Die Künstlerin ist (nicht) anwesend

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Essay
Published On:

April 21, 2017

Featuring:
Marina Abramović
Categories of Inquiry:
Tags
Issue:
Ausgabe 14 / 2017:
|
April 2017
Leben lernen
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Marina Abramović in Stockholm

Sieben Tage lang öffnete Marina­ Abramović einen Raum für ihre partizipative Performance »The Cleaner« in der Eric Ericsson Hall, einem Kirchengebäude, das zu einem Veranstaltungsort umgewandelt wurde, nahe dem ­Moderna Museet (Museum für Moderne Kunst) in Stockholm. An dem Tag, als ich dort war, gab es eine Wartezeit von vier Stunden. Deshalb entschied ich mich, zunächst nebenan im Moderna Museet die Retrospektive von 120 Werken von Marina Abramović aus ihrer 50jährigen Künstlerkarriere anzuschauen.

Marina Abramović wird als »Großmutter der Performance-Kunst« bezeichnet. Dank ihrer MoMa-Performance »The Artist is Present« im Jahre 2010 wurde sie zu einer weltbekannten Künstlerin, die nach 43 Jahren der Erforschung und Entwicklung ihrer Performance-Kunst einen weiteren großen Erfolg für die Anerkennung von Performance als eine respektierte Kunstform erzielte.

In der Retrospektive folgen wir ihrem Werdegang, beginnend mit den ersten Jahren in der Kunsthochschule, wo sie schon ihr Interesse an dem Thema zeigt, das sie später in ihrem Werk in verschiedenster Weise erkunden wird: Energie. Energie in Objekten, zwischen Objekten, in der Psyche, im Körper, zwischen Körpern, in Beziehungen, zwischen Menschen im Hier und Jetzt.

¬ Die Stimmen durchdringen uns alle und wir verschmelzen. ¬

Die MoMa-Erfahrung gab Marina Ver­trauen in einfache Performances. 2013 brachte sie mit »512 Hours« in der Serpentine Gallery in London die Einfachheit auf eine neue Stufe. Sie veranstaltete eine partizipative Performance, in der das Publikum die Performance war, während sie sanft führte. Die Besucher konnten frei wählen, wie lange sie in dem Raum bleiben wollten, ob als Teilnehmer oder Zuschauer. Die sinnliche Wahrnehmung wurde durch klangabsorbierende Kopfhörer und Augenbinden eingeschränkt. So schuf Marina die Bedingungen, damit die Teilnehmer sich – zusammen – selbst begegnen konnten. Durch den Erfolg im MoMa und in der Serpentine Gallery verstand ­Marina, dass wir heute dringend solch besondere Momente der Einfachheit und Zentrierung brauchen – Momente, die sie auch in ihrer Performance in Stockholm schaffen wollte.

Bevor wir die Eric Ericson Hall betreten, legen wir unsere Jacken, Schuhe, Taschen und Handys ab. Wir haben uns bereit erklärt, still zu sein und die Zeit hinter uns zu lassen. Bevor ich mich auf den Raum oder die Situation einstellen kann, werde ich von einem der vielen Begleiter an die Hand genommen und geführt – ich weiß nicht, wohin. Meine private, getrennte Blase wird sofort zerstört. Als ich mit dem Begleiter gehe, bemerke ich, dass der Raum mit einer dichten und würdevollen Stille und Aufmerksamkeit gefüllt ist. Keine Ablenkungen. Die Atmosphäre ist ernst und gleichzeitig leicht und entspannt. Was geschieht, hat für mich das Gefühl von etwas Heiligem, so anders als die Hektik der Stadt, in der ich war, bevor ich zur Tür hereinkam.

Der Begleiter bringt mich zu einer der markierten Stellen, wo die Besucher stehen, sitzen oder sich hinlegen können. Als ich meine Augen öffne und mich umschaue, bemerke ich, dass dem Raum nichts hinzugefügt wurde. Nichts. Der schöne Raum ist angefüllt mit Stimmen von Chören. Die Sänger sind schwarz gekleidet, sie bewegen sich im Raum. Die Begleiter, alle in schwarz, gehen langsam umher, würdevoll, wie Tänzer, und begleiten die Besucher. Ich bemerke, dass es kein Zentrum gibt, auf das sich meine Aufmerksamkeit fokussieren ­könnte. Das Hauptereignis ist das Singen. Die Töne füllen den großen Kirchenraum von jeder Ecke her. Die Stimmen durchdringen uns alle im Gebäude und wir verschmelzen.

Die Menschen standen stundenlang Schlange. Sie blieben viele Stunden drinnen. Manche kamen mehrere Male. ­Warum? Es gab nichts zu sehen. Es gab nichts zu tun. Es gab einen liebevollen Raum, in dem man sein konnte.

Es ist erfrischend, diese Performance als Kunst zu bezeichnen und nicht als etwas Spirituelles. Die Bezeichnung Kunst umgeht unsere Erwartungen und Vorannahmen.

Beim Rausgehen wird mir plötzlich klar, dass Marina Abramović während der zwei Stunden, die ich im Saal war, gar nicht dort gewesen ist. Die Künstlerin ist nicht anwesend! Und doch spürte ich ihre Präsenz während der Performance – besonders in der Dankbarkeit dafür, dass sie diesen wunderschönen Moment geschaffen hat, den wir miteinander teilen konnten.

Author:
Annica Carlmark
Share this article: