Eine moderne Eremitin

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

July 17, 2017

Featuring:
Maria Anna Leenen
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Issue 15 / 2017:
|
July 2017
Mensch & Maschine
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Maria Anna Leenen und ihr Weg zu Gott und darüber hinaus

Das Leben als Einsiedlerin erscheint in unserer Zeit der Beschleunigung und medialen Vernetzung wie ein Relikt aus der Vergangenheit. Aber Maria Anna Leenen hält es für zeitgemäßer und relevanter denn je. Seit 1993 lebt sie als Eremitin, wobei vorher nichts in ihrem Leben auf diesen besonderen Weg hindeutete. Was bewegt eine moderne, abenteuerlustige Frau dazu, in solch eine geistliche Zurückgezogenheit zu gehen?

Als ich Maria Anna Leenen am Telefon erreiche, zieht bei ihr gerade ein Gewitter auf. Die kräftige, selbstbewusste Stimme am anderen Ende der Leitung sagt, dass unser Gespräch jeden Moment unterbrochen werden könnte, wenn das Gewitter zu Störungen führt und vielleicht wieder einen Schaden an ihrer Klause anrichtet. Was anmutet wie ein Gespräch mit einer lang vergangenen Zeit, entpuppt sich als lebendige Exploration über den Sinn unseres Lebens in einer immer schneller werdenden Welt.

Maria Anna Leenen ist als evangelisch-lutherische »Taufscheinchristin« aufgewachsen, was aber nach der Konfirmation keine Rolle mehr in ihrem Leben spielte. Sie lebte als Single, hatte verschiedene Jobs, verdiente viel Geld und reiste oft ins Ausland. Aber etwas fehlte ihr im Leben. Als »Abenteuertyp«, wie sie sich selbst bezeichnet, ging sie mit einem Freund nach Südamerika, um auf einer großen Büffelfarm mitzuarbeiten. Während dieser Zeit stieß sie als begierige Leserin eher durch Zufall auf ein christliches Buch über Marien-­Erscheinungen. Beim Lesen des Satzes, »Jesus ist die Wahrheit, der Weg und das Leben«, platzte für sie innerlich etwas, eine Mauer brach ein, wie sie es beschreibt. In dieser tiefen inneren Wandlung wurde ihr klar: »Das, was ich will, ist nicht Geld, Beziehung oder etwas anderes, sondern Gott.«

Nach einem Jahr kam die Büffelfarm in eine Krise und Maria Anna Leenen ging wieder zurück nach Deutschland. Dort versuchte sie, die Bedeutung ihrer innerlichen Erfahrung der Berufung durch Gott zu verstehen. Sie wurde zunächst katholisch, weil sie diese Kirche in Lateinamerika kennengelernt und die darin gelebte Emotionalität des Glaubens schätzen gelernt hatte. Nach ihrem Eintritt in die Kirche ging sie zunächst in ein Klarissen-Kloster. Dort konnte sie ihren Glauben vertiefen, merkte aber auch, dass dies nicht ganz ihr eigener Weg war. Sie wusste, dass es ein Leben des Gebets und der Kontemplation in Schweigen und Zurückgezogenheit sein würde. In diesem inneren Suchen waren ihr der Heilige Franziskus und die Heilige Klara mit ihrer Naturverbundenheit und dem intensiven Spüren der Schöpfung und der Möglichkeit, die Früchte dieses Lebens weiterzugeben, wichtig. Da diese Aspekte ihres religiösen Lebens für sie so essenziell waren, sagte ihre Novizenmeisterin: »Ja, dann musst du Einsiedlerin werden.« Damit war für sie der Weg klar, ohne dass sie wusste, wie sie solch ein Leben heute leben sollte.

Ihre erste Eremitenklause war auf jeden Fall nicht besonders romantisch, es war eine nicht gedämmte Baracke ohne fließendes Wasser. Dort lebte sie neun Jahre lang. Als die Baracke langsam einzustürzen drohte, fanden Freunde ein Haus in der Nähe von Osnabrück und konnten den Vermieter davon überzeugen, sie dort einziehen zu lassen. Ein Jahr lang renovierten sie das Haus und Maria Anna Leenen richtete dort die Klause St. Anna ein, in der sie seitdem lebt. Ihren Tagesablauf dort beschreibt sie so: »Morgens stehe ich um sechs Uhr auf und gehe als erstes in die kleine Kapelle in meinem Haus. In einem kurzen Morgengebet stimme ich mich auf den Tag ein. Die Gottesbeziehung hat oberste Priorität und mich darin einzuüben, damit fange ich den Tag an. Dann gibt es einen großen Kaffee und ich muss meine Tiere füttern, die Katzen und Ziegen. Es folgt wieder eine Zeit in der Kapelle mit Gebeten und lesen in der Bibel, ich meditiere, bin still und beginne so den Tag. Mit einem zweiten Kaffee gehe ich an die Arbeit, das kann schreiben sein oder das Gestalten von Kerzen. Mittags gehe ich noch einmal für 15 Minuten in die Kapelle und reflektiere, wie der Tag bisher gelaufen ist. Nach einem kleinen Mittagessen arbeite ich wieder und gegen Abend füttere ich nochmals die Tiere, verweile in Stille in der Kapelle, bete die Vesper. Dann gibt es ein größeres Abendessen und wieder etwas Arbeit, bis ich dann gegen elf Uhr ins Bett gehe.«

Zu Beginn ihres Einsiedlerlebens ging sie durch einen Prozess der inneren Reinigung. Die Intensität des Lebens in der Einsamkeit, in Kontemplation und Gebet forderte sie dazu auf, sich mit ihren eigenen Schatten, dem »inneren Dreck«, wie sie alte Wunden und destruktive innere Impulse nennt, auseinanderzusetzen. Sie lernte, sich »ungeschminkt zu sehen«, und erfuhr, »dass Gott diesen Menschen, der nicht vollkommen ist, über alle Maßen liebt«. Im Laufe der Jahre ist diese Erfahrung immer intensiver und umfassender geworden. Zu Beginn war es der Ruf zum geistlichen Leben und ein tieferes inneres Ja dazu und zunehmend bemerkte sie, dass Gott den ganzen Menschen meint, auch die Aspekte in uns, die nicht »gottgefällig« sind oder die »Fehler« im eigenen Leben. Diese »umwerfende Erfahrung« der Liebe Gottes zum ganzen Menschsein, die sie als Essenz ihres Lebens beschreibt, möchte sie heute anderen zugänglich machen: »Ich habe Gott erfahren und weiß, dass er als persönliches Du da ist und mich als Menschen gerufen hat, mit einer unglaublichen Zärtlichkeit und Liebe.«

¬ Ich lebe nicht für mich allein, sondern ich lebe für alle Menschen. ¬Mara Anna Leenen

Nachdem sie in den ersten Jahren vor allem allein war, gibt sie heute die Früchte ihres Lebens durch ihre Bücher und die Begleitung von Menschen weiter, die sie immer öfter in ihrer Klause besuchen. Diese Weitergabe dessen, was sie in ihrem geistlichen Leben erfährt, gehört für sie zum Verständnis von der Beziehung zwischen Mensch und Gott. »Alles, was ich geschenkt bekommen habe, einschließlich der Erfahrung in Südamerika ist dazu da, weitergegeben zu werden, um anderen Impulse zu geben, den eigenen Weg zu gehen. Denn unsere Individualität ist gottgewollt.« Gleichzeitig ist ihr die Verbundenheit mit den Menschen und der ganzen Menschheit wichtig: »Ich lebe nicht für mich allein, sondern ich lebe für alle Menschen, auch wenn ich sie nie sehen oder kennenlernen werde. Alle Menschen stammen von einem Schöpfer, das heißt, wir sind eine Familie. Im katholischen Glauben sprechen wir vom mystischen Leib, das bedeutet, dass die ganze Menschheitsfamilie wie ein Organismus ist. Wenn ich versuche, mit meinem Leben in Frieden mit mir selbst und meiner Umwelt zu leben, dann wirke ich innerhalb dieses Organismus der Menschheit, indem ich etwas Gutes und Friedvolles hineingebe. Das ist eines der Geheimnisse des Lebens als Eremitin.«

Mit ihrer Kirche ist sie tief verbunden, sie ist Diözesaneremitin und untersteht damit dem Bischof von Osnabrück, dem sie ähnlich wie eine Ordensfrau Gelübde abgelegt hat. Sie sieht aber die Kirche und unsere gesamte Gesellschaft in einem tiefen Strukturwandel, den sie sehr spannend findet, und bezeichnet sich selbst als »unverbesserliche Optimistin«. In ihrer Vision der Zukunft gibt es weniger Zentralismus und mehr und mehr Menschen machen sich auf den Weg, um im Frieden mit sich und Gott und den anderen Menschen zu leben und mit dieser Haltung auch die Gesellschaft zu verändern und mehr Wärme, Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft zu ermöglichen. Dazu wird es ihrer Ansicht nach aber auch notwendig sein, zu verzichten und Einfachheit zu lernen, statt hemmungslosen Konsum zu betreiben. Ihre Hoffnung ist, dass immer mehr Menschen zu einer tieferen Einheit mit sich selbst, mit Gott, der Schöpfung und den anderen Menschen finden und daraus leben und dass sich dieses »Feuer« auf andere überträgt. Als ein Zeichen dieses stillen Aufbruchs sieht sie auch die neue eremitische Bewegung, die sie durch ihre Bücher mit inspiriert hat. »Gerade in einer Zeit, wo wir durch die technologischen Entwicklungen wie Smartphones und Computer oft an der Peripherie leben, wird die Sehnsucht nach einer inneren Einheit mit uns selbst und dem Leben immer größer.« Die Technologie ist für sie aber nicht das Problem. Das ist eine Entwicklung, die wir nicht zurückdrehen können und wollen, sondern es geht um unseren Umgang damit. Interessanterweise nutzen auch Eremiten das Internet zur globalen Vernetzung im »Network ofDiocesanHermits«.

Überall auf der Welt weiß Maria Anna Leenen von einer neuen Renaissance dieser uralten Lebensform und sie versucht, das weiterzugeben, was an Impulsen für heute mit diesem Leben verbunden ist: »Menschen zu helfen, zu ihrer inneren Mitte, ihrem Einssein mit Gott zu kommen, damit sie den Weg finden zu einem erfüllten, bunten und sinnvollen Leben.«

Author:
Mike Kauschke
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