Einander als Menschen sehen

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October 19, 2017

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October 2017
Lichtblicke für eine verwundete Welt
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Der Same eines echten Aktivismus

Leymah Gbowee gewann 2011 den Friedensnobelpreis für die Gründung und Führung einer Friedensbewegung von Frauen, die einen entscheidenden Beitrag zur Beendigung des schrecklichen Bürgerkriegs in Liberia leistete. In diesem Text reflektiert sie darüber, was diesen Erfolg möglich gemacht hat.

Schon als Kind wuchs ich mit dem Verständnis auf, dass wir alle eine gemeinsame Menschlichkeit teilen. Ich denke, dadurch war es mir möglich, mit christlichen und muslimischen Frauen zu arbeiten und die Arbeit zu entwickeln, die ich heute tue. Ich wuchs in einer Gemeinde in Liberia auf, in der Christen und Muslime lebten. In dieser Gemeinschaft lebten etwa acht der sechszehn ethnischen Gruppen Liberias – aber es war eine echte Gemeinschaft. Wir lebten dort, bis ich die Highschool abschloß, und meine Eltern schließlich in einer Vorstadt ihr Traumhaus bauten. Ich war damals Siebzehn – es war das Jahr 1998, als der Krieg begann. Am ersten Morgen nach unserem Einzug saßen wir auf der Terrasse, als zwei kleine Kinder mit Schüsseln zu uns kamen und sagten: »Wir haben Hunger. Wir wollen etwas zu essen!« Meine Schwester und ich sahen uns staunend an. Es war, als wären wir aus einem anderen Land gekommen, so fremd erschien uns diese Szene.

In der Gemeinschaft, in der wir aufgewachsen waren, wusste jede Mutter, welche Eltern in der Nachbarschaft nicht genug zu essen hatten und brachten ihnen etwas. In unserer Kindheit sahen wir nie Kinder, die um Essen betteln mussten. Zum Ramadan trugen wir alle neue Kleider. Und auch an Weihnachten. Zum Ende des Schuljahrs gingen wir mit unserem Zeugnis von Haus zu Haus und zeigten es jedem in der Nachbarschaft. 

Du musst in der Lage sein, diejenigen, die Waffen tragen, als Menschen zu sehen.

Als der Krieg kam, wurde all das auf den Kopf gestellt. Ich hörte Sätze wie: »Du kannst nicht mit Leuten dieser ethnischen Gruppe reden, weil sie unsere Leute ermorden.« Ich war wütend: Nein, das war nicht meine Wirklichkeit! Als ich die Bewegung christlicher und muslimischer Frauen für den Frieden gründete, war dieser Same des Verstehens, dass wir alle Menschen sind, egal wie wir beten, sehr wichtig. Ich sagte den Frauen: Lasst uns über das Offensichtliche hinausgehen. Lasst uns über die aktuelle Politik hinausgehen. Ich sagte, ich möchte euch eine Frage stellen: Nehmen wir an, eine Gewehrkugel kommt in diesen Raum. Könnt ihr voraussehen, ob die Kugel nur die muslimischen Frauen trifft und die christlichen Frauen verschont? Die Antwort war: Nein. Viele von euch haben Kinder verloren. Ist der Schmerz, ein Kind zu verlieren für eine christliche Frau anders als für eine muslimische? Nein! Vergewaltigen die Soldaten Frauen aufgrund ihrer Religion? Nein. Was haben wir also gemeinsam? Alle antworteten: Wir sind Menschen. Aus dieser gemeinsamen Menschlichkeit heraus war es möglich, die Arbeit zu tun, die wir zusammen entwickelt haben. 

Meine Theorie dazu ist: Jedes Mal, wenn du mir aufgrund deiner stereotypischen Ideen von mir begegnest, baust du eine dünne Wand zwischen dir und mir. Jedes Mal, wenn du daraus handelst, stärkst du diese Mauer. Wenn du mich dann nach einer gewissen Zeit anschaust, siehst du nicht mehr den Menschen, weil meine Menschlichkeit in deinen Vorstellungen von mir verloren gegangen sind. 

Um als Aktivist zu wirken, eine Situation zu verändern oder Frieden zu schaffen, musst du in der Lage sein, diejenigen, die Waffen tragen, als Menschen zu sehen. Ich muss auf sie zugehen und ein Beispiel geben. Wenn man an all diesen Stereotypen festhält – sie gehören nicht zu meiner Gruppe, diese anderen Leute, wir sind gegen sie –, liegt die einzige Lösung in einem Gespräch. Wenn du in meinen Raum eintrittst und mich kennenlernst, meine Schmerzen, meine Ängste und meine Sorgen kennenlernst, beginnst du, mich wieder als Menschen zu sehen.

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