Eine Ethik für das Leben

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Published On:

January 30, 2020

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Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
Ende oder Wende
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Eine Besprechung des Buches »Radikale Liebe« von Claus Eurich

Alles Leben ist heilig.« Das ist eine Alltagserfahrung vieler indigener Stämme. Dass es hierzu auch eine westliche Ethik gibt, war mir bisher nicht bekannt. Während westliche Ethiken sich in der Regel nur dem menschlichen Leben widmen, begann Albert Schweitzer ab 1919, kurz nach dem ersten Weltkrieg, eine universale Ethik zu formulieren und zu erproben, eine Ethik, mit der er alles Leben erfasst.

Mit seinem – wie er selber sagt – kleinen Buch »Radikale Liebe« möchte Claus Eurich diese Ethik für unsere heutige lebensverachtende Zeit bekannt machen – eine Zeit, in der die Dringlichkeit nicht größer sein könnte. »Wir morden und plündern … nicht nur wahllos in den Refugien des Lebens, sondern wir produzieren in kaum vorstellbarer Weise Lebewesen, nur um sie dann nach einem überwiegend entwürdigenden Dasein wieder auf schreckliche Art hinzurichten.« (S. 30) Unsere Zeit ruft nach einer Ethik für alle Lebewesen. Eurich ist sich klar, dass eigentlich alles über Schweitzer gesagt wurde und dem nichts hinzuzufügen ist, außer dass Schweitzers Ansatz in unserer menschenzentrierten Sichtweise keine Verbreitung gefunden hat. Hier verbindet sich Eurichs eigenes Herzensanliegen als Kontemplationslehrer und emeritierter Professor für Kommunikation und Ethik mit dem Impuls Schweitzers: in radikaler Liebe für das Leben aufzustehen.

Mit groben Pinselstrichen skizziert Eurich Schweitzers Ethik, die man mit der Kernaussage »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will« auf den Punkt bringen kann. Die Ethik ist nicht normengebunden, sondern die Ehrfurcht vor dem Leben – wie Schweitzer sein ethisches Werk nannte – verlangt eine ethische Entscheidung in jedem Moment. Wir werden getrieben von »dem unendlichen, unergründlichen, vorwärtstreibenden Willen, in dem alles Sein gründet.« (S. 41). Dieser »unendliche, unergründliche Wille« ist Schweitzers Gotteserfahrung, die seiner Ethik eine mystische Tiefe verleiht. In jedem Lebewesen ist dieser Wille zum Leben spürbar und muss von uns als gleichwertig geachtet werden.

Schweitzers Ethik basiert auf der Entscheidungsfreiheit des mündigen Menschen. Ethische Entscheidungen müssen vernunftund nicht gefühlsgesteuert sein: »Ethisch werden, heißt wahrhaft denkend werden«, sagt Schweitzer. Das Denken braucht dann allerdings ein Korrektiv im Wollen und Hoffen, um nicht dem Pessimismus zu verfallen.

Wie kommen wir darauf, eine Ethik nur für uns Menschen zu formulieren?

Schweitzer war ein Mann der Tat, der seine Ethik am eigenen Leben entwickelt und überprüft hat. Dabei wurde ihm bewusst, dass es eine Kluft im ethischen Handeln gibt, die er Selbstentzweiung des Lebens nennt: Ich kann versuchen, alles Leben zu achten, ich kann aber nicht verhindern, dass ich töte. Allein beim Laufen durch den Wald zertrete ich z.B. Kleinstlebewesen. Leben heißt immer schuldig werden, was aber nicht von ethischem Handeln entbindet.

Eurich schlägt vor, Schweitzers universelle Ethik als Meta-Ethik zu verwenden, um unter ihrem Dach andere bedeutende ethische Erkenntnisse zu sammeln. Er führt das für Gedanken von Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Hans Jonas, Nietzsche oder Camus aus.

Schweitzers Ethik ist eine Präventivethik, was bedeutet, dass wir nur das tun dürfen, was überschaubar dem Leben dient: »Am Anfang dieses Prozesses steht die Frage, was wir eingedenk der großen Menschheitsziele und Lebensnotwendigkeiten überhaupt noch können sollen. Nehmen wir diese Frage ernst, dann sind voreilige technologische Eingriffe so lange tabuisiert, wie sie nicht in ihren Konsequenzen verstanden wurden.« (S. 71) Zudem müssen wir lebensfeindliche technische und ökonomische Strukturen ändern und uns von den tief in uns verwurzelten Konsumsüchten verabschieden.

Je mehr ich darüber nachdenke, entsetzt und erstaunt es mich: Wie kommen wir darauf, eine Ethik nur für uns Menschen zu formulieren, wo so viel mehr empfindende Wesen auf diesem Planeten leben? Eurichs Buch »Radikale Liebe« öffnet die Augen dafür, dass wir etwas so Offensichtliches in unserem abendländischen Denken übersehen haben. Man braucht sich nur umzuschauen und sieht überall die grausame Konsequenz von derartigem menschenzentrierten Denken und Handeln. Gerade in seiner Kürze erfüllt das Buch seine Aufgabe, die Leser und Leserinnen für eine notwendige universale Ethik zugunsten allen Lebens aufzurütteln – und zwar sofort.

Author:
Elke Janssen
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