Eins mit dem Leben

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

November 6, 2020

Featuring:
Ramana Maharshi
Shakti Caterina Maggie
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Issue:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
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Jenseits von Polarisierung, Angst und Trennung

Die Sinnkrise, die sich heute zeigt, ist für die spirituelle Lehrerin Shakti Caterina Maggi eine Möglichkeit, zu einer neuen Verbundenheit und Klarheit zu finden. Wir sprachen mit ihr über den Weg zu einem Leben aus dem Einssein.

evolve: Viele Länder, besonders im Westen, stecken in einer Sinnkrise. Dinge, an die Menschen geglaubt und denen sie vertraut haben, haben keine Bedeutung, keinen Sinn mehr. Das gilt nicht nur für Religion oder Spiritualität, sondern auch für kulturelle Werte. Diese Sinnkrise scheint auch eine Ursache für Autoritarismus, verwirrende Reaktionen auf Corona oder psychische Probleme wie Depression, Sucht oder Lebensmüdigkeit zu sein. Warum befinden wir uns in einer Sinnkrise?

Shakti Caterina Maggi: Die Krise, die unsere moralischen, religiösen und kulturellen Werte, unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme betrifft, entspricht stark der Beschreibung des Kali-Yuga-Zeitalters, das in den östlichen Traditionen als Zeit der Verwirrung beschrieben wird. In dieser Zeit wissen wir nicht mehr, was Wahrheit ist und selbst diejenigen, die die Wahrheit verkünden, scheinen zu lügen oder sind nicht mehr vertrauenswürdig. Und ob wir dieser indischen Klassifikation folgen oder nicht: Wir leben in einer Zeit der Zerstörung. Nun sind wir es gewohnt, Zerstörung als etwas Negatives zu betrachten und deshalb fällt es uns schwer, eine Zeit des Verfalls als Chance zu begreifen, in der wir neu entdecken können, was im Leben wirklich wertvoll ist, und es durch unser Wahrnehmungsvermögen und unsere Unterscheidungskraft mehr und mehr erkennen.

Es ist eine Zeit der Reinigung. Wir waschen den Schmutz weg, dadurch wird er vorübergehend sichtbarer. Wir sehen plötzlich, dass im Gewebe des Lebens mehr Schmutz verborgen ist, der sichtbar wird, wenn er weggespült wird. Vielleicht fühlen wir uns überwältigt, aber wir erhalten die wunderbare Möglichkeit herauszufinden, wie viel in unserem Leben vom Ego bestimmt wird und wie viel tatsächlich unserem Herzen gehört. Das Herz verkörpert unsere Bewusstheit, es ist Ausdruck des Gewahrseins in menschlicher Gestalt. Ramana Maharshi sagte: »Das Gewahrsein wohnt im Herzen.« Wenn man die Krisenzeit aus dieser Perspektive betrachtet, dann ist der Verfall nichts mehr, vor dem man Angst haben oder das man korrigieren muss, sondern eine wunderbare Möglichkeit, alles los- und fallenzulassen, was keinen Wert hat.

Dem Ego macht das natürlich Angst. Wir suchen nach der Ewigkeit, aber auf die falsche Weise. Wir suchen sie in Erfahrungen von ewiger Liebe, dauerhaften Beziehungen, einem sicheren Job. Es ist nicht verkehrt, sich so etwas zu wünschen. Aber solange nicht die Wahrheit Grundlage unseres Daseins ist, haben wir Angst davor, uns vom Fluss des Lebens durchströmen zu lassen.

Die meisten von uns leben mit Kompromissen. Und der größte Kompromiss ist die Annahme, wir seien getrennte Entitäten. Dabei bestätigt unsere alltägliche Wahrnehmung diese Überzeugung eigentlich nicht. Um in der Getrenntheit zu leben, bedarf es einer konzeptionellen Anstrengung, die uns aber meistens nicht bewusst ist, da wir es so sehr gewohnt sind, uns von unserem Verstand und unseren Konzepten steuern zu lassen. Es erscheint uns normal, uns als Personen statt als Bewusstsein wahrzunehmen. Doch wenn wir das Leben aus unserer direkten Erfahrung heraus erfassen, erkennen wir nur Einssein. In der trantrischen Praxis wird das zum Beispiel deutlich spürbar.

Wenn wir uns daran erinnern, dass wir nicht Menschen sind, die ein Leben leben, sondern Bewusstsein, das sich selbst durch das Leben erfährt, wird die Krise zu einer Chance und ist nichts, das ich fürchten oder vor dem ich flüchten muss. Das heißt nicht, dass Angst und Unwissenheit nicht Teil der Reise wären. Im Gegenteil: Die Konfrontation mit unseren Schatten wird auf jeder Sein­s­ebene ein wichtiger Teil dieser Erfahrung.

Auf diese Weise wächst unsere Einsichtsfähigkeit und unser Urteilsvermögen – nicht als Qualität unseres Verstandes, sondern unseres Herzens. Es geht nicht um unsere Urteile, sondern um die Unterscheidungskraft oder Viveka, die es uns erlaubt, das, was wahr ist, von dem zu unterscheiden, was nicht wahr, was Illusion ist. Denn das Wahre kommt aus dem Herzen. Wir leben also in einer beunruhigenden Zeit, die jedoch letztendlich nicht ins Chaos, sondern zu Klarheit führen wird.

Jenseits der Polarisierung

e: Welche Beziehung besteht zwischen der individuellen Reise zur Klarheit und dem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang?

SCM: Die größeren kollektiven Bewegungen sind nicht getrennt von denen des Individuums. Es ist sogar die gleiche Bewegung, denn wir können die kollektive Bewegung nur von unserem individuellen Standpunkt aus deuten. Die Bewegung des Lebensflusses entsteht nicht durch einzelne Wassertropfen – es ist das Leben, das uns bewegt. Wenn wir als Individuen dem Unwirklichen anhaften, uns mit etwas identifizieren, das wir nicht sind, dann werden wir durchgeschüttelt. Auf kollektiver Ebene werden Religion, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, moralische Grundsätze ebenso erschüttert. Unsere Generation stellt Dinge infrage, die vorhergehende Generationen nicht im Geringsten angezweifelt haben. Darin liegt eine große Chance.

Gleichzeitig entsteht oft ein Nährboden für Fundamentalismus, denn nicht jeder scheint in der Lage zu sein, sich der Fluidität der Gegenwart hinzugeben. Das Bedürfnis des Verstandes nach Polarisierung entsteht aus der Angst vor unsicheren Situationen. Der Ausweg sind dann oft extreme Positionen – exklusive Standpunkte, die wiederum Trennung schaffen. Das Herz, als Gewahrsein in menschlicher Gestalt, braucht keine Polarisierung. Es ist neutral und in der Lage, alle Positionen in sich aufzunehmen, also eine einschließende, statt ausschließende Perspektive einzunehmen.

e: Jede Polarisierung beinhaltet eine stark ausgeprägte Dualität. In der Lage zu sein, Gegensätze zu halten und nicht zu polarisieren, sondern jedes Thema, ganz egal, um was es geht, in einer Haltung der Nicht-Dualität zu untersuchen und zu erforschen, ist ein Weg, mit der Komplexität des Lebens umzugehen.

SCM: Ja, für spirituelle Sucher ist es eine unglaubliche Zeit, die aufregender ist als die vergangenen hundert Jahre. In der indischen Tradition ist das Kali-Yuga eine Zeit, in der mehr Menschen als zu jeder anderen Zeit Erleuchtung erfahren können. Es gibt also schlechte und gute Seiten. Ein Kennzeichen unserer Zeit sind die Konflikte der Menschen innerhalb ihrer eigenen Familien oder Gemeinschaften. Hier können wir lernen, Negativität auszuhalten, ohne selbst negativ zu werden, ohne Position zu beziehen. Sind wir in der Lage, die Unwissenheit in der Negativität zu erkennen? Sind wir fähig, Mitgefühl für Negativität zu entwickeln? Denn Unwissenheit und Negativität entstehen, wenn wir unsere grundlegende Natur nicht kennen – die Liebe.

Wie wirkt sich diese Neutralität aus? Werden wir zu Komplizen der Negativität? Ich glaube nicht. Was wäre der dharmische Weg, auf Negativität zu reagieren, wenn wir Mitgefühl in uns entwickelt haben? Als spirituelle Sucher müssen wir uns diesen Fragen stellen, und nur wir selbst können sie beantworten. Wir müssen lernen, unseren Worten Taten folgen zu lassen – »to walk our talk«. Und bei der Umsetzung erkennen wir manchmal, dass unsere so geschätzte und geliebte Wahrheit für uns bloß ein Konzept ist und wir nicht wirklich aus ihr leben. Das hat verschiedene Ursachen, z. B. die Angst, verletzt zu werden, wenn man aufrichtig ist. Doch ich finde diese Reise in die Aufrichtigkeit, zu der uns diese Zeit auffordert, wirklich aufregend und schön. Die spirituelle Erforschung ist heute für viele Menschen eminent wichtig, eine Frage von Sein oder Nichtsein – nicht nur ein Hobby fürs Wochenende. Die Menschen spüren: »Mein Leben überfordert mich. Ich brauche einen festen Boden unter den Füßen, auf dem ich stehen kann, um mit dem, was geschieht, umgehen zu können, denn das Leben ist so unüberschaubar.« Deshalb ist Spiritualität heute so wichtig. Wir können uns nicht länger belügen. Was für eine Chance!

DAS BEDÜRFNIS DES VERSTANDES NACH POLARISIERUNG ENTSTEHT AUS DER ANGST VOR UNSICHEREN SITUATIONEN.

e: Nun gibt es in der spirituellen Welt und in der gesamten Gesellschaft Menschen, die von dunklen Verschwörungen überzeugt sind. Auch wenn das von einem gewissen Standpunkt aus richtig sein mag, kann es dazu führen, sich in Dualismus und Projektionen zu verfangen.

SCM: Transzendente Wahrheiten sind einfach. Sobald wir aber über konkrete Ereignisse sprechen, kann Wahrheit unglaublich komplex werden. Ich glaube, keiner von uns kann wirklich wissen, was auf der Welt geschieht. Manchmal werden Dinge, die in der Politik oder der Wirtschaft geschehen sind, erst nach Jahrzehnten aufgedeckt. Da gibt es keine Sicherheit, doch wir können uns der Wahrheit unseres Herzens als Leere, als Stille, als Frieden sicher sein. Auch wenn wir nicht an Verschwörungstheorien glauben, können wir alle spüren, dass an unserer Art zu leben etwas schrecklich falsch ist. Aber ich lehne den hasserfüllten Ton ab. Er verliert das Gesamtbild aus dem Blick. Und ich brauche keine Verschwörungstheorie, um zu wissen, dass es Menschen gibt, die Dinge tun, die wir durchaus als böse bezeichnen könnten.

Ich würde sagen, dass in den letzten zwanzig Jahren ein Regime der Angst herrscht. Wir können dieses Regime der Angst als eine Kali-Energie verstehen, die alles zerstört, was nicht wahr ist. Kali, als Gefährtin von Shiva, zerstört die Ignoranz, nicht uns. Sie zerstört die Unwissenheit, sie trinkt das giftige Blut der Dämonen und enthauptet die Unwissenheit, das Ego. Sie ist eine Bedrohung für das Ego.

Jenseits der Angst

e: Was meinst du mit einem Regime der Angst?

SCM: Ich spreche nicht von einem politischen oder wirtschaftlichen System oder bestimmten Menschen, sondern von einer Bewegung des Bewusstseins. Die Angst beherrscht heute unser Leben. Ich sage nicht, dass Regierungen oder bestimmte Leute uns mit Angst beherrschen wollen, aber es gibt eine Schreckensherrschaft, eine Herrschaft der Angst, die sich in vielen ganz einfachen Dingen ausdrückt. Ein Beispiel: Als meine Eltern Kinder waren, spielten sie mit anderen Kindern einfach auf der Straße. Als ich zehn oder zwölf war, wurde das nicht mehr empfohlen, und heute wachsen die Kinder noch wesentlich isolierter voneinander auf. Das ist keine Kritik daran, wie wir heute unsere Kinder erziehen, aber es zeigt, dass wir ein Leben leben, das stark von Angst durchdrungen ist. Früher hatte man vielleicht Angst, nicht den richtigen Partner zu finden oder Angst vor Krieg oder anderen, mehr praktischen Dingen des Lebens, aber es gab nicht diese Angstgefühle, die unser Bewusstsein beherrschen. Wir erleiden viel mehr Qualen als frühere Generationen. Unser Schmerz rührt aus dem tiefen Gefühl des Voneinander-Getrenntseins, der Isolation. Das ist die Schreckensherrschaft, die ich meine: die Atmosphäre der Trennung, die zwischen den Menschen herrscht, unsere Gemeinschaften sind zerfallen.

Ich habe gelesen, dass neunzig Prozent des Reichtums auf unserem Planeten in der Hand von weniger als einem Prozent der Menschen sind. Das ist ein Ausdruck von Trennung. Warum müssen Menschen so viel anhäufen? Es ist nichts verkehrt daran, reich und wohlhabend zu sein und im Überfluss zu leben. Auch in der Natur herrscht Fülle. Am Baum wächst nicht nur ein Pfirsich oder ein Apfel, sondern Hunderte von Früchten, und in jeder Frucht sind viele Samen, die viele neue Bäume und noch viel mehr Früchte hervorbringen können. Das Gesetz des Lebens ist das Gesetz der Fülle. Warum also leben wir in so großem Mangel statt in Fülle? Weil wir aus der Trennung leben. Die Wahrnehmung des Getrenntseins ist der Fehler, sozusagen unser »Programmier«-Fehler, der das Gleichgewicht stört. Das wird in unserer Gesellschaft so offensichtlich. Aber dieses Gefühl des Getrenntseins, das die Disharmonie kreiert, kann unsere Augen öffnen für die Möglichkeit der Harmonie.

Die Krise, die wir durchlaufen, ist nicht verkehrt, sie ist schwierig. Das Wort Krise bedeutet im Griechischen »durchbrechen«. Wir brechen durch etwas hindurch, und vielleicht bringt diese Krise eine Heilung hin zu einer anderen Lebensweise mit sich. Wir müssen aufwachen und erkennen, was wirklich ist, was real ist, dann kann sich unser Leben daran orientieren statt an der Illusion der Trennung.

Es ist nicht natürlich, in der Trennung zu leben, denn wir sind soziale Wesen. Wir mögen unsere Individualität, aber wir sind auch gerne Teil von etwas Größerem. Sind wir das nicht, dann leiden wir. Die Angst wird jetzt deshalb so spürbar, damit wir sie erforschen können, damit wir die Trennung durchbrechen und frei werden.

Jenseits der Trennung

e: Meinst du das, wenn du sagst, dass an unserer Lebensweise etwas falsch ist?

SCM: Ja, unsere Lebensweise verstärkt das Gefühl der Trennung. Ich sage ja nicht, dass jetzt alle herumgehen und ihren Besitz verteilen sollen. Aber es gibt eine gesunde, nachhaltige Art zu leben, bei der wir mehr aus einem »Wir«-Bewusstsein und nicht so sehr aus einem »Ich«-Bewusstsein leben. In der afrikanischen Ubuntu-Philosophie heißt es: »Ich bin, weil wir sind«. Kann ich sehen, dass ich nicht nur in dieser Körper-Geist-Verbindung existiere, sondern Teil von etwas viel Größerem bin? Und was bedeutet es, Teil von etwas Größerem zu sein und dennoch ein Individuum? Das sind Fragen, auf die wir im Außen keine Antwort finden werden. Wir müssen sie in uns finden, indem wir sie leben. Wir müssen unser Leben leben, indem wir das Gleichgewicht finden zwischen Einssein und Wir-selbst-Sein; wir können leben, ohne das Wir-selbst-Sein zu ersticken oder die Umarmung des Einsseins zu verlieren. Das gilt es zu erforschen, und ich finde die Tatsache, dass es keine definitive Antwort auf die Frage: »Was ist der Sinn des Lebens?« gibt, unheimlich faszinierend. Das Leben ist der Sinn. Wenn wir Frieden im Herzen finden, dann wird unser Leben Ausdruck dessen und die Sinnsuche hat ein Ende. Wir können der Sinn sein – als die Liebe – und dies auf unsere je eigene Weise zum Ausdruck bringen.

e: Wenn wir aus der Trennung leben, suchen wir immer nach dem Sinn oder einem Ziel, und in gewisser Weise kann uns das motivieren, tiefer zu forschen. Doch wenn man Sinn gefunden hat und das Nicht-Getrenntsein erfährt, dann stellt sich diese Frage nicht mehr.

SCM: Ja, denn du suchst nur in der äußeren Welt nach Sinn, wenn du ihn in dir noch nicht gefunden hast. Sobald du erkannt hast, wo du bist, ist dein Leben angefüllt mit Sinn. Nicht, weil du die Antwort im Außen gefunden hättest, sondern weil du die Antwort bist – und du teilst sie mit der Welt auf deine einzigartige Weise.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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