDUNGSFREIHEIT IST POLITISCH. 

Es fühlen sich tatsächlich so viele Menschen zu Ananths Arbeit hingezogen, dass sie und ihr Mann 2015 den Ashram Ritambhara in den Niligiri-Hügeln in Tamil Nadu eröffneten. In Ritambhara gibt es keine Geräusche außer Vogelgezwitscher. »Wir folgen der Tradition von Vanaprastha.« Vana bedeutet Wald und Vanaprastha beschreibt die indische Tradition, zur Natur zurückzukehren, um sie zu unserem Lehrer werden zu lassen. »Unser Wissen wird nicht nur tiefer, sondern auch umfangreicher, wenn wir zur Natur zurückkehren und wieder von der Natur lernen«, erklärt Ananth.

Sie konzentriert sich auf die Heilung der modernen Fragmentierung, um auch den unvermeidlichen Folgen der heutigen Überflutung mit Informationen entgegenzuwirken. »In einer Welt voller Reize«, so erklärt sie, »neigen die Menschen dazu, Informationen zufällig aufzunehmen und ohne Struktur und Ordnung im Kopf anzuhäufen.« Mit Yoga, das nicht nur aus Körperarbeit mit Asanas besteht, sondern auch aus Atem­übungen (Pranayama) und Meditation – aus Yama und Niyama als Teil des achtfachen Pfades –, lehrt sie die Menschen, ihr Verhalten im Alltag und ihre Beziehungen zur Welt tiefer zu beleuchten. Dadurch kann der Einzelne erkennen, warum, wo und wie das Wissen in der alltäglichen Praxis angewendet werden kann. Es ist äußerst schwierig, die Art und Weise, wie wir Menschen Informationen aufnehmen und emotional darauf reagieren, neu zu erlernen. Aber in diesem Prozess des Gewahrseins wird eine größere Intelligenz geweckt, welche tiefere Einsichten und damit ein größeres Wohlbefinden ermöglicht. »Nicht Geld und Besitztümer bringen uns Wohlbefinden«, sagt Ananth mit einem Nicken. »Es entsteht, wenn wir die Elemente unseres Bewusstseins ausgleichen und so ein belebendes Gefühl entstehen lassen – statt ein Gefühl der Unterdrückung.«

»Unterdrückung« ist ein Wort, dessen Bedeutung für Ananth, die zwei Jahre nach der Unabhängigkeit Indiens von den Briten geboren wurde, belastet ist. Sie betrachtet ihre Arbeit, und eigentlich jede Arbeit, sowohl als politisch als auch als heilend. Das Wesen unserer Entscheidungsfreiheit ist politisch, glaubt Ananth. Infolgedessen gibt es keine unpolitische Person. Sie erachtet es als politisch, »die Weisheit der Ahnen« wiederzugewinnen oder zu traditionellen Wurzeln zurückzukehren.

Für Ananth sind die politische, die spirituelle und die materielle Dimension wie Fäden, die zusammengeführt werden müssen, um die Fragmentierung zu heilen und die vom Kolonialismus unterdrückten Traditionen am Leben zu erhalten. Obwohl dies schwierig ist, ist es eine Arbeit, die Ananth mit »fröhlicher Aufmerksamkeit« annimmt – sie strahlt Genugtuung aus, wenn sie mit Befriedigung sagt, getan zu haben, was sie tun musste. »Es ist eine große Aufgabe. Zum Glück arbeiten viele Menschen zusammen daran. Sie wird nicht mit unserem Leben enden, andere müssen die Arbeit ­weiterführen.«

Author:
Miranda Perrone
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