Europäisch, Digital, Kollaborativ

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

July 12, 2021

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Ausgabe 31 / 2021:
|
July 2021
Wir alle leben in Mythen
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Warum wir transformative Parteien brauchen

Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen rufen danach, die politische Kultur neu zu gestalten. Der Politik- und Organisationsberater Hanno Burmester beschreibt die Vision einer transformativen Partei, die in ihren Strukturen, Prozessen und Werten ganz neue Akzente setzt.

Die Ära Merkel endet – und mit ihr eine Dekade, geprägt von emsiger Geschäftigkeit und feister Selbstzufriedenheit. Mit der Corona-Krise und dem Abgang der ewigen Kanzlerin wächst das Bewusstsein dafür, in welchem Ausmaß Deutschlands Politik und Verwaltung strukturelle Versäumnisse haben auflaufen lassen.

Inzwischen rufen sogar diejenigen nach Strukturreformen, die bislang mit aller Macht den Status quo stabilisiert und schöngeredet haben. Schlecht nur, dass diejenigen, die für diese Reformen zuständig sind, selbst durch hartnäckige Reformresistenz beeindrucken: die politischen Parteien. An vielen Stellen wirken sie wie ein Spiegelbild unseres stehengebliebenen Staatswesens.

Tatsächlich sind Struktur, Arbeitsweise und Kultur politischer Parteien dem Jahr 1990 oft näher als dem Jahr 2025. Beispiele dafür finden sich schnell: Gesellschaftlich fordern uns welt- und europaweite Megathemen. Gleichzeitig bleibt es in Parteien bei der Grundeinstellung: wer beitritt, ist Mitglied der Partei-Gliederung am Wohnort. Die Faustregel »Ohne kommunale Präsenz kein politischer Aufstieg« ist weiterhin gültig. Und das in einer Zeit, wo Millionen Menschen vom Home-Office aus in virtuellen und internationalen Umfeldern arbeiten.

Personal- und Satzungsfragen werden – befördert durch einen veralteten Rechtsrahmen – auch im Jahr 2021 analog entschieden. Dabei wäre die häufige direktdemokratische Mitwirkung und Mitentscheidung der Mitglieder technisch problemlos machbar. ­Die Corona-Krise hat die Parteien – endlich! – gezwungen, ihre Formate zu digitalisieren. Gut so, aber nicht genug. Denn meist wurden einfach die bisherigen Formate ins Virtuelle übersetzt. Zeitgemäß sind sie damit noch lange nicht. Die veraltete Arbeits- und Organisationsweise politischer Parteien ist einer der Haupttreiber für ihre Unfähigkeit, wirksame Antworten auf die Themen unserer Zeit zu finden. Die Verkrustung der Parteien befördert die Verkrustung dieses Landes.

In unserem Buch »Liebeserklärung an eine Partei, die es nicht gibt« skizzieren Clemens Holtmann und ich, wie eine solche Partei aussehen kann. Wir beschreiben eine Partei, die antritt, um Grundlegendes zu gestalten und langfristige Antworten zu finden auf die großen Herausforderungen unserer Zeit. Dafür braucht es eine Zukunftsvision und den Mut zur klaren strategisch-programmatischen Verortung – etwas, das heute insbesondere den Volksparteien fehlt.

DIE TRANSFORMATIVE PARTEI PFLEGT EIN DEMOKRATIEVERSTÄNDNIS, DAS DAS VERHÄLTNIS VON BASIS UND PARTEIFÜHRUNG AUF NEUE BEINE STELLT.

Genauso wichtig wie das Strategisch-Programmatische ist eine zukunftsfähige Organisations- und Arbeitsweise. Wir schlagen eine Partei vor, die mit Blick auf Selbstverständnis wie Organisation wirklich europäisch ist, hochgradig kollaborativ und selbstverständlich digital.

Unser Wunsch: Erster Bezugspunkt ist Europa, nicht die Kommune oder Nation. Mitglied wird man in der europäischen Partei, nicht im Ortsverein. Engagierte wählen frei, wo, wie und in welcher Rolle sie mitarbeiten. Wer eintritt, hat die Wahl: Will ich deutsche Bundespolitik, europäische Verkehrspolitik oder Kasseler Stadtpolitik machen? Will ich als Mitglied, Expertin oder punktuelle Unterstützerin dabei sein?

Dazu gilt das Prinzip: Das Virtuelle ist das Normale. Weil es die inhaltliche Zusammenarbeit vom Ort entkoppelt und einen stärkeren Fokus auf den Zweck der Arbeit und ihren Inhalt befördert. So treten Ergebnis und Wirksamkeit der Zusammenarbeit in den Vordergrund, statt dass Parteiengagement – wie heute meist der Fall – vor allem die Pflege informeller Netzwerke bedeutet.

Die transformative Partei bricht mit der Funktionärskultur der klassischen Parteien. Ihre Hauptamtlichen verstehen sich als Dienstleister der aktiven Ehrenamtlichen. Organizer setzen alles daran, den Engagierten wirksame Arbeit zu ermöglichen. Egal ob für Mitglieder, Unterstützerinnen oder Fachexperten: Sie sind das Drehkreuz für alle, die sich im Sinne der Partei politisch engagieren wollen.

Dazu gibt es ausgebildete Prozessbegleiter. Sie unterstützen dabei, Haltungen und Arbeitsweisen zu kultivieren, die eine zwischenmenschlich wie inhaltlich ertragreiche Zusammenarbeit ermöglichen. Sie sorgen für zeitgemäß gestaltete Entscheidungs- und Diskussionsprozesse, die besten Arbeitsmethoden und -werkzeuge: von der passenden Software für direktdemokratische Abstimmungen über Methoden für gute Meetings bis hin zur Auswahl relevanter Qualifikationen und Fortbildungen für Haupt- und Ehrenamtliche.

Die transformative Partei pflegt zudem ein Demokratieverständnis, das das Verhältnis von Basis und Parteiführung auf neue Beine stellt. Grundsatzentscheidungen treffen die Mitglieder direktdemokratisch. Die Parteiführung lässt sich in ihrer Arbeit mit Hilfe konsultativer Elemente unterstützen. Gleichzeitig ehrt die transformative Partei das repräsentative Mandat, wenn es um Steuern und Entscheiden im politischen Alltag geht.

Struktur, Prozess, Technologie – alles wichtig. Das alles funktioniert aber nur dann, wenn das Fundament trägt: das gute menschliche Miteinander. Die transformative Partei erkennt den Zusammenhang zwischen politischer Wirksamkeit und gutem zwischenmenschlichem Umgang. Für sie gilt: gemeinsam statt gegeneinander. Engagement für politische Wirksamkeit statt zum sozialen Selbstzweck.

Wie aber schafft man eine Parteikultur, in der Menschen nicht nur gerne aktiv dabei sind und ihre Lebenszeit verbringen – sondern dauerhaft einen kreativen Beitrag leisten, der zu neuen politischen Lösungsansätzen führt? Ein gutes Miteinander ist nichts, was auf Knopfdruck entsteht. Kultur wird laufend geschaffen, durch Verhalten im Alltag. Umso wichtiger, dass alle Parteiaktiven bewusst darauf achten, nach innen das zu leben, was man als Partei nach außen vertritt. Dafür braucht es ein Bewusstsein, das sagt: Wir müssen im Kleinen das schaffen, was wir im Großen fordern, um dauerhaft glaubwürdig und wirksam zu sein.

Ein Schlüssel für gute Parteikultur kann der Bezug auf gemeinsame Werte sein. Sie beschreiben das, was im zwischenmenschlichen Umgang innerhalb der Partei besonders handlungsleitend sein soll. Damit Werte keine Worthülsen bleiben, braucht es ihre Übersetzung in Verhalten, Prozesse und Strukturen. Eine Partei, die »Partizipation« als leitenden Wert hat, braucht andere Strukturen und Prozesse als eine, die »Schnelligkeit« als Wert benennt. Denn wer wirklich schnell sein will, muss Strukturen und Abläufe bauen, die auf diesen Wert einzahlen. Wer hingegen »Partizipation« als Wert hochhält, braucht Strukturen und Abläufe, die vor allem die gute Einbindung der Mitglieder sicherstellen.

Ist die Partei, die wir anzeichnen, utopisch? Nein. Das meiste von dem, was wir in unserem Buch vorschlagen, könnten politische Parteien ab sofort realisieren. Guter zwischenmenschlicher Umgang, zeitgemäße Meeting-Abläufe, virtuelle Kollaboration unabhängig vom Wohnort, direktdemokratische Abstimmungen mithilfe digitaler Werkzeuge, professionelles Organizing, gezielte Personalentwicklung … all das geht, wenn man nur will.

An anderen Stellen braucht es ein neues Parteiengesetz. Hier sind Anpassungen überfällig. Wieso müssen virtuelle Wahlen und Abstimmungen zu Satzungsfragen heute nachträglich noch einmal per Briefwahl bestätigt werden? Wieso ist es weiterhin nicht möglich, Parteimitglied in einer virtuellen Gliederung zu sein? Hier sorgen Bundestag und Regierungskoalition seit Jahren sehenden Auges für eine immer größere Kluft zwischen Bedarf und Wirklichkeit – ein beschämendes Versäumnis in einer Zeit, in der das Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen ohnehin immer weiter zunimmt.

Author:
Hanno Burmester
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