Die Zukunft der offenen Gesellschaft

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 24, 2018

Featuring:
Jelle van der Meulen
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Issue 17 / 2017:
|
January 2018
Die Postmoderne und darüber hinaus
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Zur Lage in Deutschland

Vor dem Hintergrund einer erstarkten politischen Rechten und einer schwierigen Regierungsbildung wird die Frage, wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln wird, besonders brisant. Wie können wir eine offene Gesellschaft bewahren und gleichzeitig zukunftsfähige Ideen finden?

Im Dezember 2014 traf ich in Köln den Autor Jelle van der Meulen zu einem Gespräch über sein neues Buchprojekt. Jelle stammt aus den Niederlanden und erzählte mir damals mit Sorge von den gerade aktuellen Erfolgen des Rechtspopulisten Geert Wilders in seiner Heimat. Ausgerechnet bei unseren liberalen Nachbarn vollzog sich eine autoritäre Gegenbewegung zu der jahrelang gepflegten Offenheit und Toleranz. Ich werde nicht vergessen, was Jelle dann weiter sagte: »Jens, das kommt auf euch auch noch zu.« Wie bitte?! Ich widersprach damals fast empört und mit Überzeugung: Sicher, auch in den skandinavischen Ländern, in Frankreich und in Ost-Mitteleuropa war bereits so etwas wie die Veränderung der Großwetterlage zu bemerken in Richtung von Neo-Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Aber wir Deutschen, so sagte ich Jelle, hätten aus unserer schrecklichen Vergangenheit gelernt, die politischen und gesellschaftlichen Strukturen seien immun und Rechtsextremismus werde bei uns immer ein Randphänomen bleiben. Damals war die AfD noch eine Gruppierung von Wirtschaftsexperten, die gegen die Euro-­Rettungspolitik agierten.

Heute ist aus dieser Partei ein Sammelbecken für den Versuch geworden, die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland um Jahrzehnte zurückzudrehen. Vom »links-grün versifften Mainstream« redet der AfD-Sprecher Jörg Meuthen und meint damit alles, was an Gleichstellungsbemühungen, Anti-Diskriminierungsansätzen, Gender-­Sensibilität und vielem mehr im Nachklang der 68er Bewegung bei uns selbstverständlich geworden ist. Vom »Schuldkult« der Deutschen spricht abfällig die AfD-Fraktionschefin Alice Weidel und wendet sich damit gegen die Tatsache, dass wir in der Nachkriegsgeschichte schmerzhaft gelernt haben, uns den in der NS-Zeit in deutschem Namen begangenen Verbrechen zu stellen. Und Alexander Gauland, ebenfalls Fraktionssprecher, hat mit seinem Wunsch, eine türkischstämmige Regierungspolitikerin »in Anatolien zu entsorgen« ein Beispiel für die notorische Islamfeindlichkeit seiner Partei gegeben. Mit diesen drei Beispielen ist die wesentliche Programmatik der AfD bereits umrissen.

Das Vordringen der AfD und der neuen politischen Rechten in unsere Gesellschaft hat inzwischen den Charakter eines Kulturkampfes angenommen. Es sind Schleusen geöffnet worden für die überwunden geglaubte Ideologie des Völkischen und mit den eingedrungenen trüben Wassern werden wir noch lange zu tun haben. Dabei sind es keineswegs nur die schlichteren Gemüter, die dem neuen Trend folgen. Hinter der oft dumpfbackig auftretenden AfD stehen kluge Rechtsintellektuelle, welche die Stunde eines Systemwechsel kommen sehen. Leuten wie dem völkischen Verleger Götz Kubitschek oder den Jung-Stars der sogenannten »Identitären Bewegung« geht es ja nicht darum, als Teil einer pluralistischen Gesellschaft akzeptiert zu werden, sondern darum, den Willen zur Beseitigung des Pluralismus salonfähig zu machen. Auf der zurückliegenden Buchmesse 2017 in Frankfurt habe ich erleben können, wie es diesem neurechten Spektrum geschickt gelingt, den öffentlichen Raum zu besetzen. Ein anderes Beispiel unter vielen: In Leipzig schwärmt der Jura-Professor Thomas Rauscher öffentlich von einem »weißen Europa«, spricht im Hinblick auf homosexuelle Paare von »ehezersetzenden Verirrungen« und inszeniert sich zum guten Schluss, wenn Studierende seine Vorlesungen boykottieren, als Opfer »totalitärer« Maßnahmen.

Die mitunter geäußerte Absicht, künftig mehr auf die »besorgten Bürger« eingehen zu wollen, sehe ich angesichts dieses Fundamentalismus von Rechts durchaus skeptisch – zu schnell wären wir dabei, etwa die Abschottung vor dem Fremden oder die Polemik gegen den Islam als berechtigte Positionen aufzuwerten. Der neuen Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen kann nicht bedeuten, bereits vollzogene und auch gesellschaftlich verbindlich gewordene Bewusstseinsfortschritte in Richtung von mehr Gerechtigkeit, Vielfalt und Toleranz wieder aufzuheben.

In der Gegenwart geht es vielmehr darum, unsere Offene Gesellschaft zu würdigen und auch zu verteidigen. Denn es ist keine Selbstverständlichkeit, dass dieses System eine Freiheit ermöglicht, wie es sie in der deutschen Geschichte nie zuvor gegeben hat. Im Mittelpunkt unserer Verfassungsordnung mit ihrem Zusammenspiel von Gesetzgebung, Regierung, unabhängigen Gerichten und Medien sowie einer Vielzahl gesellschaftlicher Akteure steht das Ziel der Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen in Gemeinschaft. Der Mensch als unverfügbare Persönlichkeit – seine Würde – ist der geistige und soziale Leitstern unserer Gesellschaft. Kein Gott und kein religiöser Wert ist der letzte Anker des Sozialen, sondern die »Sakralität der Person« (Hans Joas). Im vergangenen Jahr haben wir unter anderem mit der Herbstakademie an der Alanus Hochschule versucht, den tiefen Humanismus, der den Grund dieser Offenen Gesellschaft bildet, herauszuarbeiten.

DIE ENTFALTUNG MENSCHLICHER EINHEIT IN INDIVIDUELLER VIELFALT BRAUCHT ABER AUCH EINEN BEWUSSTSEINS-SCHUTZ.

Die Entfaltung menschlicher Einheit in individueller Vielfalt braucht aber auch einen Bewusstseins-Schutz. Es muss ausreichend viele Menschen geben, die, mit Hannah Arendt gesprochen, insofern »repräsentativ« denken und handeln können, als sie mehr als nur ihre eigenen Partial-Interessen im Blick haben und so etwas wie »Gemeinsinn« aufbringen können. Geht dieser Gemeinsinn verloren, dann gibt es keine äußere Autorität und keine Instanz, die das Fundament einer freien und offenen Gesellschaft garantieren könnte. Dies ist umso wichtiger zu betonen, als heute nicht selten auch in grün-linken und spirituellen Kreisen ein Überdruss an der sicherlich oft komplexen und auch widersprüchlichen demokratischen Gesellschaft zu verzeichnen ist. Immer häufiger bekomme ich beispielsweise auch in meiner Arbeit als Redakteur zu hören, wir hätten ja gar keine Demokratie in Deutschland, nur durch die Einführung von Volksabstimmungen sei »das Volk« wieder in seine Rechte zu setzen. So sinnvoll eine Erweiterung der demokratischen Regeln auch sein mag, so schädlich ist der oft fundamentalistische Unterton solcher Bemühungen.

Trotz der geschilderten Gefahren bilden, nüchtern betrachtet, die politischen Kräfte der gemäßigten Mitte immer noch eine klare Mehrheit. Ein bei weitem überwiegender Teil der politischen Repräsentanten und auch der gesellschaftlich aktiven Menschen in Deutschland haben heute in wichtigen sozialen Fragen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Diese immer noch vorhandene Basis gilt es zu nutzen und jenseits der fruchtlosen Debatte etwa um »Obergrenzen« oder die angeblich drohende Islamisierung die wirklichen Probleme unserer Welt zum Thema zu machen: Zentrale Gegenwartsforderungen wie eine Stabilisierung des Nahen Ostens, der nachhaltige wirtschaftliche Aufbau Afrikas oder die Bekämpfung des Klimawandels durch einen radikalen Umbau unserer industriellen Ökonomie lassen sich nicht mehr national und schon gar nicht nationalistisch lösen. Nur der bereits eingeschlagene Weg einer europäisch eingebundenen Identität Deutschlands erscheint aussichtsreich, einen fruchtbaren Beitrag zu den gewaltigen Herausforderungen unserer Zeit zu leisten. Die Krise unserer Tage ist nur durch entschiedene Schritte nach vorn zu bewältigen.

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