Eros

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Essay
Published On:

July 18, 2022

Featuring:
Categories of Inquiry:
Tags
Issue:
Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.


Von der Sexualität zum Heiligen


In der Moderne wurde die romantische Liebe zur Verheißung einer Erfahrung von menschlicher Ganzheit. In der sexuellen Befreiung wurde unsere Lebenskraft gefeiert. Aber das ist erst der Anfang einer umfassenden Ausbildung unserer schöpferischen, erotischen Kräfte.

Der Pädagoge und Futurist Zak Stein hat einmal gesagt, dass vor der Moderne alles heilig war, seit der Moderne nichts mehr heilig ist und in Zukunft alles wieder heilig sein könnte. Wenn man sich die Verwüstungen im Menschlichen und Mehr-als-Menschlichen ansieht, die eine Kultur angerichtet hat, welche nur noch das Materielle und das Rationale schätzt, ist schwer vorstellbar, was einen solchen Wandel bewirken könnte – und wie dieser trotz seiner Dringlichkeit jemals erreicht werden könnte.

Aber wie können sich neue Formen des Heiligen zeigen? Das wird nicht durch Planen oder Nachdenken zu erreichen sein. Aus den Bedürfnissen unserer Zeit und dem Potenzial, das wir verkörpern, muss sich ein neuer Sinn für Tiefe und Bedeutung zeigen. Auf irgendeine Weise muss sich eine ausreichende Anzahl von Menschen mit dem Wunder des Lebens verbinden, das das Wasser zu unserem Blut, die Bäume zu unserem Atem, die Steine zu unseren Knochen werden ließ.

Wohin also führt uns der Weg, der allem wieder den Glanz des Heiligen verleihen könnte?

Persönlich heilig

Die Betonung des Individuums in der Moderne, die sogar für die Heiligkeit jedes Menschen spricht, erzählt die Geschichte vom Leben als eine Solo-Mission, die eine bemerkenswerte Handlungsfähigkeit und Kreativität freigesetzt hat. Der Preis dafür war jedoch hoch: ein quälendes Empfinden der Unvollständigkeit, der Verwundung und der Entfremdung, überdeckt von einem Labyrinth aus Abwehrmechanismen.

Der Balsam für die Trennungswunde der Moderne war die Liebe, die romantische Liebe. Der Mann sollte in der Frau und die Frau im Mann die vollendende Ergänzung finden. Die Moderne erfand für die Liebe die institutionalisierte Ehe, damit zwei Hälften ein Ganzes werden können. Als Vereinigung des Männlichen mit dem Weiblichen repräsentiert das Liebespaar die Hoffnung auf Ganzheit. Die sexuelle und emotionale Vereinigung trägt beide gemeinsam über das eigene Ich in ein Gefühl der Vollkommenheit hinaus. Die Andere, der Geliebte ist ein Mysterium, ein Wesen, das völlig anders ist, aber unsere Ängste lindert. Der Mann findet Sanftheit, die Frau Schutz. (Beide finden sexuelle Intimität, obwohl nur einer sie genießen soll.) In unseren romantischen Beziehungen sehnen wir uns nach der Leidenschaft eines Rumi.

¬ EROS IM KOLLEKTIVEN OFFENBART DIE INTELLIGENZ UND KREATIVITÄT DER LEBENSKRAFT. ¬

Das Heilige wurde also auf individueller, persönlicher Ebene als ein Seelenverwandter gefunden. Aber während die Kultur zahllose Industriezweige und Millionen von Produkten zur Unterstützung romantischer Beziehungen hervorbrachte, hat das Streben nach dem Heiligen durch romantische Paarung der Gesellschaft insgesamt keinen heiligen Boden bereitet. Überdies tragen die Beziehungspartner die Last, für den jeweils anderen die Quelle von Sinn und Bedeutung zu sein. Unter diesem Gewicht und vielen anderen einwirkenden Kräften bricht die Geschichte der romantischen Liebe in sich zusammen – und während sie kollabiert, kommt ein neuer Boden für das Heilige in die Wahrnehmung.

Im Kessel der Erotik

Es liegt auf der Hand, dass das klassische romantische Duo – die im christlichen Abendland erzählte Geschichte vom Männlichen und Weiblichen – den Frauen die sexuelle Handlungsfähigkeit absprach. Dass Frauen weniger sexuelles Begehren in sich tragen, war ein Teil des Mythos, der das Ideal des Männlichen und Weilblichen als Gegensätze schuf. Aber die Macht der erotischen Liebe lässt sich nicht lange aufhalten. So förderte die Unterdrückung der weiblichen Sexualität bereits im 19. Jahrhundert sowohl die Freie-Liebe-Bewegung als auch das psychosomatische Symptom der »Hysterie«. Und wenn wir die Zeit bis in die 1960er-Jahre und weiter bis heute vorspulen, zeigt sich: Die Emanzipation der Frau ist untrennbar mit der sexuellen Befreiung verbunden, die die keuschen Vorhänge im viktorianischen Ehe-Schlafzimmer herunterriss. Sexualität und sexuelle Experimente, die Überwindung von Geschlechternormen und des binären Geschlechterverhältnisses, serielle Monogamie und Polyamorie haben Konjunktur. Die sexuelle Erfüllung – sie zu wollen und sie zu erhalten – wird schon fast als Menschenrecht angesehen. Natürlich hat sich der Kapitalismus diesen Energieschub zunutze gemacht und sendet Hardcore-Pornografie auf die Smartphones unserer Kinder.

Dies ist eine Zeit des Chaos, ein brodelnder Kessel der Begierden, deren Ausdrucksformen von entsetzlich missbräuchlichen und perversen Auswüchsen bis hin zu vielfältigen Formen von heiligem Sex, Tantra und dem Anspruch der neuen Macht des Weiblichen reichen. Manche würden sogar sagen, dass dieser chaotische und wirre Aufbruch, diese Aufdeckung das Weibliche an sich ist. Jetzt kommt es ans Licht: Immer mehr Frauen beanspruchen das verkörperte Wissen, dass Erotik eine Kraft ist, die über die sexuelle Macht – die Kunst der Anziehung, der Verführung und der Beeinflussung – hinausgeht, die bisher das akzeptierte Terrain der Frauen war. Trotz der verzweifelten Versuche, die Katze wieder in den Sack zu stecken, lässt sich die Erkenntnis, dass Erotik die Lebenskraft an sich ist, der Impuls, der die Schöpfung antreibt und der unsere Körper durchströmt, nicht mehr zurückhalten. Das vollstimmige Lied des Eros als eine Feier verschiedener Formen von Sexualität und erotischen Erfahrungen ist der chaotische Beginn eines neuen heiligen Potenzials in subtileren Dimensionen des Lebensimpulses.

Dimensionen von Eros

Die Eros-Erfahrung der Menschen beginnt mit der Triebkraft der Zeugung, die aus zwei eins werden lässt. Aber wir verfügen auch über die Fähigkeit, Eros als Schöpfungskraft zu erleben und auszudrücken – als unsere eigene, individuelle Kreativität. Durch diese Wirkkraft der Schöpfung entsteht in unseren kreativsten Momenten ein Flow, ein Einswerden mit dem, was wir aus unserem gelebten Leben heraus gebären. Obwohl der Mensch von Natur aus eine kreative Spezies ist, hat es Jahrtausende gedauert, bis die Energie der individuellen Kreativität als Ausdruck von Eros zur Entfaltung kam. Jeder, der sich diesem schöpferischen Impuls wirklich hingibt, weiß, dass er von etwas Heiligem berührt wird, das weit größer ist als er selbst. Man wird in die Knie gezwungen.

Aber Eros hört dort nicht auf. Es gibt eine subtile Dimension des Eros, die gerade erst zwischen uns entsteht. Dieser Eros ruft uns zusammen, nicht in einer sexuellen oder kreativen Vereinigung, sondern in die Verbindung individueller Menschen mit Geist, Herz und Seele in einer ganzheitlichen, intelligenten Lebensform. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft, die sich in Impulsen zu Co-Living und Co-Working zeigt, und neue Dialog- und Kommunikationspraktiken sind Zeichen dafür, dass uns Eros gemeinsam bewegt. Das geht weit über die Sexualität hinaus.

Eros drückt die Intelligenz der Schöpfung durch verschiedene Dimensionen aus: auf der körperlichen Ebene als den sexuellen (oder erotischen) Impuls, im Geist als den kreativen Impuls und jetzt im Kollektiven als den Impuls zur co-bewussten Schöpfung. Die Essenz von Eros als Phänomen durchzieht alle drei Ausdrucksformen: ein Gefühl der Dringlichkeit, dass jetzt etwas geschehen muss, eine tiefe Sehnsucht nach Einheit, die Hingabe an etwas, das größer ist als wir selbst, und Kreativität – egal ob es in der Schaffung eines neuen menschlichen Lebens, eines Gedichtes, einer Einsicht oder der synergetischen Verbindung verschiedener Perspektiven im Dialog Ausdruck findet.

Eros im Kollektiven offenbart die Intelligenz und Kreativität der Lebenskraft – ein Impuls, der tief in das Gewebe der Wirklichkeit eingewoben ist und von dem wir verkörperten Menschen notwendigerweise ein Teil sind. Indem wir diese lebendige Präsenz, die uns verbindet, kollektiv spüren, leitet und führt uns dieser Eros zu einer tiefen Kohärenz jenseits der Trennung und zu einer geteilten synergetischen Intelligenz jenseits des individuellen Geistes. Eros weckt uns schockartig aus unserem modernen Albtraum der Trennung auf und offenbart uns die Erkenntnis, dass etwas unvorstellbar Heiliges im Raum zwischen uns immer lebendig anwesend ist.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
Share this article: