Die vielen Gesichter der Religion

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April 17, 2019

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Ausgabe 22 / 2019:
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April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Eine Besprechung des Buches »Leben mit den Göttern« von Neil MacGregor

Von 2015 – 2018 war Neil MacGregor, der ehemalige Chef des British Museum in London, Gründungsintendant des Berliner Humboldtforums und damit verantwortlich für das Konzept dieses zukünftigen Ausstellungsortes für die spirituellen Kulturen der Welt. Im Anschluss an seine Arbeit in Berlin schrieb er das Werk »Leben mit den Göttern«, das wohl eine vorläufige Summe seiner Beschäftigung mit der Vielfalt religiöser Bewegungen darstellt. Warum gibt es gerade in den letzten Jahren eine so deutliche Rückkehr des Religiösen? Das fragt der Autor zu Beginn, wo wir doch glaubten, dass die Moderne dieses Phänomen in den Hintergrund gedrängt habe. Die Antwort fällt ihm einfach: weil es eine Rückkehr zum »vorherrschenden Muster menschlicher Gesellschaften ist«. Für MacGregor ist der Mensch nicht nur »homo sapiens«, sondern auch »homo religiosus«, was gleich im ersten Kapitel des Buches veranschaulicht wird. Denn dort erscheint der in einer Höhle bei Ulm ausgegrabene »Löwenmensch«, eine eindrucksvolle Skulptur der europäischen Altsteinzeit, deren Alter auf ca. 40 000 Jahre datiert wird. Warum der Mensch seit seinen ersten Anfängen Mythen, Sakralorte und Rituale ersonnen hat, beantwortet MacGregor vor allem mit zwei Bedürfnissen: dem Wunsch, mithilfe der Vorstellungskraft über das Hier und Jetzt hinauszugehen und dem gruppenstabilisierenden Effekt solcher Phänomene. Ein eher pragmatischer Ansatz, der sich nicht tiefer auf Begriffe wie »Transzendenz« oder das »Heilige« einlässt, aber dennoch wichtige Motive für religiöses Verhalten erklären kann. Bereits die Menschen der Steinzeit waren keine primitiven Wilden, sondern kunstfertige Menschen, die Andachtsobjekte von großer Ausdruckskraft schufen und in Ritualen den für das Überleben so wichtigen Zusammenhalt der Gruppe festigten.

Im weiteren Verlauf des Buches veranschaulicht MacGregor die spirituelle Qualität von Elementen wie Feuer, Wasser, Licht und Erde. Er diskutiert beispielsweise die Bedeutung der »heiligen Flamme« bei den römischen Vestalinnen und in der persischen Zarathustrareligion, die Heiligkeit indischer Flüsse sowie den Kult der »Wiederkehr des Lichts«, wie er seit Urzeiten etwa bei Sonnenwendfeiern zelebriert wird. MacGregor würdigt nicht nur den Geist der Weltreligionen, sondern auch den Animismus indigener Völker, für die die ganze Natur beseelt ist und die seit Jahrtausenden im Umgang mit der Umwelt mehr »Nachhaltigkeit« praktiziert haben als unsere westlichen Industriegesellschaften.

Zentral für alle Religionen sind auch Themen wie Tod und Geburt. Faszinierende Abbildungen von Mumienbündeln aus Peru, die bei Festen umhergetragen wurden, belegen zum Beispiel, wie eng ehemalige Kulturen Lateinamerikas mit den Seelen der Ahnen kommunizierten – und welchen Schock dieses Verhalten bei den spanischen Eroberern auslöste. Aber in Mexiko und Japan, so lernen wir, gibt es diese Präsenz der Toten noch heute, etwa auf Friedhöfen, wo man an bestimmten Feiertagen auf die Verstorbenen trifft, um mit ihnen zu essen, zu trinken und fröhlich zu sein. Immer wieder werden wir in MacGregors Buch mit ganz anderen Sichtweisen auf existenzielle Fragen konfrontiert, etwa auch im Kapitel »Geburt«, das an einem ergreifenden Beispiel zeigt, wie in Japan mit den Seelen abgetriebener Kinder umgegangen wird. Über sie wacht nicht nur eine bestimmte Schutzgottheit, der »Bodhisattva Jizo«, sondern sie haben auch einen eigenen, mit Spielzeugen geschmückten Tempelbezirk, wo liebevoll ihrer gedacht wird. Diese Gedenkform, so MacGregor, spiegele eine Sichtweise wider, die in der japanischen Gesellschaft heute weit verbreitet ist: »dass bei einer Abtreibung zwar potenzielles menschliches Leben verweigert wird, dass aber die Entscheidung für eine Abtreibung keine rechtliche Frage und keine Frage der Öffentlichkeit, sondern im Kern eine private und spirituelle Angelegenheit ist.«

Seine Hauptthese, dass religiöse Aktivitäten vor allem den Zusammenhalt einer Gruppe stabilisieren, kann MacGregor auch an verschiedenen Praktiken des Betens und Singens vorführen: Hier sind kollektive Zustände von Rausch, Ergriffenheit und Entrückung unmittelbar greifbar und man spürt, dass Religion tatsächlich im Kern mit Gemeinschaftsbildung zusammenhängt. Auch der Bau von Gotteshäusern diente ja diesem Zweck, denn selbst wenn ihr Allerheiligstes früher oft nur von wenigen Priestern betreten werden durfte, fanden doch in seinem Umkreis immer auch große Feste und Kultfeiern statt. MacGregor zeigt eindrucksvoll, wie früh bereits solche Sakralstätten gebaut wurden, etwa am Beispiel der Megalithanlage von Göbekli Tepe im heutigen Anatolien, die mit ihrem Alter von 11000 Jahren sogar die ägyptischen Pyramiden und Stonehenge weit übertrifft. Der Autor sieht in solchen Kultstätten Probeläufe für spätere urbane Zivilisationsformen, wo bereits gemeinsames Wohnen und Arbeiten eingeübt werden konnte: »Zuerst kam der Tempel, dann die Stadt.«

An solchen Plätzen brachte man auch den Göttern Opfergaben dar, um sie für das Leben der Gemeinschaft günstig zu stimmen. Wunderbare Abbildungen von Goldfiguren aus dem frühen Kolumbien zeigen beispielsweise, wie sehr dieses Metall von den damaligen Kulturen als spirituelle und nicht als kommerziell nutzbare Substanz angesehen wurde. An solchen Beispielen blitzt in »Leben mit den Göttern« auch die ganze Brutalität der europäischen Kolonialgeschichte wieder auf, etwa wenn beschrieben wird, wie gierig und rücksichtslos die spanischen Eroberer mit den Goldschätzen der damaligen Kulturen Lateinamerikas umgingen und welche Wunden sie hinterließen. Liest man, wie heute die in den Trevi-Brunnen von Rom geworfenen Münzen, die Tausende von Euro ausmachen, täglich zu wohltätigen Zwecken eingesammelt werden, ergeben sich Fortschreibungen historischer Kultpraktiken, die gerade in ihrer Unterschwelligkeit besonders anrührend sind.

Doch Neil MacGregors Buch konfrontiert uns auch mit verstörenden und ambivalenten Aspekten des »homo religiosus«. Denn geopfert wurden nicht nur kostbare Skulpturen und Gegenstände, sondern auch Menschen. Ein scharfes und mit einer dämonisch grinsenden Gottheit versehenes Jademesser der Aztekenzeit lässt einen erschauern, wenn man die dazugehörigen Details der blutigen Menschenopfer liest, bei denen Kriegsgefangenen das noch pochende Herz aus dem Leib geschnitten wurde. Doch MacGregor vermag durch weitere Hintergrundinformationen unser Erschrecken in Erstaunen umzuwandeln: Das blutrünstige Ritual diente eigentlich dazu, das zum Krieg gehörende Morden und Leiden zu verringern, denn die Azteken töteten nicht Tausende von Gegnern (wie es in den damaligen europäischen Heeren geschah), sondern opferten einige Gefangene ihrem Sonnengott, der nach ihrem Glauben selbst einst sein Blut für die Erschaffung der Menschen hergegeben hatte. Damit beglich der Aztekenpriester »einen Teil der riesigen Schuld, in der die ganze Menschheit stand. Dieser Tribut sollte auch dazu beitragen, dass die Sonne auch weiterhin ihre festgelegten Kreise zog.

… Den Opfertod zu sterben, galt also … als guter und sinnvoller Tod.« Durch solche Informationen macht MacGregor hinter dem Ritual mythologische Hintergründe sichtbar, die dessen Schrecken zwar nicht nehmen, aber alles in einen höheren Sinnzusammenhang einbetten. Damit verhindert der Autor, dass die Urkulturen Lateinamerikas als besonders barbarisch erscheinen, wie es die damaligen spanischen Eroberer verbreiteten, um ihre eigenen unermesslichen Gewalttaten zu legitimieren.

»Leben mit den Göttern« arbeitet auch die Gefahren heraus, die in einer Politisierung des Religiösen liegen, wie wir sie heute etwa beim Phänomen des islamistischen Terrors erleben. Doch die Tendenz zu Fanatismus und Gewalt ist den Religionen schon seit Jahrhunderten eingeschrieben, da ist der Islam keine Ausnahme. Auch in Japan wurden im 17. Jahrhundert Andersgläubige, in diesem Falle Christen, verfolgt, hingerichtet und ihre Religion schließlich verboten. Ebenso fanatisch wüten heute in Indien Muslime, Hindus und Sikhs gegeneinander und zerstören die Heiligtümer der jeweilig anderen Seite. MacGregor weist darauf hin, dass u. a. der Verlust von Ambiguitätstoleranz zu solchen Exzessen führen kann, also das wörtliche Auslegen heiliger Schriften beziehungsweise die Vermengung von Mythen mit historischen Fakten. Es erscheint ihm humaner, heilige Texte wie Erzählungen zu lesen, die in ihrer literarischen Mehrdeutigkeit zu sehr verschiedenen Deutungen einladen.

MacGregors Buch konfrontiert uns mit ganz anderen Sichtweisen auf existenzielle Fragen.

Der Schluss des Buches, der sich mit atheistischen Strömungen der neueren Geschichte befasst, macht klar, dass das Bedürfnis nach dem Religiösen im Menschen so stark angelegt ist, dass auch heftigste Abwehrbewegungen es nicht auslöschen können. MacGregor erzählt zum Beispiel vom »Fest der Vernunft«, mit dem 1793 im Anschluss an die Französische Revolution vergeblich versucht wurde, 1500 Jahre Christentum abzuschaffen. Ähnliches geschah im 20. Jahrhundert in Russland, wo Lenin anfangs noch den »gnadenlosen Massenterror gegen Priester« gefordert hatte und Kirchen in Lagerhallen und Kinos verwandeln ließ. Doch nach der Perestroika blühte in Russland das religiöse Leben wieder auf und – ob man es mag oder nicht – selbst hohe Staatsführer sympathisieren heute erneut mit der Kirche. Der Verlust der Religion, so MacGregors Zusammenfassung am Schluss, führe unausweichlich zum Verlust des Gemeinschaftsgefühls und erzeuge ein Heer von »atomistischen Konsumenten«.

So sehr ihm da zuzustimmen ist, so vermisst man im Buch doch die Diskussion neuerer spiritueller Formen, die mehr die individuelle Gottsuche in den Mittelpunkt stellen und nicht nur auf die Stabilisierung von Kollektivgefühlen abzielen. Vor allem für die westlichen Zivilisationen scheint dieses Modell immer attraktiver zu werden und vielleicht ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch traditionellere Kulturen es entdecken werden. Ferner fehlt in dem Buch die Erwägung, ob es nicht auch tatsächlich ein »Übersinnliches«, »Transzendentes« und »Numinoses« gibt, das den Menschen seit der Urzeit als »mysterium tremendum et fascinans« (Rudolf Otto) ergriff und zu dessen Feier man eben auch kollektive Rituale ersonnen hat.

Aber mit diesen Fragen beginnt eine neue spannende Diskussion, die das Buch – bei all seiner Qualität – nicht leisten kann und will.

Author:
Ruediger Suenner
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