Etwas tun

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Interview
Published On:

January 16, 2017

Featuring:
Lucia Heisterkamp
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Issue:
Ausgabe 13 / 2017:
|
January 2017
Liebe in Zeiten von Trump
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Engagement als Weg aus der Ohnmacht

Wer einmal von dem Leid eritreischer Flüchtlinge gehört hat, die auf ihrem Weg verschleppt und gefoltert werden, um zu Lösegeldzahlungen erpresst zu werden, kann diese Schrecken kaum vergessen. So ging es auch Lucia Heisterkamp. Ein Dokumentarfilm über das Schicksal der Eritreer wurde für die Studentin zum Anlass, sich zu engagieren. Wir sprachen mit ihr über ihr Engagement, ihre Beweggründe und den Aktivismus ihrer Generation.

evolve: Du engagierst dich für Flüchtlinge aus Eritrea, die in den Jahren vor 2015 auf ihrer Flucht Opfer von Menschenhändlern und Folter im Sudan und Ägypten wurden und die heute in Israel leben. Was hat dich dazu veranlasst?

Lucia Heisterkamp: Ich bin mit einem sehr positiven Weltbild aufgewachsen, mit dem Gefühl: Klar, es gibt schlimme Sachen, aber grundsätzlich ist die Welt gut. Durch mein Bachelor-Studium in der Sozial- und Kultur­anthropologie habe ich dann angefangen, mich viel mit schweren Menschenrechtsverletzungen z. B. in Bürgerkriegen zu befassen. Auch durch persönliche Erfahrungen vom Scheitern zwischenmenschlicher Beziehungen habe ich irgendwann begonnen, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum es so viel Leid auf der Welt gibt. Eines der Schlüsselerlebnisse war für mich ein Dokumentarfilm über das Schicksal eritreischer Flüchtlinge, die im Sinai verschleppt und gefoltert werden. Das hat mich unglaublich erschüttert. Als ich im Rahmen meines Studiums weiter zu dem Fall recherchiert habe, bemerkte ich, dass das Thema relativ unbekannt ist. Ich habe deshalb selbst angefangen zu forschen und habe Kontakte geknüpft, bin nach Israel gefahren, habe dort NGOs interviewt und auch Opfer der Foltercamps und des Menschenhandels getroffen. In Frankfurt engagiere ich mich mittlerweile in einem Verein, der sich für eine Verbesserung der Situation der Eritreer einsetzt.

e: Du hast dich also Schritt für Schritt tiefer in das Thema – theoretisch und in der Praxis – hineinbegeben und dich mit diesem Leiden auseinandergesetzt.

LH: Mich hat sehr überrascht, dass es mir viel schwerer fiel, die Berichte über das zu lesen, was diesen Menschen passiert ist, als ihnen dann tatsächlich zu begegnen. Denn die Begegnungen mit den Menschen waren nicht nur bedrückend, sondern oft auch positiv und schön. Das war eine erstaunliche Erkenntnis für mich: dass Menschen entsetzliche Dinge erleben können, die ganz jenseits unserer Vorstellung liegen, und sie trotzdem in der Lage sind, danach wieder so etwas wie »Alltag« zu leben und sich über kleine und alltägliche Dinge zu freuen.

e: Man könnte sich angesichts des ganzen Leids ja auch ohnmächtig und überwältigt fühlen. Du hast dich entschieden, dich für eine konkrete Situation, die dir begegnet ist, zu engagieren. Hat dein positives Erleben damit zu tun, dass du aktiv geworden bist, als du von den Geschehnissen erfahren hast?

LH: Ich denke, es entspricht im Grunde dem menschlichen Wesen, Ungerechtigkeit nicht hinzunehmen, sondern etwas dagegen zu tun, auch wenn wir dieses Bedürfnis im Alltag oft verdrängen. Natürlich kann man nicht gegen alles kämpfen, man muss sich für eine Sache entscheiden, auch wenn es etwas Kleines ist, wie zum Beispiel einem konkreten Menschen zu helfen. Und natürlich kann so ein Engagement zwischendurch auch sehr deprimierend sein – wenn man merkt, dass man gegen große Strukturen ankämpft und dass man als Einzelner sehr wenig verändern kann.

Durch mein Engagement habe ich aber auch erfahren, dass gerade dort, wo das Leid besonders groß ist, gleichzeitig schöne Dinge passieren können, wie Solidarität oder Zusammenhalt. Menschen haben die Kraft, trotz der schlimmsten Situationen wieder Lebensmut zu schöpfen und Verantwortung für andere zu übernehmen. Diese Erfahrung schafft ein Gegengewicht zu dem Erleben, dass es so viel Leid gibt. Auch als ich vor Kurzem auf Lesbos zwei Wochen in einem Camp mit Flüchtlingen gearbeitet habe, konnte ich diese Erfahrung machen: Trotz der deprimierenden Situation, der Willkür und der Ungerechtigkeit, der die Menschen ausgeliefert sind, war es auf eine Weise bestärkend, dort gemeinsam mit den Geflüchteten etwas aufzubauen, sich auszutauschen und Solidarität zu praktizieren.

e: Hast du den Eindruck, dass es in deiner Generation viele Menschen gibt, die ähnliche Erfahrungen machen wie du und die das Bedürfnis haben, sich zu engagieren?

LH: Durch die Medien wird man ja jeden Tag mit den globalen Konflikten konfrontiert. Themen wie Kriege, Umweltzerstörung, Ausbeutung in den Ländern des globalen Südens sind fast allgegenwärtig. Wenn ich mein persönliches Umfeld betrachte, habe ich den Eindruck, dass wir uns schon relativ stark mit globalen Themen und der Ungerechtigkeit in der Welt beschäftigen. Wir versuchen, einen Umgang damit zu finden, dass wir im Westen im Vergleich zu vielen anderen Ländern eine privilegierte Stellung haben. Hier agieren eher linke und akademische Kreise, die nicht unbedingt repräsentativ sind. Aber ich denke schon, dass sich Menschen in meinem Alter auch insgesamt stärker damit beschäftigen, was in der Welt geschieht – durch die Globalisierung und mediale Berichterstattung passiert das fast zwangsläufig.

e: Deine Generation ist mit der Globalisierung und dem Internet aufgewachsen. Wie verändert es das Bewusstsein, wenn man diese Möglichkeiten schon so früh zur Verfügung hat?

LH: Ich denke, dass das Bewusstsein für Komplexität zugenommen hat. Es wird immer schwieriger, bei internationalen Konflikten nur schwarz-weiß zu denken, wie noch zur Zeit des Kalten Krieges. Die Interessen von verschiedenen Akteuren – Regierungen, Unternehmen, bewaffneten Gruppen oder auch sozialen Bewegungen – und ihre Zusammenhänge untereinander sind meistens vielschichtig. Meine Generation wächst mit einem Grundgefühl für die Komplexität auf. Es gibt selten einfache Antworten auf globale Fragen und wir stehen vor der He­rausforderung, damit umzugehen. Einfache Feindbilder funktionieren immer weniger und Fragen von Schuld sind heute anders zu beantworten als vor 30 oder 40 Jahren.

Durch Reisen und die Kontakte, die sich daraus ergeben und mit denen man dann über das Internet, z. B. über Facebook oder über Apps in aller Welt verbunden ist, entwickelt sich auch ein anderes Verständnis von Raum und Zeit. Daraus entstehen ganz neue Ausgangspunkte zum Nachdenken über grundsätzliche Fragen, zum Beispiel darüber, wie Raum geordnet wird. Muss es das nationalstaatliche Prinzip als räumliches Ordnungsprinzip weiterhin geben? Die Erfahrungen der globalen Vernetzung zeigen, dass es vielleicht andere Möglichkeiten gibt. Das Identitätsgefühl meiner Generation ist nicht mehr nur durch nationale Grenzen bestimmt, es ist viel globaler.

e: Du wirst jetzt nach Jerusalem gehen. Was sind dort deine nächsten Pläne? Wirst du dich weiter im Projekt mit den Eritreern engagieren?

LH: Israel interessiert mich als Land aufgrund seiner geschichtlichen Vergangenheit und der kulturellen Vielfalt. Und ich studiere Friedens- und Konfliktforschung, da habe ich natürlich ein großes Interesse am Nahost-Konflikt, der mit so vielen anderen Konflikten verknüpft ist. Es gibt wohl nicht viele Orte, an denen man das Weltgeschehen besser studieren kann als in Israel.

Den Kontakt zu den eritreischen Flüchtlingen in Israel möchte ich auf jeden Fall aufrechterhalten. Ich werde das Projekt weiter begleiten, entweder aktiv durch meine Arbeit im Verein oder im Rahmen meines Master-Studiums. Es sind Freundschaften und Bindungen entstanden, die mir wichtig sind, und vor allem ist es mir ein großes Anliegen, dafür zu kämpfen, dass die Überlebenden von Verbrechen wie die auf dem Sinai nicht einfach vergessen werden.

Author:
evolve
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