Europas Schatten, Europas Essenz

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

October 26, 2015

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Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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Fragen an einen Kontinent

Griechenlandkrise, Flüchtlingsströme, erstarkender Nationalismus – Europa steht vor großen Herausforderungen. Wie können wir darauf antworten und welche Rolle könnte Deutschland dabei spielen?

Im Umgang mit Griechenland scheiden sich die Geister – die Volksgeister, wenn man solche für möglich hält. Fakt scheint jedenfalls zu sein, dass wir uns in Europa auf den Weg gemacht haben, von national geprägten Loyalitäten und Narrativen zu einem nächstgrößeren und umfassenderen Identitätsfeld. Wie bei evolutionären Übergängen nicht anders zu erwarten, zeigt sich dieser Aufbruch von Umwegen und teilweisen Rückschritten begleitet. Das Ziel ist hochgesteckt. Es geht zum ersten Mal nicht mehr um ein durch Krieg oder Feudalherrschaft geschaffenes, europäisches Vielvölkerimperium, sondern um eine selbstbestimmte, kontinentale Schicksalsgemeinschaft. Als solche jedenfalls bezeichnet die deutsche Regierungschefin, historisch die erste Frau an Deutschlands Spitze, die entstehenden Strukturen der EU.

Ohne es zu beabsichtigen, übernimmt Angela Merkel damit eine Art integrale Sichtweise. Diese ist geeignet, nach langer Stagnation eine – dringend erforderliche – Neudefinition des Nationalen und nationaler Identität zu ermöglichen. In der Evolution des Bewusstseins sehen sich Nationen in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Entwicklung nicht länger durch unveränderbare ethnische, kulturelle und geografische Grenzziehungen und Mythen bestimmt. Ihre Angehörigen entdecken stattdessen auf einer tieferen Ebene den Charakter ihrer jeweiligen Landeskultur als spezifisches und zugleich sich entwickelndes Lern- und Erfahrungsfeld. Nationenbildung offenbart sich zunächst als Aufgabe, über ­enge Stammesbindungen hinauszuwachsen. Das geschieht durch den erklärten Willen, Minderheiten und »Stammesfremde« – aktuell zum Beispiel Flüchtlinge aus anderen Weltteilen – in der durch selbstbestimmte Werte und historisch errungene Erfahrungen definierten Gesellschaft zu akzeptieren und zu integrieren. Überlieferte Mythen und gemeinsame genetische Abstammung treten dabei in den Hintergrund. Nur wenn das gelingt, und die EU-Gründung kann als Beleg dafür dienen, dass dies zumindest in Teilen Europas der Fall ist, können sich nationale Felder weiterentwickeln. Länder werden reif genug, sich unter Wahrung ihrer einzigartigen Werte und ihrer kulturell gewachsenen Essenz zu übergreifenden Unionen zu vereinen.

Ein erstmals die ganze Welt als Heimat wahrnehmendes Bewusstsein entwickelt eine unverwechselbar eigene Qualität, man könnte sagen: ein seelisches Profil. Als eine der Zwischenstufen dahin bildet sich eine europäische Identität mit fast 40 nationalen Wurzeln und zugleich einer – in diesem gesicherten Rahmen wieder »lebbaren« – Vielzahl von regionalen Ausdrucksformen. Vereinigte Staaten in konföderaler Version, jedoch mit kulturell weitaus autonomeren Mitgliedern als im US-Modell.

¬ ES SIND DIE BÜRGERINNEN UND BÜRGER, DIE DIE INITIALZÜNDUNG ZUR ENTWICKLUNG »IHRES« LANDES UND DAMIT DER EUROPÄISCHEN UNION AUSLÖSEN MÜSSEN UND KÖNNEN. ¬

Diese Vision erfordert – wie jede andere – aktives Bemühen, denn individuelle Essenz wirft auch charakteristische Schatten. Unabdingbarer Teil einer kollektiven Ko-­Evolution des Bewusstseins ist deshalb die Arbeit an den im Laufe der Geschichte entstandenen Wunden und Fehlentwicklungen, dem nationalen Ego. Jedes Land hat seine »Leichen im Keller«, manches mehr, manches weniger. Es geht darum, historisches und gegenwärtiges Unrecht anzuerkennen und Verantwortung zu übernehmen, beispielsweise für vergangene Massaker und vernachlässigte Minderheiten.

Der Weg dahin ist bereits erkennbar. Der US-Ökonom und Soziologe Jeremy Rifkin beschreibt in seinem Buch »Der europäische Traum«, wie sich der bisherige Einigungsprozess und die gemeinsamen Werte und Hilfeleistungen heilend und fördernd nicht nur auf die Ökonomie, sondern auch auf die kollektiv-seelische Verfassung der EU-Mitglieder ausgewirkt haben. Deutschland fand zurück in die zivilisierte Staatengemeinschaft. Portugal, Spanien und Griechenland konnten mit moralischer EU-Solidarität die tiefen Spuren ihrer Diktaturen bewältigen. Die ehemaligen Ostblockländer ließen den Sozialismus hinter sich. Viele Mitgliedskandidaten erhofften sich wohl vordergründig mehr Wohlstand und Sicherheit, tatsächlich jedoch bedeutete die Antragstellung dank der geforderten Werteangleichung zugleich aktive Schattenarbeit im Hinblick auf Korruption, Minderheitenschutz, Emanzipation und Vergangenheitsbewältigung. Es wurde bisher noch zu wenig benannt, in welchem Ausmaß reformerische Anpassungen auch transformatorische Entwicklungen mit sich brachten. Die EU wurde und wird so zu einer Art ko-evolutionärer Entwicklungsinstanz, ablesbar auch an ihrer ebenfalls noch wenig bekannten und dennoch weltweit beispielsetzenden Grundwerte-Charta.

Und wo stehen wir heute? Griechenlands finanzieller Ruin ist nur eine der gegenwärtigen Europa-Baustellen. Eine weitere liegt im Erstarken historisch überholter ethno- und kulturnationaler Bewegungen in einer Reihe von Ländern, darunter zentrale EU-Mitglieder wie Großbritannien und Frankreich. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, eine gemeinsame Haltung Europas zu der drängenden Flüchtlings- und Immigrantenfrage zu entwickeln. Eine nachhaltige Antwort lässt sich wohl nur im beschriebenen neuen Selbstverständnis der Nationen finden. Heute ist es realistischer, Nationalkulturen als spezifische und zugleich flexible Erfahrungs- und Wertegemeinschaften zu betrachten, an deren Schicksal, hier im Sinne einer kollektiv-seelischen Entwicklung verstanden, jeder und jede an diesem spezifischen Feld Interessierte, unabhängig der eigenen Wurzeln teilhaben kann. Auch bei vielen der heutigen Flüchtlinge und Migranten kann man davon ausgehen, dass sie nicht allein Überlebensgründen folgen, sondern zugleich – oft verborgenen – seelischen Entwicklungsimpulsen. In dem Sinne können Syrer, Eritreer und Afghanen ebenso etwa in das deutsche Erfahrungsfeld hineinwachsen und es weiterentwickeln, wie das vor ihnen im Laufe der Geschichte unzählige Polen, Türken und viele andere Einwanderer zur wechselseitigen Bereicherung getan haben.

Doch für diese Integrationsprozesse braucht es in den Ländern wache Bürger, die das neue nationale Selbstverständnis fördern. Das erforderliche seelische Wachstum geht vom Einzelnen aus. Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die die Initialzündung zur Entwicklung »ihres« Landes und damit der Europäischen Union auslösen müssen und können. Sie sind geprägt vom essenziellen Feld ihrer Nation, und gleichsam als homöopathische Information überträgt sich ihre transformatorische Arbeit auf das gesamte System. Eine Ko-Evolution, die weit mehr ist als nur eine persönliche Entwicklung.

»Die da oben« bestimmen vielleicht immer noch viele der äußeren Strukturen. Aber »wir in uns« lernen zunehmend, auf diese Strukturen und auf das größere Feld Einfluss zu nehmen und sie entscheidend mitzugestalten.

Author:
Wolfgang Aurose
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