Existenzielle Poesie

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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July 21, 2016

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Ausgabe 11 / 2016:
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July 2016
Lebendigkeit
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Balanceakt an den Rändern des Ungewissen

Leben kann zur Gewohnheit werden und viele Menschen erkunden Wege, aus eingefahrenen Gleisen auszubrechen – oder werden aus dem Gleis geworfen. Aber was muss geschehen, dass solche Brüche auch zu einem neuen Aufbruch ins Leben werden?

 

Wir leben. Nichts ist uns selbstverständlicher als das. Doch immer, wenn wir an unsere Grenzen stoßen, kippt das Leben vom einfach Gegebenen zum Unsicheren, zum Ungewissen, zur Frage. Und vielleicht erschließt sich gerade dort, an den Rändern unserer Existenz, eine neue Lebendigkeit.

Eine Grenze, die heute allgegenwärtig geworden ist, trägt den bezeichnenden Namen»Burn-out«. Das Leben hat sich so in Geschäftigkeit überdreht, dass es sichgegen uns selbst richtet. Unsere innere, vitale Essenz gerät in Brand. DerPhilosoph Byung-Chul Han etwa diagnostiziert ein »Durchbrennen des Ich«, angefachtdurch ein »Zuviel des Gleichen«. Das Ich, das unbedingt etwas will und längstvergessen hat warum, geht im Burn-out in Flammen auf. An diesen Nullpunktgeschleudert zu werden, kann eine Gnade sein. Subjektiv allerdings schmeckteine solche Erfahrung leicht auch nach Vernichtung. Es ist nicht allein dasGefühl, jegliche Kontrolle zu verlieren. Das Leben als solches scheint sichaufzulösen. Man taumelt im Nichts, ohne Boden unter den Füßen. Das Geschenk zuerkennen, das darin liegt, ist eine der größten menschlichen Herausforderung,denn der Überlebensreflex will einfach nur, dass alles so weitergeht wie zuvor.Doch was wäre, wenn wir einfach selbst weitergehen? Aber das führt schon zur nächsten Frage: Wohin?

Einfacher werden

Eine Antwort finden immer mehr Menschen darin, dass sie der Unübersichtlichkeit desVielen, die ihr Leben zu ersticken droht, die Klarheit des Einfachen entgegensetzen. Sie spüren, dass das Leben, das sie leben, ihnen die Luft zum Atmen nimmt und sie erdrückt. Und sie fragen sich, ob sich die Tiefe und Unmittelbarkeit, nach der sie sich sehnen, zeigt, wenn sie sich vom Zuviel desLebens befreien. Es drängt sie geradezu, den Schutzwall, den sie zwischen sichund dem Leben errichtet haben, abzutragen. Und so trennen sie sich von Besitztümern oder Jobs, von ungesunden Beziehungen oder Zeitvertreib, der zur Routinegeworden ist. »Stellen Sie sich ein Leben vor mit mehr Zeit, mehrbedeutungsvollen Beziehungen, mehr persönlichem Wachstum und Beteiligung, einLeben mit Leidenschaft, unbelastet von den Fallen der chaotischen Welt, die Sie umgibt … Was Sie sich da vorstellen, ist ein absichtsvolles Leben. Es ist kein perfektes Leben, es ist noch nicht einmal ein leichtes Leben. Aber es ist ein reiches Leben«, erklärt Ryan Nicodemus von den »Minimalists«.

Das Unfassbare an sich heranzulassen, bedeutet zuzulassen, dass das Leben selbst unfassbar ist.

Auch Michael Bohmeyer ging diesen Weg. Er verkaufte seinen florierendenOnline-Handel und lebt von den 1.000 Euro Gewinnausschüttung, die er jedenMonat erhält. Weil die Eigendynamik des Business ihn aufzufressen drohte. Undweil er ahnte, dass in ihm mehr steckt als nur ein erfolgreicherStart-up-Gründer. Es war ein Sprung ins Ungewisse. Heute sagt er: »Ich erlebe mich mit einem Schaffensdrang, den ich vorher gar nicht an mir kannte.«

Wie Bohmeyer geht es vielen. Bei der Schweizer Volksabstimmung Anfang Juni stimmten23 Prozent der Eidgenossen für die Einführung eines Grundeinkommens und machtendeutlich, dass sie sich Lebenschancen jenseits des einengenden Zwangs zurErwerbstätigkeit wünschen. In Deutschland sprechen sich 29 Prozent vorbehaltlosdafür aus, weitere 44 Prozent finden es gut, sehen aber auch offene Fragen.Bohmeyer war von der Energie, die sein Selbstexperiment in ihm freisetzte, sobegeistert, dass er 2014 eine Crowdfunding-Plattform ins Leben rief, dieseitdem bereits 45 Menschen ein einjähriges Grundeinkommen ermöglicht hat. Ersieht darin eine »Anschubfinanzierung in ein besseres Leben«. Sie öffnet einenZwischenraum jenseits des Müssens, in dem das Versprechen eines intensiverenLebens leise anklingt. Aber wovon hängt es ab, ob sich dieses Versprechenerfüllt? Ob sich in neuen Freiräumen auch Raum für neues Leben eröffnet?

Small is alive?

Die Tiny-House-Bewegung, die sich in den letzten zehn Jahren in den USA etabliert hat und auch in Deutschland langsam sichtbar wird, versucht den radikalen Bruchmit dem Gegebenen, um dem, was wirklich zählt, wieder nahe zu sein. Wer in einMini-Haus zieht, landet schnell bei den grundlegenden Fragen. Ein Bett, eineKochgelegenheit, ein Mini-Bad – Notwendigkeiten reduzieren sich auf wenigen Quadratmeternauf Wesentliches. Für Ablenkungsmanöver ist hier schlicht kein Platz. Es wirktbeinahe, als würde die Maslow‘sche Bedürfnispyramide auf den Kopf gestellt. Ein Dach über dem Kopf und genug zu essen ist für die Bewohner von Kleinsthäusernnicht mehr die Voraussetzung, um die Freiheit zu haben, sich einem höherenLebenssinn zu widmen. Sie leben diese Grundbedürfnisse als Sinnfrage. »Man kannden Einzug in ein Tiny House als Abenteuer sehen, mit sich selbst ins Reine zukommen. Man gewinnt fortwährend neue Erkenntnisse über sich selbst und dasLeben«, sagt Isabella Bosler, die mit ihrem Unternehmen hierzulande Mini-Häuserentwickelt. Wenn man nicht mehr einen gewohnten Lebensstandard behauptet,wächst die Chance, dem Leben hinter dem Standard wieder zu begegnen.

Wir haben es verlernt, uns bis an die Ränder des Bekannten vorzuwagen.

Weraber das Leben im Mini-Haus als eine Art von Lösung betrachtet, wird leichtenttäuscht, denn auf engstem Raum kommt man auch den eigenen Lebensängstenrichtig nahe. Kann ich es aushalten, einfach da zu sein, ohne an Altemfestzuhalten? Wo es keine Rückzugsmöglichkeit gibt, wird es existenziell. Inder Blogosphäre stößt man auch auf Berichte derer, die in ihrem neuen Leben imKleinen die ersehnte Lebendigkeit nicht finden, sondern sich einfach nur beengtfühlen.

Kontrolle aufgeben

Dieindische Philosophie kennt einen wunderbaren Begriff: den Lebenshauch (Atman).Er steht für die unzerstörbare, ewige Essenz, die Quelle des Lebens selbst. ImAtem können wir diese grenzenlose, ungeformte Vitalität erahnen. EinNeugeborenes atmet nahezu im Sekundentakt. Es steht noch ganz in einem»erotischen Weltverhältnis«, wie es der Soziologe Hartmut Rosa ausdrückt. Mitden Monaten und Jahren pendelt sich der Atem auf ein Normalmaß ein und mit ihmdas Leben. Die Sinus-Jugendstudie zeigt: Zwar findet man unter heutigenJugendlichen noch Nonkonformisten auf der »Suche nach unkonventionellenErfahrungen«, doch lebt die junge Generation auch in dem Bewusstsein, dass »mankeine Zeit vertrödeln darf und früh den richtigen Weg einschlagen muss«.Mainstream ist für die Jugend von heute keine Beleidigung ihres Entwicklungsdranges mehr, sondern eher ein sicherer Hafen.

In einer Zeit, in der Lebensläufe und Zukunftschancen immer brüchiger werden,wächst die innere Neigung, wenigstens das zu kontrollieren, was wir noch in derHand haben. Eine gute Ausbildung, eine Arbeit in einer Branche, die einsicheres Auskommen bietet, Altersvorsorge, Versicherungen … Wir verinnerlichenschon in jungen Jahren, wie das Leben zu sein hat. Das Spielerische,Natürliche, Freie bleibt dabei auf der Strecke. Die Entscheidungen, die wirtreffen, werden zum Fundament, auf dem unser Leben aufbaut. Doch sie werdenleicht auch zu einer Mauer, die uns von ihm trennt. »Lebendigkeit ist eineBeziehungsform, die sich der Logik der Beherrschung und Kontrolle widersetzt.Wer sein Leben unter Kontrolle hat, ist tot. Wer sein Leben systematisch daraufanlegt, seine Weltreichweite zu vergrößern, verliert Stück für Stück seineLebendigkeit, denn das Leben, das ist das Unverfügbare, Nicht-­Akkumulierbare«,sagt Hartmut Rosa.

HenriBergson, der große Philosoph des »Élan vital«, beschreibt, wie sehr die moderneKultur, vom Menschen geschaffen, dazu neigt, ihn zu vereinnahmen: »DieErfindungen, die den Weg des Fortschritts säumen, zeichnen auch dessen Richtungvor. Unsere individuellen und selbst soziale Gewohnheiten überleben dieUmstände, für die sie geschaffen waren, noch ziemlich lange Zeit.« Wie wir unser Leben leben, entspringt heute oft nicht mehr unserem tieferen Wesen,sondern dem, was sich über die Jahre als mindestens akzeptabel, vielleicht sogar als vielversprechend eingebürgert hat.

Kostbarkeit zulassen

Diese Gewohnheiten brechen immer dann auf, wenn sich das Leben unserer Verfügbarkeit entzieht. Deshalb tritt auch in den Momenten, wo uns das Leben mit dem großenLoslassen konfrontiert, seine Kostbarkeit so radikal hervor. Der Mediziner AtulGawande machte bei seiner Arbeit über die Jahre die erschütternde Erfahrung:Wer heute an Krebs erkrankt, wird oft bereits vor dem letzten Atemzug vomüblichen medizinischen Prozedere aus dem Leben gerissen. »Das Gefühl ist, dassdie Kombination aus chirurgischen Eingriffen, Bestrahlung und Chemotherapie die Krankheit zu etwas macht, das man managen kann. Der Preis dafür, zusätzlicheZeit zu gewinnen, mag Schmerz und Leiden jetzt sein im Tausch für einenspäteren Gewinn«, so Gawande. Die Kostbarkeit des Lebens, die in solchen Situationen so deutlich wahrnehmbar wird, überfordert uns, macht uns hilflos. Wir alle haben schlicht wenig Erfahrung darin, uns dem Unfassbaren zu stellen,es wirklich an uns heranzulassen. Weil es uns so unendlich schwerfällt, dieEinsicht zuzulassen, dass das Leben selbst unfassbar ist.

Atul Gawande stellt Krebspatienten, bevor er mit ihnen über eine Behandlung spricht,deshalb einige existenzielle Fragen. Fragen, die nicht um die Krankheitkreisen, sondern um den Kern des Lebens: »Was ist in Ihrem Leben wirklichwichtig? Was ist Ihnen wichtiger als alles andere (abgesehen davon, länger zuleben)? Wovor haben Sie Angst? Welche Abstriche sind Sie bereit zu machen?« Sielassen in einer Situation, in der das Leben bereits verloren ist, das Wesen derLebendigkeit plötzlich aufscheinen. Im Angesicht des Todes gibt es nichts mehrzu verlieren.

Ideen wie das Grundeinkommen oder minimalistische Lebensstile sind Ausbruchsversuche aus kulturellen Gewohnheiten.

Wenn wir nicht mehr versuchen, »jede Situation, die einen unmittelbar auf die Probestellen würde, jede authentische und tiefe Erfahrung der Andersheit zuvermeiden«, öffnet sich die Wahrnehmung wieder für die »existenzielle Poesie«des Lebens, meint auch der französische Philosoph Alain Badiou. Es geht darum,sich ungeschützt dem Leben preiszugeben. »Man muss gegen die Sicherheit und denKomfort das Risiko und das Abenteuer neu erfinden«, so Badiou.

Menschenan der Schwelle zum Tod haben die Sicherheit bereits verloren. »Ich wünschte,ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben«, sagen nicht wenige vonihnen. Sie scheinen die zärtliche Berührung des Lebens auf einmal unmittelbarzu spüren, weil das ihnen Vertraute brutal zusammengebrochen ist. Neben demBedauern dessen, was man selbst versäumt hat, tritt das unerschöpflichePotenzial ins Bewusstsein, das sich in der eigenen Anwesenheit ausdrückenkönnte.

An den Rändern

Lebendigkeit bedeutet vielleicht auch, dass wir uns an die Kante unseres Lebens vorwagen, wodas Ungewisse, Unsichere, Unberechenbare aufscheint. Die Weite, die uns ruft, macht vielleicht Angst, aber sie verheißt uns auch, dass das Leben, unserLeben, mehr ist, als wir fassen können. Wir haben es schlicht verlernt, uns bisan die Ränder des Bekannten vorzuwagen und einen Schritt darüber hinauszugehen.Und es fällt uns schwer, uns dieses starken kulturellen Reflexes überhauptbewusst zu werden, denn wir wissen, wie fragil unser Dasein ist. Nähmen wirdiese Fragilität einfach an, wäre unser Ende gewiss. Glauben wir jedenfalls.Seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte sind wir es gewohnt, alles zu tun, umSicherheit zu finden. Vom Faustkeil bis zur High-Tech-Medizin haben wirUnglaubliches geschaffen, um das Leben zu schützen. Doch haben wir darüber eine existenzielle Frage nahezu vergessen: Welches Leben?

Ideen wie das Grundeinkommen oder minimalistische Lebensstile sind Ausbruchsversucheaus kulturellen Gewohnheiten, die das Leben unter sich begraben. Je mehr wirmit dem Leben, wie es ist, ringen, umso beliebter scheinen sie zu werden. Abersie sind keine Lösung, sie öffnen eine Tür. Eine, hinter der wir bestenfallskeine Antworten finden, sondern den Mut, uns zu fragen, was Leben eigentlichist.

Als Spezies haben wir Jahrtausende des Lebens dem Versuch gewidmet, das Leben zu verstehenund es zu gestalten. Doch inzwischen stößt unsere Vorstellungskraft an Grenzen.Wir ahnen, dass noch mehr möglich ist, doch das, was wir heute ersehnen, lässtsich weder greifen noch machen. Die Lebendigkeit, die uns zieht, ist ungeformt und dabei grenzenlos in ihrer möglichen Gestalt.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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