Gesellschaftliche Entwicklung und inneres Wachstum

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

April 16, 2020

Featuring:
Tomas Björkman
Categories of Inquiry:
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Issue:
Ausgabe 26 / 2020
|
April 2020
Menschliche Reife
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Gesellschaften reifen, wenn Menschen reifen

Tomas Björkman brennt für die Frage nach unserem inneren Wachstum, um neue Potenziale unseres Zusammenlebens zu erschließen. Mit seiner Stiftung Ekskäret Foundation, einem Retreat-Zentrum auf der schwedischen Insel Ekskäret, Co-Working- und Co-Living-Spaces in Stockholm und Berlin sowie verschiedenen Medienprojekten und Publikationen schafft er Räume für das Verstehen und die Praxis vertikaler Entwicklung. Wir sprachen mit ihm über die Erkenntnisse seiner Arbeit.

evolve: Im Buch »The Nordic Secret«, das du mit Lene Rachel Andersen geschrieben hast, erzählt ihr die beachtenswerte Geschichte, wie die nordischen Länder, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts feudale, landwirtschaftliche Gesellschaften waren, mittels eines bewussten Programms zur inneren Entwicklung zu Ländern mit den weltweit höchsten Lebensstandards und der stärksten Zufriedenheit wurden. Gibt es Lektionen aus dieser Entwicklung der skandinavischen Länder, von denen wir angesichts heutiger Herausforderungen von systemischem Chaos und globalem Kollaps lernen können, um die menschliche Entwicklung und Reife zu fördern?

Tomas Björkman: Ja, aber ich denke nicht, dass wir es als Vorlage verwenden können, um heute das Gleiche zu tun. Aber es ist ein gutes Studienobjekt, das zeigt, wie umfassende Bemühungen, einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung zu helfen, innere Reife zu entwickeln, eine transformierende Wirkung auf die Gesellschaft entfalten können. Gerade heute steht die Menschheit vor einem Wandel, wir stehen vor einer Entscheidung: Entweder sind wir den Herausforderungen gewachsen und können die Bildung einer neuen Zivilisation unterstützen, die komplexer ist und vielleicht auch einen Weg findet, das menschliche Zusammenleben bewusster zu gestalten, oder wir werden einen Zusammenbruch unserer Sozialsysteme und der Zivilisation, wie wir sie kennen, erleben. Wir könnten in ein neues dunkles Zeitalter eintreten, falls nicht vorher das gesamte globale Ökosystem kollabiert. Daraus stellt sich für mich die Frage: Was können wir aus der Geschichte lernen, was können wir von der Entwicklungspsychologie, den Theorien über inneres Wachstum und Reife lernen? Und wie können wir heute die positive Transformation in diesem Wandel oder an diesem Scheideweg der Menschheit unterstützen? Und für mich liegt die Antwort in der Ausbildung von inneren Kompetenzen oder Fähigkeiten.

IN UNSERER POSTMODERNEN WELT IST ES SCHWER, DARÜBER ZU SPRECHEN, DASS ENTWICKLUNG EINE RICHTUNG HABEN KÖNNTE.

Transformatives Lernen

e: Welche Fähigkeiten sind das?

TB: Die erste Gruppe von Kompetenzen bezieht sich auf die Offenheit – unsere Fähigkeit, offen zu bleiben, präsent zu bleiben und in der Lage zu sein, die Welt in uns aufnehmen zu können, auch wenn wir die natürliche Tendenz verspüren, uns zu verschließen, wenn wir uns überwältigt fühlen. Die zweite Kompetenz ist die Fähigkeit, andere Perspektiven einzunehmen. Das heißt, wir suchen aktiv unterschiedliche Perspektiven auf die Welt, um die Sichtweisen anderer Menschen zu verstehen und in der Lage zu sein, sie in einem umfassenderen Verständnis zu integrieren. Die dritte Kompetenz ist die Sinnfindung. Wenn wir offen sind und viele Perspektiven einnehmen können, entwickeln wir die Fähigkeit der Sinnfindung, um die Welt umfassender zu interpretieren und komplexere und tiefere Muster zu erkennen als das Schwarz-Weiß-Denken oder die weit verbreitete Tendenz, in Kategorien von »Wir gegen die anderen« zu denken. In der vierten Gruppe von Fähigkeiten geht es darum, unseren inneren Kompass zu finden. Dem entspricht im Entwicklungsmodell von Robert Kegan die Stufe des »Self Authoring«, die Eigenautorität oder Selbstbestimmung – das heißt, die eigene moralische Stimme zu finden und tief in den eigenen Werten verwurzelt zu sein, statt von einer äußeren Autorität abhängig zu sein. Hier entwickeln wir eine Führung aus dem Inneren und verlagern den Ort der Kontrolle von außen nach innen, um so tief in uns selbst verwurzelt zu sein, dass wir in einer sich schnell verändernden Umwelt aus unseren tiefsten Werten leben können.

Die fünfte Fähigkeit ist Mitgefühl. Nichts vom bisher Genannten hat irgendeinen Wert, wenn wir dadurch nicht unser Mitgefühl entwickeln. Hier entwickeln wir die Fähigkeit, unser Mitgefühl zu vertiefen, aber auch den Umfang dieses Mitgefühls zu erweitern. Wen schließen wir ein in die Umarmung unseres Mitgefühls? Diese Umarmung kann sich im Laufe des Lebens vergrößern: von unserer Familie und unseren Freunden zur Nation und dem eigenen Volk bis zu allen Menschen, vielleicht sogar bis zu den zukünftigen Generationen und allen empfindungsfähigen Wesen. Aber das ist ein Entwicklungsprozess, den man Schritt für Schritt gehen muss. Man kann keinen Teenager dazu bringen, plötzlich das Mitgefühl auf zukünftige Generationen auszuweiten. Man kann einen Teenager dazu sozialisieren, aber es ist nicht das tief gegründete Mitgefühl, das wir später im Leben entwickeln können.

Die gute Nachricht ist, dass all die Fähigkeiten entwickelt werden können. Wir werden zum Beispiel nicht mit einem bestimmten Ausmaß von Empathie geboren, sondern können es im Laufe unseres Lebens ausbilden. Die schlechte Nachricht ist, dass diese Fähigkeiten nicht in herkömmlicher Weise vermittelt werden können. Man kann nicht einen seiner Angestellten auf einen dreitägigen Empathie-Kurs oder Kurs in Selbstbestimmung schicken und er oder sie kommt dann empathischer oder selbstbestimmter zurück. Um diese tieferen inneren Fertigkeiten zu entwickeln, ist ein »transformatives Lernen« nötig, wie es einige Wissenschaftler nennen. Um diese Fertigkeiten zu entwickeln, müssen wir uns selbst transformieren und zu einer größeren Reife finden.

UNSERE KONSUMKULTUR IST ABHÄNGIG DAVON, DASS WIR NICHT REIFER WERDEN.

Auf gesellschaftlicher Ebene sollten wir uns bewusst sein, dass wir die gesellschaftliche Transformation, in der wir uns befinden, nicht managen, steuern oder kontrollieren können. Das ist nicht möglich. Es ist aber möglich, die Fähigkeiten zu entwickeln, die heute in der Gesellschaft am meisten gebraucht werden, um eine positive Transformation und das mögliche Entstehen einer komplexeren und bewusster gestalteten Gesellschaft zu unterstützen. Und ich denke, dass die Fertigkeiten, die wir in diesem Übergang brauchen, genau die transformativen Fähigkeiten sind, über die wir gesprochen haben. Diese Kompetenzen sind nicht nur wichtig für uns als Individuen, um in einer sich schnell verändernden Welt zu überleben, sondern sie sind auch lebensnotwendig für unsere Gesellschaft, weil Menschen mit diesen Fertigkeiten in der Lage sein werden, die Emergenz des Neuen zu unterstützen, weil sie in tiefere Beziehung mit anderen gehen können.

Natürlich war das immer die Voraussetzung dafür, dass sich ein komplexes System entwickeln und eine neue Organisationsform entstehen konnte. Es beginnt immer mit den einzelnen Teilen des Systems und ihrer Fähigkeit, sich tiefer und komplexer miteinander zu verbinden. Durch diesen Prozess müssen wir heute als Menschen gehen. Wir müssen besser dazu in der Lage sein, uns neu aufeinander zu beziehen. Diese neuen Beziehungsformen werden zu neu entstehenden Eigenschaften führen. Wenn wir zum Beispiel über kollektive Intelligenz, kollektive Sinnfindung, die Kohärenz einer Gruppe sprechen, dann können wir davon ausgehen, dass sich diese Eigenschaften nicht aus heiterem Himmel einstellen. Sie zeigen sich, weil wir offen und gegenwärtig sind und mehr Perspektiven einnehmen können.

Verinnerlichte Werte

e: Als du über die Entwicklung dieser Fertigkeiten sprachst, hast du eine interessante Unterscheidung gemacht. Du erwähntest den Unterschied zwischen der Entwicklung von Mitgefühl und der Sozialisierung, um Mitgefühl zu empfinden oder auszudrücken.

TB: Ja, das ist sehr wichtig. Durch Gruppendruck und kulturellen Druck ist es möglich, Menschen zu sozialisieren, um mehr Mitgefühl auszudrücken, sich toleranter gegenüber Fremden zu verhalten und auch Werte anzunehmen, wie beispielsweise ein Verantwortungsgefühl für die Umwelt. Aber wenn man Menschen nur dahin sozialisiert, werden sie diese Werte nur so lange aufrechterhalten, wie der externe Druck besteht, weil man auf dieser inneren Entwicklungsstufe noch zum großen Teil davon abhängig ist, dass die eigenen Werte und die eigene Weltsicht von außen bestätigt werden. Aber solange dieser Prozess nur auf Sozialisierung beruht, können diese Werte schnell verloren gehen. Das haben wir beim Brexit und bei Trump gesehen.

Viele Menschen befinden sich auf der Entwicklungsstufe, wo sie auf jemanden schauen, der ihnen sagt, was sie tun und denken sollen. Mit einer äußeren Autorität wie Trump kann ein großer Teil der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, der zumindest per Lippenbekenntnis zu Multikulturalität und Umweltschutz stand, plötzlich die Meinung ändern, weil es jetzt in Ordnung ist, sich nicht um diese Werte zu kümmern. Aber wenn man diese Weltsicht und diese Werte durch einen inneren Reifeprozess erreicht hat, wobei man diese Werte tief in sich findet, dann macht es nichts aus, was die eigenen Freunde oder der Präsident denken oder sagen. Wir werden zu diesen Werten stehen, weil sie aus unserem tiefer gegründeten Selbst kommen.

Wir sollten in der Lage sein, die Bevölkerung darin zu unterstützen, aus sich selbst heraus tiefe, demokratische Werte zu entwickeln, sich zur Multikulturalität zu bekennen und sich für die Umwelt einzusetzen. Das kann man nicht mit dem Lehrplan an Schulen erreichen oder indem man mittels politischer Korrektheit Druck auf die Bevölkerung ausübt. Stattdessen müssen wir ähnliche Prozesse gestalten, wie wir sie in Skandinavien vor etwa 150 Jahren umgesetzt haben, wobei der innere Entwicklungsprozess vieler Menschen gefördert wurde.

Auch die heutige Entwicklungspsychologie zeigt, dass wir diese Werte tief in uns selbst tragen, aber es ist eine Frage der Reife und der Entwicklung, sie auch vollends auszubilden. Wenn wir diese vertikale Entwicklung auf lange Sicht in der Bevölkerung unterstützen, werden wir einen Umkehrpunkt erreichen. Es ist nicht nötig, dass die Mehrheit der Bevölkerung diese inneren Werte ausbildet. Es reicht, wenn zehn oder zwanzig Prozent es tun, wenn diese Menschen – wie es in Skandinavien der Fall war – auf die ganze Bevölkerung verteilt sind, damit sich keine elitären Blasen mit Gleichgesinnten bilden. In den nordischen Ländern wurden auch Arbeiter und Bauern, also Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung mit einbezogen.

Richtung der Entwicklung

e: Du hast diese authentische Entwicklung als »vertikal« bezeichnet. Was meinst du damit?

TB: In unserer postmodernen Welt ist es schwer, darüber zu sprechen, dass Entwicklung eine Richtung haben könnte. Wir denken oft, dass wir einfach alle verschieden sind und dass die meisten Dinge, die wir über uns erzählen, willkürliche Geschichten sind. Aber der menschliche Reifeprozess ist eine universale Entwicklung zu mehr Komplexität, mehr Inklusion bzw. Integration und der Einnahme von mehr Perspektiven. Unabhängig von der Kultur, in der wir aufgewachsen sind, gehen wir durch den gleichen Entwicklungsprozess, der sich nur manchmal unterschiedlich ausdrückt. Und interessanterweise – wobei ich kein religiöser Mensch bin – haben die meisten Religionen ein Verständnis für diese innere Entwicklung und unterstützen in ihren authentischen Ausdrucksformen diese reiferen Werte.

Es ist ein schwerwiegender Mangel an Entwicklung in unserer Gesellschaft, dass wir diesen Reifungsprozess nicht erkennen. In indigenen Kulturen oder in religiösen Kulturen fanden Entwicklung und Transformation eine Anerkennung, es wurde als wichtig angesehen, Weisheit zu entwickeln und die weisen Ältesten zu achten. In unserer westlichen Welt spielen solche Bezüge kaum eine Rolle. Wir sind uns der Bedeutung dieser vertikalen Entwicklung nicht bewusst. Unsere Konsumkultur ist abhängig davon, dass wir nicht reifer werden, und übt Druck auf uns aus, damit wir davon abhängig bleiben, diese Marke oder jenes Auto zu kaufen, um äußere Bestätigung zu erhalten. Und populistische Politiker beuten unsere innere Unsicherheit und Unreife aus.

Lebenslange Entwicklungsreise

e: Ein großer Teil der Bevölkerung richtet sich heute nach sozialisierten Vorgaben und braucht äußere Bestätigung. Gleichzeitig gibt es eine größer werdende Gruppe, die über die transformativen Fertigkeiten verfügt, die du erwähnst. Da wir uns in unserer Kultur einem kritischen Punkt nähern, ist die Frage, wie sich unsere Gesellschaft entwickeln kann, wenn sich eine Minderheit weiterentwickelt, während eine Mehrheit der Menschen die Führung einer äußeren Autorität sucht?

TB: Das Erste ist, den Prozess anzuerkennen, die lebenslange Entwicklung zu erkennen und zu verstehen, dass wir uns alle auf einer Entwicklungsreise befinden. Diejenigen von uns, die sich am Anfang der Reise befinden, sind nicht weniger wert als diejenigen von uns, die möglicherweise schon weiter gereist sind. Wir sollten also niemanden als »bedauernswert« bezeichnen, sondern können jedem Menschen so begegnen, wie er oder sie ist, und einander auf unserer Entwicklungsreise und auch im täglichen Leben unterstützen.

Wenn wir unser Menschsein neu verstehen würden, könnten Politiker erkennen, dass es sinnvoll wäre, staatliche Mittel zur Verfügung zu stellen und Programme zu entwerfen, um die innere, persönliche Entwicklung zu unterstützen. Wie ich schon gesagt habe, die Geschichte, die wir in »The Nordic Secret« erzählen, ist keine Blaupause, sondern eine Fallstudie. Wir sehen an diesem Beispiel, dass solch ein Entwicklungsprogramm Gesellschaften langfristig verändern kann und bis heute eine Wirkung entfaltet.

Notwendig ist aber auch ein Wandel unserer Weltsicht. In unserer westlichen Weltsicht sehen wir unseren Geist als eine Art Maschine, ein unbeschriebenes Blatt, ohne irgendeine Dimension von Entwicklung. Vielleicht gestehen wir heranwachsenden Menschen eine Entwicklung zu, aber wir sehen das erwachsene individuelle Bewusstsein nicht als etwas, das sich weiterentwickeln kann, und auch als Kultur sehen wir uns nicht im Prozess der Entwicklung. Wir folgen der Sichtweise der Aufklärung, die uns als isolierte Individuen in einem Darwinistischen Konkurrenzkampf versteht. Diese Sichtweise können wir loslassen; wir können verstehen, dass wir alle miteinander verbunden und Teil desselben Ganzen sind. Ein Teil von mir ist in dir. Wenn wir damit beginnen und daraus die menschliche Entwicklung verstehen und dieses Verstehen aus einer miteinander verbundenen Perspektive voller Mitgefühl nutzen, dann wird individuell, in Beziehung und als Gesellschaft ein neues Menschsein möglich.

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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