Freiheit über alles?

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Column
Published On:

January 24, 2022

Featuring:
John Stuart Mill
Categories of Inquiry:
Tags
Issue:
Ausgabe 33 / 2022
|
January 2022
Wie leben zwischen den Zeiten
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Wir können in Deutschland momentan eine Auseinandersetzung rund um das Thema Freiheit erleben, in der die Wogen hochschlagen. Hintergrund sind die diversen Grundrechtseinschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie. Mir geht es aber nicht um eine juristische Bewertung dieser Einschränkungen, sondern um die Gedankengänge und Vorstellungswelten hinter den Argumenten der Gegner und Befürworter dieser Einschränkungen. Wer versteht, worin Überzeugungen gründen, kann diese verorten und bewerten, in welcher Situation sie besser oder schlechter passen.

Die unterschiedlichen Freiheitsverständnisse entstammen dem Kampf um bürgerliche Freiheitsrechte, der in Europa von der Aufklärung inspiriert wurde und im 19. Jh. richtig Fahrt aufnahm. Dieser Kampf wurde von der Überzeugung gespeist, dass die Rechte eines Herrschers über sein Volk einer Legitimation und einer Beschränkung bedürfen. Viele Freiheitstheorien entstanden, als der Staat dominant war und geschlossene Gesellschaften die Regel waren. 

In der geschlossenen Gesellschaft hatte die staatliche und religiöse Macht eine für alle verbindliche »Erzählung« vom guten Leben. Welche Auswirkungen ein solches Narrativ für alle Lebensbereiche hatte, berichtet John Stuart Mill in seinem Buch über die Freiheit. So konnte ein Atheist Mitte des 19. Jh. in England als Geschworener abgelehnt werden, da er als charakterlich minderwertige Person galt. Das Narrativ des viktorianischen Englands war zu dieser Zeit immer noch ein religiöses. Mit dem Kampf für mehr individuelle Freiheiten wurde diese verbindliche Erzählung, in die alle Lebensvollzüge eingeordnet waren, immer mehr infrage gestellt.

Positive Freiheit impliziert, dass ein Mensch die Möglichkeit bekommt, etwas zu bewirken.

Der Kampf für die individuelle Freiheit war ein Kampf gegen staatliche Willkür. Die so definierte Freiheit wird als negative Freiheit bezeichnet. Freiheit wird erlebt in der Abwesenheit von Zwang durch andere Akteure. Die bürgerlichen Freiheitsrechte sind Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe. Aus dieser Idee des Liberalismus entwickelte sich vor allem in Amerika eine ökonomische und politische Freiheitstheorie, die jegliche Einmischung des Staates für negativ erachtete: der Libertarismus. 

Im Libertarismus ist die individuelle Freiheit der höchste Wert, dem sich alle anderen Werte unterzuordnen haben. Gemäß dem Motto: Freiheit, Freiheit, Freiheit über alles! Wenn in der aktuellen Diskussion Freiheit zum zentralen Wert unserer Gesellschaft erhoben wird, dann verbindet sich dieser libertäre Freiheitsbegriff oftmals mit der Überzeugung, dass niemand das Recht hat, einem Menschen vorzuschreiben, was er/sie zu tun und zu lassen hat. Der Fokus ist das eigene Ich. Doch die libertäre Idee, der immer der Ruch des Egoismus anhaftet, ist nicht die einzige Freiheitskonzeption. 

Neben der sogenannten negativen Freiheit existiert auch die Vorstellung einer positiven Freiheit. Mit ihr ist eine andere Freiheitsvorstellung verbunden. Freiheit ist hier mehr als die Abwesenheit von Zwang oder Einschränkungen durch andere Akteure. Positive Freiheit impliziert, dass ein Mensch die Möglichkeit bekommt, etwas zu bewirken. Dazu kann es notwendig sein, dass der Staat z. B. eingreift und Strukturen schafft, die das ermöglichen. Der Staat und mit ihm die Gesellschaft übernimmt eine gewisse Fürsorgepflicht für die Mitglieder der Gesellschaft. Damit verbunden ist ein anderer Wert: Solidarität. Der Fokus liegt hier mehr auf dem Wir. 

Während die libertäre Idee von Freiheit diese als radikale Freiheit des Individuums versteht, ist mit dem positiven Freiheitsbegriff ein ganzes Bündel anderer Werte verwoben, die ebenfalls ein Anrecht auf Realisierung haben und die grenzenlose Freiheit des Individuums immer wieder beschränken und eingrenzen. Ohne diese Begrenzung von Freiheit ist meines Erachtens aber kein gutes gesellschaftliches Zusammenleben möglich, denn eine grenzenlose Freiheit wäre nichts anderes als das Recht des Stärkeren.  

Author:
Dr. Katharina Ceming
Share this article: