Ein Vertrag mit Gott

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January 21, 2016

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Ausgabe 09 / 2016:
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January 2016
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Juris Rubenis engagierte sich Ende der 80er Jahre als Theologe für die Befreiung Lettlands aus sowjetischer Besatzung. Nach der Unabhängigkeit Lettlands führten ihn tiefe spirituelle Erfahrungen zu einer integralen Mystik, deren Wirkung bis ins lettische Parlament reicht.


Gibt es ein Land, in dem acht Prozent der Abgeordneten des Parlaments an einer offiziellen Studiengruppe für Integrale Politik teilnehmen, seit Langem meditieren und regelmäßig Retreats besuchen? Was bei uns noch undenkbar scheint, ist im baltischen Lettland Realität. Zu verdanken ist diese Realität vor allem einem Menschen: Juris Rubenis. Aber auch der Tatsache, dass wenige engagierte Menschen in einem kleinen Land viel bewirken können.

Juris Rubenis wurde 1961 in Lettland geboren, in der Zeit der sow­jetischen Besatzung. Obwohl sein Elternhaus nicht religiös war, erfuhr er im Alter von 18 Jahren die starke innerliche Berufung, Theologie zu studieren. Er trat in das theologische Seminar der evangelisch-lutherischen Kirche Lettlands ein. In dieser Zeit war die Kirche in Lettland unterdrückt, weshalb es nur wenige Pastoren gab. So wurde Juris bereits im Alter von 21 Jahren, mitten im Studium, zum Pastor ordiniert und diente in einer Gemeinde in Liepāja, an der Westküste Lettlands. Neben dieser religiösen Arbeit engagierte sich Rubenis auch immer stärker politisch. Im Jahr 1987 trat er in die Dissidentenbewegung für die Unabhängigkeit Lettlands ein und war Mitglied des Vorsitzes der Hauptorganisation der Unabhängigkeitsbewegung – der sogenannten Lettischen Volksfront.

Nach dem Wiedererlangen der lettischen Unabhängigkeit 1991 stand Juris vor der Wahl, vollständig in die Politik zu gehen oder im Dienst der Kirche zu bleiben. Sein Herz zog ihn zur Vertiefung seines religiösen Weges, wobei er weiterhin und bis heute enge Beziehungen zu Politikern pflegte. Doch davon später mehr. Er diente jahrelang als Hauptpastor in einer der größten Gemeinden Rigas, promovierte und dozierte mehr als 15 Jahre lang über das Neue Testament an der Theologischen Fakultät der Lettischen Universität und wurde in die Lettische Akademie der Wissenschaften aufgenommen.

Im Jahr 1993 sollten sein Leben und sein Glaube eine radikale Wendung nehmen. Er lernte den in Lettland bekannten Künstler und radikalen Gottsucher Māris Subačs kennen. Für ihn waren nicht Doktrinen die Antwort, sondern die Erfahrung. Der exzentrische Künstler und der engagierte Theologe wurden Freunde. Zwei Jahre später kam Māris eines Tages mit einem dringenden Anliegen. Juris erinnert sich: »Er sagte, er höre eine Stimme, die ihm Texte diktiere und er fürchte, dass er den Verstand verloren habe. Die Stimme sage ihm, dass es Gott sei, der mit ihm spreche. Später wurde ihm erklärt, dass Gott nicht auf direkte Weise spricht, sondern mithilfe eines Engels.« Der Theologe war zunächst skeptisch, aber die Texte nahmen ihn immer mehr gefangen: »Ich fertigte fünf Kopien des Textes, den Māris mir gegeben hatte, an und verteilte sie, ohne seinen Namen zu nennen an fünf meiner theologischen Kollegen zum Lesen. Ihre Bewertung stimmte überein: Es handele sich dabei um sehr starke, etwas unorthodox formulierte geistig-kontemplative Texte, in denen nichts theologisch Inkorrektes zu finden sei.«

Das innere Gespräch von Māris mit Gott brach nicht ab. Manchmal durfte auch Juris durch Māris als Kanal eigene Fragen an Gott stellen. Die geistige Qualität dieser Antworten erschütterte und überzeugte ihn endgültig. Und eines Tages stellte er eine Frage, die sich als folgenschwer erweisen sollte: »Wäre es denn auch für mich möglich, in eine ähnliche Form der Kommunikation mit Gott zu treten?« Er erhielt als Antwort, dass es möglich sei, Juris aber zuerst einen Vertrag mit Gott unterzeichnen müsse. Danach würde ihn Gott innerhalb von zwei Jahren bis zu einem Gespräch führen. Allerdings sei seine Seelenstruktur anders als die von Māris, das Gespräch würde deshalb in einer anderen Form vonstattengehen.

¬ MEDITATION IST FÜR MICH DAS HAUPTMITTEL FÜR DIE EVOLUTION UNSERES BEWUSSTSEINS. ¬

Bald war Juris klar, dass er diesen »Vertrag mit Gott« schließen wollte und schrieb folgenden Text auf: Von diesem Augenblick an habe ich keinen freien Willen mehr. Von diesem Augenblick an werde ich Gott immer, überall und in allem dienen. Zwei Wochen später machte er eine sehr intensive körperlich erschütternde Erfahrung: »Vom unteren Bereich meines Körpers nach oben spürte ich eine unglaublich starke, heiße Energiewelle. Die erste Folge, die ich sofort bemerkte, war eine schwer zu beschreibende Veränderung des Bewusstseins, vielleicht könnte man sagen, eine riesenhafte Erweiterung des Bewusstseins. Das Gefühl war, dass ich (mein altes Ich) ganz unten in einem neuen, unendlich weiten Raum des Bewusstseins stehe, während um mich herum ein von mir unkon­trollierbarer Bewusstseins-Ozean vieler paralleler Welten wogt, so unermesslich, dass ich (mein altes Ich) jederzeit darin untergehen, verschwinden könnte. Dieser Zustand hielt drei Tage lang an, bis sich das Gefühl langsam stabilisierte. Das Gefühl der Normalität kehrte langsam zurück, aber es hatte sich im Wesen verändert.« Von diesem Augenblick an begannen in Juris große Veränderungen im Denken, in der Auffassungsfähigkeit, in der Kreativität. Regelmäßige Zeiten der Einsamkeit und Stille wurden immer wichtiger für ihn.

Dieses Erlebnis blieb für ihn ein Rätsel, bis ihm das Buch »Being in Love« des Jesuiten William Johnston in die Hände fiel, darin las er die Beschreibung eines ähnlichen Erlebnisses. Nach und nach verstand Juris, dass es sich bei seiner Erfahrung um ein energetisches, transpersonales Geschehen gehandelt hatte. Durch William ­Johnstons Bücher, in denen die Mystik des Zen und des Christentums zu einer Synthese gebracht werden, begann Juris mit der Meditation und schließlich mit einer Ausbildung zum Meditationslehrer der Kontemplationsschule Via Integralis in der Tradition von Pater Lassalle. Ein weiteres inneres Erdbeben lösten die Bücher von Ken Wilber aus, durch dessen integrale Ideen für Juris vieles fassbar wurde, was er bisher nur intuitiv geahnt hatte, und vor allem gaben sie ihm ein differenziertes Verständnis von Religion.

Diese verwandelnden Erfahrungen wollte Juris weitergeben und gründete 2009 ein kleines Meditationshaus in Lettland, das Haus Elias. Bei der Einweihung des Hauses waren die Erzbischöfe beider Kirchen anwesend, mit denen Juris gut bekannt ist: »Sie befürworten nicht unbedingt die Veränderungen in meinem religiösen Leben, aber sie vertrauen mir als Menschen.« Diese seit vielen Jahren gewachsenen Beziehungen ermöglichen es Juris auch, mit Politikern im lettischen Parlament verbunden zu sein. Wie schon erwähnt, haben einige von ihnen die Studiengruppe »Integrale Politik« gegründet, um politische Fragen im Lichte der integralen Perspektive zu betrachten. Das Haus Elias mit der Vermittlung der Meditation und einer integralen Spiritualität steht für Juris nun im Zentrum seines Wirkens, mit dem er durch seine Kontakte mit engagierten Menschen in Religion und Politik auch gesellschaftlich wirken kann: »Für mich ist Meditation das Hauptmittel für die Evolution unseres Bewusstseins. Wenn ein Politiker diesen Meditationsweg beginnt, dann zeigt sich nach und nach eine zunehmende Bewusstseinserweiterung und Offenheit für einen größeren Blick auf politische Fragen.«

Auf diesem Weg und in dieser Arbeit fühlt sich Juris seinem »Vertrag mit Gott«, der sich an ihm auch erfüllt hat, verpflichtet: Er ermöglicht den Menschen transformative Erfahrungen, die sich dann als konkrete Impulse im verändernden Handeln manifestieren können.

Author:
Mike Kauschke
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