Ethik ist wichtiger als Religion

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Essay
Published On:

October 26, 2015

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Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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Die Botschaft des Dalai Lama in einer Welt voller Krisen

Über die Person braucht man nicht viel zu schreiben. Jeder kennt ihn, jeder mag ihn, jeder bewundert ihn und fühlt auch mit ihm, aufgrund der Kolonialisierung Tibets durch China und seines strikt gewaltlosen Widerstandes dagegen. Was soll man über sein Werk sagen? Jeder hat sein lachendes, liebevolles Gesicht vor Augen, hat seine Botschaften von Liebe und Toleranz, Frieden unter den Menschen und Frieden mit der Natur im Ohr. Auch wenn man nie ein Buch von ihm gelesen hat. Nun wurde zum 80. Geburtstag des Dalai Lama dieses schmale Bändchen veröffentlicht, im Wesentlichen ein Interview mit dem Journalisten Franz Alt.

Auch hier geht es wieder über weite Strecken um Weltfrieden und Bewahrung unserer Erde. Die Idee der Friedfertigkeit prägt das Buch aber auch noch auf ganz andere Weise. Gerade die allgegenwärtige Gewalt im Namen Gottes bringt den Dalai Lama – immerhin selbst Oberhaupt des tibetischen Buddhismus – zu einer recht radikalen These: »Ethik ist wichtiger als Religion.« Wie meint er das? »Ich spreche von einer säkularen Ethik, die auch für über eine Milliarde Atheisten und für zunehmend mehr Agnostiker hilfreich und brauchbar ist. Wesentlicher als Religion ist unsere elementare menschliche Spiritualität. … Nach meiner Überzeugung können Menschen zwar ohne Religion auskommen, aber nicht ohne innere Werte, ohne Ethik.«

Mit »Ethik« bezeichnen wir im Westen normalerweise systematisch durchdachte moralische Regeln, die wir sehr klar von moralischen Befindlichkeiten trennen. Für den Dalai Lama dagegen gehört das unbedingt zusammen, Grundlage jeder Moral sind soziale Gefühle und Antriebe, die tief in uns als Lebewesen verwurzelt sind. Allerdings ist Ethik für ihn auch eine innere Reifung, und zwar praktisch, emotional und intellektuell: »eine Schulung des Herzens, viel Geduld und ausdauerndes Bemühen« und »mehr zuhören, mehr meditieren, mehr nachdenken«.

Wieso aber Moral als Glück und nicht als zeitloses Gesetz, als menschliche Aufgabe oder als tieferer Sinn? Weil für den Dalai Lama gerade das, was Freude und Gesundheit bringt, auch das moralisch Sinnvolle, Richtige, Gebotene ist. So sagt er: »Es gibt zwei Sichtweisen auf die menschliche Natur. Die eine meint, der Mensch sei von Natur aus gewalttätig, rücksichtslos und aggressiv. Die andere glaubt, wir neigen von Natur aus zu Güte, Harmonie und einem friedlichen Leben. Diese zweite Sichtweise entspricht meiner eigenen.«

¬ ETHIK IST FÜR DEN DALAI LAMA EINE INNERE REIFUNG – PRAKTISCH, EMOTIONAL UND INTELLEKTUELL. ¬

Mir drängt sich hier die Frage auf: Gibt es diesen Gegensatz überhaupt, ist der Mensch entweder gut oder böse, glücklich oder unglücklich? Das erinnert mich an die ewige Debatte, ob Kinder von Natur aus lieb oder streitsüchtig, froh oder unzufrieden sind. Diese »Gegensätze« schließen sich in meinen Augen eben nicht aus, sondern ergänzen sich: das Eine gibt es nicht ohne das Andere, Licht und Schatten gehören zusammen, in je verschiedenen »Grautönen«.

Immer, wenn ich etwas vom Dalai Lama lese, freue ich mich über das hohe geistige Niveau. Aber vor allem geht es mir um das, was von seiner Persönlichkeit und Haltung ausstrahlt, denn das begeistert und macht Mut. Revolutionär neue Erkenntnisse erwarte ich mir nicht, zumal ich einige seiner buddhistischen Anschauungen nicht teile. Auch vielen Agnostikern und Atheisten wird das so gehen. Der Dalai Lama sagt zum Beispiel, »dass uns die Wissenschaft heute lehrt, dass wahres Glück nicht nur möglich ist, sondern auch unser Recht von Geburt an.« Eine echt säkulare Ethik kann aber nur mit der Achtung und Fürsorge durch andere (und einen selbst) begründet werden, und diese kann unser Glück weder zuverlässig bewirken, noch ist sie garantiert. Zudem lehrt die Wissenschaft auch, wie viel in unserem kurzen Leben in diesem Körper und auf diesem Planeten unserem Glück im Weg steht.

In der Ethik des Dalai Lama wird daher nicht jeder den Ansatz zu einer »weltlichen« Ethik erkennen können. Für eine moderne religionen-übergreifende Spiritualität setzt er aber auf jeden Fall Maßstäbe.

Author:
Oliver Griebel
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