Die Würde wiederfinden

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 11, 2022

Featuring:
Esther Stanford-Xosei
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Issue:
Ausgabe 34 / 2022
|
April 2022
Bewusste Netzwerke
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Eine ganzheitliche Antwort auf koloniale Unterdrückung

Esther Stanford-Xosei engagiert sich in der globalen Vernetzung von Gruppierungen und Initiativen, die sich für Reparation für die koloniale Ausbeutung einsetzen. Dabei geht es ihr nicht nur um materielle Wiedergutmachung, sondern vor allem um eine geistige Wiederherstellung von unterdrückten Wissensformen und kulturellen Traditionen.

evolve: Du bezeichnest dich als Reparationsaktivistin. Was meinst du damit? Wie ist deine Arbeit zu verstehen?

Esther Stanford-Xosei: Von Beruf bin ich juristische Beraterin und nutze meinen beruflichen Hintergrund beim Einsatz für globale Reparationen. Dazu gehören Bildung, Lobbyarbeit und Kampagnen. Ich sensibilisiere Menschen in Regierung und Politik, in der Rechtsprechung, in der Bildung, im Gesundheitswesen oder in der Stadtentwicklung für dieses Thema. In meiner pädagogischen Arbeit geht es darum, das Bewusstsein der Menschen zu verändern und auch ihre Lebenspraxis, die mit diesem Bewusstseinswandel verbunden ist. Es ist ein aktives Lernen, bei dem es nicht nur darum geht, die Theorie des sozialen Wandels zu kennen, sondern auch darum, wie wir sie leben.

African Emancipation Day Reparations March in London.

e: Was beinhaltet dieser Bewusstseinswandel? Welche Werte oder Perspektiven auf die Welt möchtest du verstärken?

ESX: Dazu gehört, dass man für neue Sicht- und Seinsweisen empfänglich ist. Manchmal handelt es sich bei diesen neuen Sicht- und Seinsweisen tatsächlich um alte Kulturen, die unterjocht und deren Wissenssysteme unterdrückt wurden. Bei einem Bewusstseinswandel geht es um die Wiederherstellung des Gleichgewichts und der Balance in uns selbst, aber auch in der Menschheit und auf dem Planeten Erde, unserer irdischen Heimat. Das bedeutet, dass unser Verständnis von Reparation interkulturell sein muss. Es muss indigene Wissensformen und Seinsweisen einbeziehen. Denn es gibt keine universelle Theorie der Reparation, die für alle Kulturen, alle Nationen und alle Völker gilt.

Aus afrikanischer Sicht gibt es zwei Hauptbezugspunkte für die Reparation. Der erste ist die konzeptuelle Ebene. Denn auch wenn es für Afrika bei der Wiedergutmachung um Geld, Land und materielle Güter geht, ist der wichtigste Aspekt die Wiederherstellung des eigenen Selbstverständnisses. Das bedeutet, dass wir unser Bewusstsein und unsere Art und Weise, in der Welt selbstbestimmt zu handeln, zurückfordern und wiederherstellen. Dies ist eine Wiederherstellung auf geistiger Ebene, denn Unterdrückung entmenschlicht nicht nur, sondern lässt uns auch glauben, dass die Weltordnung, so wie sie ist, schon immer so war und unveränderlich ist. Unterdrückung kann also oft über Jahrhunderte hinweg systematisch erfolgen, und zwar nicht nur, weil man direkt unterdrückt wird, sondern weil ein System der Unterdrückung aufrechterhalten wird, indem man es akzeptiert und sich nicht dagegen wehrt. Zu diesem größeren Begriff der Reparation gehört auch die Wiederherstellung unserer Beziehung zu Mutter Erde.

¬ BEIM WIDERSTAND GEHT ES AUCH DARUM, DAS NEUE ZU VERKÖRPERN. ¬

e: Inwiefern ist diese Wiederherstellung unserer Beziehung zur Erde mit der Reparation für die Unterdrückung von Menschen und Lebensweisen verbunden?

ESX: Die Wiederherstellung unserer Beziehung zur Erde beinhaltet die Verknüpfung von geistiger Reparation, globaler Gerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit. Es bedeutet, dass wir uns vom Herrschaftsparadigma befreien, innerhalb dessen wir die Natur kontrollieren und ausplündern, um egoistische Ziele zu befriedigen, die auf Materialismus, Kapitalismus, Ausbeutung und Trennung basieren.

Aus diesem Grund sind Pluralität und geistige Gerechtigkeit so wichtig. In einem der afrikanischen Wissenssysteme der Völker des alten Ägyptens gibt es einen Begriff der Wiedergutmachung, der Serudj Ta genannt wird. Es ist ein ethischer Imperativ, der besagt, dass wir das, was in Trümmern liegt, wieder aufrichten, das, was beschädigt ist, reparieren, das, was getrennt ist, wieder verbinden, das, was fehlt, ergänzen, das, was geschwächt ist, stärken, das, was falsch ist, in Ordnung bringen und das, was unsicher und unterentwickelt ist, zum Blühen zu bringen.

Dies ist ein afrikanisches Konzept der Reparation, das sehr ganzheitlich ist und den Menschen im Ökosystem des Lebens nicht privilegiert. Es erkennt an, dass die Natur, die Pflanzen, die Bäume, das Ökosystem Teil unserer eigenen Menschlichkeit, unserer eigenen Identität sind.

e: Wie setzt du diese holistische Vision von Reparation konkret um?

Am Trafalgar Square in London bei einer
Veranstaltung zum Gedenken an den Tag
des indigenen Widerstands.

ESX: Da es sich bei der Wiedergutmachung um eine umfassende Vision handelt, kann diese Arbeit nur durch die Vernetzung von Bewegungen erfolgreich sein. Eine Bewegung, in der ich aktiv bin, ist das International Social Movement for African Reparations. Aber als afrikanische Reparationsaktivisten wissen wir, dass wir nicht die einzigen sind, die um Wiedergutmachung kämpfen. Wir wissen, dass es andere Gruppen gibt, die Unterdrückung erlebt haben, mit denen wir in dem People’s Reparations International Movement vernetzt sind.

Diese Bewegungen haben Strukturen, Organisationen, Netzwerke und Kampagnen geschaffen, um sich für Wiedergutmachung einzusetzen. Denn ein gerechter, sozialer, kultureller, politischer und wirtschaftlicher Wandel basiert auf der Mobilisierung vieler Menschen und der Unterstützung bei der Veränderung ihres Bewusstseins.

Eine wichtige Organisation ist für mich das Extinction Rebellion Internationalist Solidarity Network (XRISN). Es wurde von afrikanischen Reparationsaktivisten und einigen der Mitbegründer von Extinction Rebellion in Großbritannien ins Leben gerufen. Mit XRISN unterstützen wir unsere drei Partnernetzwerke in Ghana, Indien und Kolumbien. Diese Netzwerke sind Gemeinschaften des Widerstands, die sich nicht auf Regierungen oder NGOs verlassen. Sie stehen an vorderster Front, sie verteidigen ihr Recht, auf ihrem Land leben zu können, und bekämpfen die Umweltverschmutzung und die Auswüchse der Ausbeutung. Viele von ihnen werden getötet, terrorisiert, gefoltert und inhaftiert, weil sie sich für Gerechtigkeit engagieren. Unsere Arbeit verbindet also diese Gemeinschaften im Widerstand auf der ganzen Welt, denn dies ist unsere gemeinsame Arbeit und Verantwortung.

e: Warum ist dieses globale Netzwerk so wichtig für dich?

ESX: Wir könnten gemeinsam einen Konzern herausfordern, der seine Tentakel in verschiedenen Teilen der Erde hat. Wenn wir unseren Widerstand nicht vernetzen, können wir nicht effektiv sein. Aber wenn sich Menschen in Ghana mit Menschen in Indien vernetzen, dann entsteht internationale Solidarität. Sie erkennen, dass es andere Menschen auf dem Planeten gibt, die für eine ähnliche Sache kämpfen und mit ihnen solidarisch sind. Auf diese Weise können wir das Gefühl eines globalen Dorfes und der Verbundenheit untereinander schaffen oder wiederherstellen. Die Ungerechtigkeit hat uns miteinander verbunden, aber auch der Widerstand verbindet uns miteinander.

Heute müssen Gemeinschaften auf der ganzen Welt Eigenständigkeit entwickeln und lernen, andere Wirtschaftsmodelle zu erarbeiten, die auf Gegenseitigkeit beruhen. Um diese Alternativen zu unterstützen und den Widerstand zu stärken, verbinden wir diese Bewegungen. Widerstand bedeutet nicht nur, einen Hammer zu nehmen und eine Glaswand einzuschlagen. Beim Widerstand geht es auch darum, das Neue zu verkörpern, die neue Welt zu gestalten. Es geht um die Geschichten, die Lieder, die Freude, die wir in unseren Kampf einbringen, damit wir den Menschen die Vision, die unseren Aktivismus leitet, vor Augen führen können. Es bedeutet, nicht nur Widerstand gegen das bestehende System zu leisten, sondern die Veränderung zu sein.

Author:
Mike Kauschke
Author:
Julia Wenzel
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