Im großen Geheimnis

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Published On:

April 16, 2020

Featuring:
Grandmother Flordemayo
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Issue:
Ausgabe 26 / 2020
|
April 2020
Menschliche Reife
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Grandmother Flordemayos Vision der universellen Verbundenheit

Nur weil niemand Grandmother Flordemayo ein Geburtstagsständchen sang, war ihre Kindheit keineswegs traurig. Ganz im Gegenteil: Als Jüngste einer zutiefst liebevollen Familie erlebte sie eine – in ihren eigenen Worten – »ideale Kindheit« an der Grenze zwischen Honduras und Nicaragua. Für sie war es eine wunderbare Zeit: Sie verbrachte ihre Tage im Freien, entweder im Garten, der voller Tiere war (Leguane, Vögel und Schildkröten gehörten zu ihren liebsten Spielgefährten), oder in der Nachbarschaft, immer auf der Suche nach Abenteuern. Obwohl ihr Vater verstarb, als sie gerade erst zwei Jahre alt war, war die tiefe Liebe, die sie in ihrer Familie erfuhr, eine Quelle der Geborgenheit und der Inspiration. »Meine Mutter war sehr intuitiv«, erklärt sie, »und sie spürte, dass ich für etwas Besonderes auf die Welt gekommen war.«

Dies führte dazu, dass ihre Mutter trotz ihres eigenen sehr aktiven Lebens immer wieder ein Ohr für ihre kleine Tochter hatte und mit ihr über ihre Träume und Visionen sprach. In einem dieser Gespräche erzählte Flordemayo ihrer Mutter davon, dass sie im Traum an einem anderen Ort gewesen sei, eine andere Sprache gesprochen und von Schnee geträumt habe. Nachdem sie dem Kind einige Fragen gestellt hatte, kam ihre Mutter zu folgendem Schluss: »Vielleicht wirst Du in der Zukunft diesen fernen Ort aufsuchen.«

Die Intuition der Mutter sollte sich in diesem Fall bewahrheiten, wobei sie selbst die eine oder andere Weiche in Flordemayos Leben stellte. Als das Mädchen das Teenageralter schon fast hinter sich hatte (da sie keine Geburtstage feierte, fällt es ihr schwer, genaue Angaben zu bestimmten Ereignissen zu machen), setzte sich ihre Mutter zu ihr und erzählte ihr, dass sie am nächsten Tag einen Bus nach Managua, der Hauptstadt von Nicaragua nehmen würden und einen Tag später ein Flugzeug in die USA, wo viele von Flordemayos Geschwistern zu der Zeit lebten. Da sie selbst als Kind Tuberkulose gehabt hatte, war sie nicht die Gesündeste, und ihre Mutter dachte, das Leben in den USA könnte vielleicht gut für sie sein.

Aber die junge Frau fühlte sich nicht wohl in New York City. Obwohl sie in den fast zwölf Jahren ihres Aufenthalts dort ihren Mann, einen Künstler, kennenlernte, war es eine schreckliche Zeit. Sie besuchte zwar die Kunsthochschule und heiratete, aber sie war doch sehr froh, als sie und ihr Mann in die Adirondacks, eine naturbelassenere Gegend im Norden New Yorks, zogen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits ein Baby und das neue Umfeld war eine ziemliche Herausforderung für die junge Familie: Das Leben mit einem Holzofen in dem dortigen kalten Klima war eine Belastung für Flordemayo mit ihren tuberkulosegeschädigten Lungen. Von Jahr zu Jahr fühlte sie sich kränker. Trotz dieser erschwerten Umstände blieb das Paar fast 27 Jahre in den Adirondacks, bis Flordemayo eine Vision hatte.

Nachdem sie sich eine virale Lungenentzündung zugezogen hatte, war sie acht Monate lang schwer krank. Jeden Monat suchte sie die Notaufnahme auf und musste immer wieder im Krankenhaus bleiben. Anfangs hoffte sie noch mit aller Verzweiflung, zu gesunden, aber mit der Zeit verließ sie aller Lebensmut. ›Es ist vorbei‹, dachte sie. »Ich war bereit, meinen Körper aufzugeben, als ich genau zu dem Zeitpunkt eine unglaubliche, wirklich unglaubliche Vision hatte.« Während sie mit weit offenen Augen im Bett lag, sah sie vier Adler, die auf sie zukamen. Die Adler hoben sie an Händen und Füßen hoch und flogen sie nach New Mexico, an einen Ort, wo sie noch nie gewesen war. Sie wusste noch nicht einmal, wo das überhaupt war. Aber die Adler setzten sie in diesem Staat ab und sagten ihr, sie müsse nun in New Mexico leben.

Flordemayo stand auf und sagte zu ihrem Mann, der aus dem Westen stammt: »Der Geist ruft mich auf, nach New Mexico zu ziehen.« Verblüfft antwortete er: »Ich kann hier nicht weg, ich bin noch nicht im Ruhestand.« Ohne zu zögern sagte sie, dass das in Ordnung sei, aber dass sie gehen müsse. Sie wusste instinktiv, dass New Mexico ihr helfen würde, endlich zu gesunden. Ihr Mann, noch nicht überzeugt, fragte sie, wo sie denn in New Mexico wohnen würde. Sie machte sich darüber keine Sorgen. »Ich komme aus Mittelamerika, ich kann unter einem Baum schlafen«, sagte sie (und sie meinte es ernst). Da erinnerte er sie daran, dass sie in New Mexico ja niemanden kenne. Sie schaute ihn lächelnd an und antwortete: »Ich kannte auch niemanden, als ich in die USA kam. Ich habe keine Angst.«

Und so begann sie ihre Sachen zu packen, ohne zu wissen, was als nächstes passieren würde. In den folgenden Monaten bekam ihr Mann plötzlich einen Brief von der Universität von New Mexico. Man suchte dort Sozialarbeiter. Unter diesen Umständen war es für Flordemayo nicht schwer, ihren Mann davon zu überzeugen, dass er sich auf die Stelle bewerben möge. Er wurde genommen, und zwei Wochen später lebte das Paar bereits in New Mexico. Plötzlich hatte sich Flordemayos gesamtes Leben geändert. »New Mexico hat mich gerettet«, sagt sie nachdenklich. »Hier kann ich atmen.« In den Adirondacks hatte sie sich verunsichert gefühlt, wie an einem Scheideweg, aber jetzt in New Mexico sah sie ganz klar, wer sie war. Hier traf sie ihren Lehrer, einen traditionellen Maya, der sie einlud, mit ihm die Weisheit ihrer Vorfahren zu erforschen. Die ersten Worte, die sie von ihm hörte, waren: »Die Prophezeiung sagt: Erwache, erwache. Die Morgendämmerung ist da.« Diese Worte reichten aus, um eine 30 Jahre währende Beziehung zwischen Lehrer und Schülerin zu begründen. Sie reisten zusammen in »alle vier Himmelsrichtungen« und teilten die Weisheitslehren ihrer Vorfahren, der Maya, miteinander und mit den Menschen. Diese Zeit war für Flordemayo eine Phase, in der sie an die Erfahrungen ihrer Jahre zwischen 20 und 30 anknüpfte, eine Zeit, in der sie die Alten in Mittelamerika von »Vereinigung« sprechen hörte. Damals, in den Siebzigern, hatte sie die Spaltung, die der Vietnamkrieg, die Kubakrise und die scheinbar endlosen Kriege in Mittelamerika hervorgerufen hatten, sehr deutlich gespürt. In New Mexico wurde sie Teil einer »spirituellen Migration«: Immer mehr indigene Führungspersönlichkeiten verließen ihre Heimatländer, um die Botschaft der Vereinigung nah und fern zu verbreiten. »Aber ohne meinen Mann, der mich mit seiner Arbeit unterstützt und meine Träume geteilt hat, hätte ich es nicht geschafft«, sagt sie mir.

DAS WICHTIGSTE, WAS WIR IN DIESER SPIRITUELLEN VERBUNDENHEIT LERNEN, IST HINGABE.

Diese Arbeit ermöglichte es Grandmother Flordemayo, ihre eigenen Stärken zu entfalten und andere zugunsten einer besseren Welt daran teilhaben zu lassen. Die Prophezeiung sagt: »Niemand darf zurückgelassen werden. Dabei geht es um ausnahmslos alle Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion, ihrem Status oder Wohlstand – nichts davon hat irgendeine Bedeutung.« In ihrer Arbeit als Heilerin und bei ihrem Einsatz für die Verbundenheit alles Lebendigen versucht sie niemals, irgendjemanden zu bekehren. »Wir haben alle unsere Wurzeln«, sagt sie. »Woher wir kommen, ist verschieden, wir sprechen unterschiedliche Sprachen und haben unseren eigenen Blick auf die Dinge.«

Die Weitergabe dieses Wissens und die Unterstützung des Menschen beim Prozess des Erwachens – das ist ihre Berufung auf dieser Erde. Aber ihre Arbeit beschränkt sich nicht auf die Menschen. Ihre von Herzen kommende Liebe erstreckt sich auf alle Lebewesen, die »Kinder der Erde sind, genau wie wir Teil von dem sind, was wir sind«. Sie bietet nicht nur Menschen ihre Lehre, ihre Methoden, ihre Zeit und ihren Raum für die Erfahrung der universellen Verbundenheit an, sondern sie lässt sich auch zutiefst auf die Bedürfnisse der Tiere ein und verbindet sich mit der Schönheit, die von diesen ausgeht. Ob es das Füttern von Wildvögeln ist, das Aufziehen eines Faultierjungen oder die Beobachtung eines Frosches,der Eier legt, die wachsen und aus denen Junge schlüpfen, die Jahr für Jahr in denselben Teich zurückkehren: Sie weiß und zelebriert, dass wir alle Teil derselben Welt sind.

»Das Einzige, was ich tue, ist, mich zu verbinden, mich zu verbinden, mich zu verbinden, indem ich mit dem Herzen zuhöre. Das sind die Lehren des großen Geheimnisses«, so denkt sie laut nach. »Wir können versuchen, darüber zu schreiben, wir können versuchen, es zu verstehen, aber es ist Teil des großen Geheimnisses. Wir können daran teilhaben, wir können es erfahren, aber verstehen wir es wirklich?« Zum Abschied schenkt sie mir noch ein letztes Juwel: »Das Wichtigste, was wir in dieser spirituellen Verbundenheit lernen, ist Hingabe und vollkommene Geduld. Es kann sein, dass wir eine Antwort bekommen, wenn wir uns 30 Jahre lang Tag und Nacht, Tag und Nacht, Tag und Nacht verbunden haben. Wir müssen bereit sein.«

Author:
Miranda Perrone
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