Evolution in Organisationen

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Published On:

January 21, 2016

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Ausgabe 09 / 2016:
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January 2016
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Eine Besprechung des Buches »Holacracy: Ein revolutionäres Management-System für eine volatile Welt« von Brian Robertson

Wie kann aus einem Unternehmen ein lebendiges System werden? Ein evolutionärer Organismus, der einem Sinn folgt, sich anpassen und weiterentwickeln kann? Diese Fragen trieben Brian ­Robertson an, als er, inspiriert von vielen Quellen, in einem langjährigen »Versuch und Irrtum«-Prozess im eigenen Unternehmen eine neue Management-Praxis entwickelte. In seinem Buch ­»Holacracy«, das nun im Februar auf deutsch erscheint, vermittelt er seine so gewonnenen Erkenntnisse und zeigt, wie Organisationen ihre Strukturen und Prozesse konstruktiv verändern können.

Viele Bücher beschäftigen sich mit der Herausforderung, dass unsere Organisationen der Komplexität des Marktes, der technischen Entwicklung, der Informationsflut nicht mehr gewachsen sind, und es gibt unzählige Ansätze, die Paradigmenwechsel versprechen. Laut Robertson scheitern viele dieser Ansätze, weil sie die Systeme, in denen sie angewendet werden, nicht infrage stellen – Systeme, die auf Mustern und Strukturen beruhen, die »im frühen 19. Jahrhundert entwickelt wurden und sich seitdem nicht viel verändert haben«.

Robertson bezeichnet Holakratie als ein grundlegendes Update für das Betriebssystem einer Organisation. Führung und Entscheidungsmacht sind nicht mehr an der Spitze einer Management-­Hierarchie konzentriert, sondern auf alle Organisationsmitglieder verteilt. Innerhalb autonomer Rollen mit klaren Verantwortlichkeiten werden Entscheidungen dort getroffen, wo sie anfallen. Grundlage aller Entscheidungen ist der Zweck oder Sinn der Organisation. Dadurch entwickelt sich die Organisation in einem Evolutionsprozess selbstgesteuert weiter und gibt sich jeweils die natürliche, für den Sinn der Organisation erforderliche Struktur. Holakratie integriert damit legitimierte autokratische Autorität und Stabilität aus traditionellen, Effizienz und Wettbewerb aus modernen sowie Gruppenintelligenz und Partizipation aus postmodernen Ansätzen.

Nach Schätzungen von Robertson gibt es inzwischen über 300 holakratische Organisationen. Viel Wirbel in der Fachpresse hat die Einführung bei Zappos, einem amerikanischen Onlinehändler mit 1500 Mitarbeitern, verursacht. Diese hohe Aufmerksamkeit zeigt die größer werdende Relevanz von Alternativen zu hierarchischer Machtverteilung.

Die Sehnsucht nach einer radikalen Neuorientierung nehme ich seit Längerem in meiner Arbeit mit Organisationen wahr. Immer mehr Menschen dort stellen die Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit von konventionellen hierarchischen Systemen in Frage und machen sich auf, neue Arten der Unternehmensführung zu finden oder zu gestalten. Der Wunsch, aus einem neuen Bewusstsein heraus zu arbeiten, weg von als seelenlos erlebten Kulturen hin zu Ausrichtung, Sinn und Verbundenheit, ist längst nicht mehr nur ein Impuls von einigen Wenigen.

Robertson wendet in seiner Organisationsform Grundmerkmale evolutionären Denkens an. Er schreibt: »Die Gestaltungskräfte der Evolution wirken seit Anbeginn der Zeit, sie suchen nach neuen Strukturen mit zunehmender Tiefe und Komplexität. Mit jedem Innovationssprung scheint die Evolution Wege zu finden, um die Geschwindigkeit des evolutionären Prozesses zu erhöhen und seine Wirkung in immer weitere Bereiche des Lebens auszudehnen. Letztendlich ist die Holakratie eine Einladung, sich in neuer Weise und mit einem neuen Mittel bewusst an diesem Prozess zu beteiligen.« Während sich postmoderne Unternehmen häufig über Werte und Kultur definieren, ist zentraler Orientierungspunkt für die Weiterentwicklung von holakratischen Organisationen der evolutionäre Sinn. Für Robertson ist dies der Grund für die Existenz der Organisation und dient als Anker in jedem Bereich, in jeder Aktivität. Dieser Sinn wird erforscht, nicht bestimmt, denn es geht darum, welcher evolutionäre Impuls sich durch die Organisation manifestieren will. Mitarbeiter fungieren als Sensoren, durch deren Wahrnehmung und Rückmeldung diese Frage immer wieder beantwortet wird und sich so ein Sinn über die Zeit verändern kann. Organisationen arbeiten dafür mit Gruppenprozessen wie Open Space oder Theorie U, vor allem aber mit verschiedenen Praktiken im Alltag, die helfen, den umfassenden Sinn präsent zu halten.

¬ WIE KANN AUS EINEM UNTERNEHMEN EIN LEBENDIGES SYSTEM WERDEN? ¬

Für den Ausdruck des evolutionären Sinns braucht es eine organische Struktur. Diese entsteht durch kontinuierliche dynamische Anpassung der Organisation in Richtung dieses Sinns. Robertson nennt dieses Prinzip »Wahrnehmung und Anpassung« im Gegensatz zur herkömmlichen »Planung und Kontrolle«. Menschen als Sensoren für Spannungen vor Ort werden zur konkreten kollektiven Intelligenz der Organisation. Sowohl für die Erforschung als auch für den Ausdruck des Sinnes der Organisation braucht es die von Eckhart Tolle beschriebene Kraft der Gegenwart. Viele Elemente in der holakratischen Praxis richten daher einen starken Fokus auf Klarheit und Präsenz.

Holakratie wird manchmal dafür kritisiert, dass sie die emotionale Seite nicht versorgt (z. B. mit Prozessen für Konfliktlösung) und dass wesentliche Geschäftsprozesse wie Leistungsbeurteilung oder Gehaltssysteme nicht beschrieben werden. Darum geht es meines Erachtens jedoch nicht, sondern darum, dass dieses neue Betriebssystem einen stabilen Rahmen bietet, in dem solche Lösungen anhand bestehender Spannungen wahrgenommen, bearbeitet und entwickelt werden können. Durch die Anpassung über Spannungen kann die Energie immer in Richtung des Sinnes gelenkt werden: Was braucht es gerade jetzt? Das Evolutionäre ist sozusagen »eingebaut«. Viele unserer Kunden, die Holakratie eingeführt haben, merken, dass die Arbeit an Spannungen genau das zum Vorschein bringt: Transparenz und Impulse dafür, was die Organisation braucht, um ihren Sinn zu erfüllen, und sie haben ihre Geschäftsprozesse angepasst bzw. die emotionalen Räume in ihrer Organisation zum Beispiel durch Achtsamkeitsübungen, Gewaltfreie Kommunikation oder Meditation verändert.

In einem unserer Workshops hat einmal jemand gesagt: »Holakratie ist wie Meditation für das Unternehmen, denn es geht um einen Prozess, in dem alles, was im Zusammenhang mit der Organisation zu spüren ist, bewusst werden kann.« Das Holakratie-­System verspricht, dass jegliche betriebsbezogene Spannung, wahrgenommen von wem auch immer, schnell und zuverlässig in wirksamer Veränderung verarbeitet werden kann (sofern relevant für den Sinn der Organisation). Das bedeutet nichts anderes, als dass diese Spannungen einen bewussten Raum bekommen, in dem sie erkannt und transformiert werden.

Dieses Wachwerden für Sinn, Bestimmung und evolutionäre Entwicklung braucht Zeit. Wenn Entscheidungsträger in Organisationen anfangen, sich für Holakratie zu interessieren, steht am Anfang oft nur die Sehnsucht, das traditionelle System zu verändern und besser zusammenzuarbeiten. Die Mitarbeiter versuchen zunächst die Regeln, Prinzipien und Struktur zu erfassen. Langsam entwickelt sich dann eine Ahnung davon, was Rollenautonomie und verteilte Autorität wirklich bedeuten, und dass es eine neue Art der Führung braucht – eine, die den Raum hält für das, was entstehen soll, anstatt Probleme für Mitarbeiter zu lösen oder Pläne zu erstellen. Erst nach und nach entwickelt sich ein tieferes Verständnis für den evolutionären Prozess, aus dem heraus dies geschieht. Die permanente Ausrichtung am Sinn der Organisation (der sich immer wieder verändern kann) führt zu immer neuen, sich entwickelnden organischen Strukturen, sodass letztendlich das System Organisation als Ganzes sich in eine permanente Bewegung begibt.

Brian Robertsons Buch gehört für mich zur grundlegenden Literatur über evolutionäre Organisationen – neben einigen systemtheoretischen und insbesondere neben den Werken von Otto Scharmer und Frederic Laloux. Bewusstsein und Organisationsformen haben sich in der menschlichen Geschichte parallel entwickelt. Diese Autoren greifen auf, was viele Menschen bewegt, die fühlen, dass im Moment ein neuer Bewusstseinssprung ansteht. Meine eigene Arbeit ist davon wesentlich beeinflusst, weil es darum geht, Rahmen für Bewusstseinsentwicklung und konkrete Umsetzung zu schaffen. Organisationen, die den Paradigmenwechsel verkörpern, können kraftvolle Felder für Bewusstseinssprünge und wirksame Transformation werden. Robertson bringt es auf den Punkt: »Ob es Holakratie oder ein anderes System ist, die Evolution wird ihren Weg in unsere Organisationen finden. Es ist nur eine Frage der Zeit.«

Author:
Anke Lessmann
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