Im Spektrum: Wir und die Welt

Our Emotional Participation in the World
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Column
Published On:

April 17, 2019

Featuring:
Johannes Greiner
Prof. Dr. Kazuma Matoba
Prof. Melaine MacDonald
Prof. Shelley Sacks
Thomas Hübl
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Ausgabe 22 / 2019:
|
April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Achtsamkeit kann uns individuell in ein präsenteres Sein in der Welt führen. Wenn diese Gegenwärtigkeit in unseren sozialen Beziehungsfeldern lebendig wird, wird auch ein umfassenderes Wahrnehmen der Kräfte möglich, die darin wirken. Welche gesellschaftlichen Wirkungen hat eine solche »kollektive Achtsamkeit«? Wir haben Menschen, die an der Schnittstelle zwischen Bewusstsein und gesellschaftlicher Transformation tätig sind, gefragt:

Braucht unsere Gesellschaft eine neue kollektive Achtsamkeit?

Thomas Hübl

Trauma und kollektives Trauma stellen zum Teil massive Fragmentierungen im Leben dar. Wir haben kaum die Fähigkeit, uns physisch-emotional-mental auf die Ereignisse in unserer Kultur, welchen wir vermehrt auch durch Technologie ausgesetzt sind, zu beziehen. Beziehung und kollektive Präsenz generieren eine höhere innere und kulturelle Kohärenz, die die Fähigkeit hat, die im System existierende Spaltung und Trennung bewusst zu erleben und ihr deswegen nicht mehr unbewusst ausgesetzt zu sein. 

Die Welt ist in einem sehr starken Wandel und wir müssen wandlungsfähig werden. Das bedeutet, dass wir einige unserer Gewohnheiten verändern müssen und auch können. Um Trauma zu integrieren, braucht es jedoch spezielle Werkzeuge – wie höhere Beziehungsfähigkeit, höhere Prozessbewusstheit, mehr Achtsamkeit und Präsenz und ein tieferes Bedürfnis, sich an dem Kulturprozess zu beteiligen. 

Es ist Zeit, die Trauma-Symptome auf gesellschaftlicher Ebene als solche zu sehen. Oftmals nehmen wir die kollektiven Trauma-Symptome als soziale, wirtschaftliche, ökologische oder politische Schwierigkeiten wahr, wo sie doch tatsächlich oftmals die Reaktivität oder das Verhalten einer traumatisierten Kultur sind. Kollektive, soziale Trauma-Strukturen frieren den Fortschritt und die Wandlungsfähigkeit ein und reduzieren die kollektive Intelligenz, die notwendig ist für die lokale und globale Kollaboration, um die großen Themen unserer Zeit kreativ zu meistern. Kollektive Achtsamkeit ist Teil des Rufs und Heilmittels des 21. Jahrhunderts. 

Thomas Hübl, moderner Mystiker und spiritueller Lehrer, Gründer der Academy of Inner Science.

Melaine MacDonald

Wie Atmen zum Leben gehört, so ist gegenseitige Offenheit und echtes Interesse das, was Leben zwischen Menschen ermöglicht. Wir erleben das vielfach in überraschenden Begegnungen oder in einer lange gepflegten, guten Zusammenarbeit. Wenn eine aktive, griffige, flüssige Interaktion im Gange ist – ob in einer Bewegungsimprovisation, einer Konferenz, in jeder Form von Zusammenspiel oder Zusammenarbeit –, werden Sinn und Leben tragend und spürbar. Und jeder kommt offener für den anderen und zielgerichteter aus dieser Begegnung. 

Handeln mit bewusstem Fokus und Präsenz in gemeinsamen Momenten und Prozessen bedeutet, dem, was gerade geschehen will, eine Gestalt zu geben. Das ist eine andere Dimension der Aufmerksamkeit. Empfangen und Geben sind hier ganz dicht beieinander, sie verschmelzen in ein differenziertes Miteinanderschaffen. 

Diese Qualitäten erlebe ich in ursprünglicher Weise bei der somatischen Bewegungsarbeit, Bewegungsimprovisation und im eurythmischen Forschen und Schaffen. In »Bewegungsbegegnungen« und im Vertiefen der eigenen Einsicht, wer wir als Menschen sind, wie wir uns bewegen und aus welchen Impulsen und Intentionen wir agieren, entsteht eine Verantwortung und Verbundenheit mit anderen Menschen aber auch mit der Vielfalt der Lebensformen und mit dem Leben allgemein. Sich zusammen zu bewegen, ist nicht der einzige Weg, aber ein sehr griffiges und direktes Praxisfeld, um eine achtsame Aktivität handfest zu üben und zu entfalten. Wie wäre es, wenn unsere Politiker in ihrem Zusammenkommen selbstverständlich solche Bewegungspraxis nutzen würden, um sich für neue Sichtweisen, Lösungen und Inspirationen zu öffnen? 

Prof. Melaine MacDonald, Bewegungskünstlerin und Professorin im Fachgebiet Eurythmie an der Alanus Hochschule.

Shelley Sacks

Achtsamkeit bedeutet, dass Menschen achtsamer, aufmerksamer und wertschätzender ihre Verbundenheit mit allem wahrnehmen – vom Atem, den Gedanken und dem täglichen Handeln bis hin zu den Ereignissen in ihrer Umgebung. Dieses Gewahrsein wird oftmals zu einer Kraft, die Menschen mobilisiert, ihr Verhalten und ihre Lebensweise zu verändern. Aber ihre sozialen Ausdrucksformen sind sanft und werden leicht durch den Kapitalismus manipuliert und durch die kumulativen Effekte der individuellen Veränderungen der Lebensweise begrenzt. In der kollektiven Achtsamkeit, die sich in den letzten Jahren verstärkt entwickelt hat, zeigt sich etwas anderes. Wenn Achtsamkeit und Gewahrsein für unsere Rolle bei der Störung dieser Verbundenheit so verbreitet sind wie heute, werden sie zu einer moralischen Kraft für verbundene Transformation, die Gandhi »satyagraha« oder Kraft der Wahrheit nannte. 

Aber Solidarität und kollektives Handeln sind nicht neu. Was ist so besonders an der wachsenden globalen Bewegung der indigenen Schützer der Erde, den Schülern und Schülerinnen, die ein Handeln gegen den Klimawandel fordern, oder Gruppen wie »Extinction Rebellion«? In einem ausbeutenden System, das von individuellen Vorteilen abhängt, basiert ein kollektives Handeln nicht notwendigerweise auf einem Bewusstsein unserer Verbundenheit und Fürsorge. Es kann auch die Solidarität der Ausbeuter sein und durch Eigeninteresse genährt werden. 

Aber obwohl in den erwähnten Bewegungen auch Eigeninteresse eine Rolle spielt, kommt ihre Leuchtkraft aus der Achtsamkeit für unsere menschliche Verantwortlichkeit und dem kollektiven moralischen Willen, das Leben vor weiterer Vernichtung zu schützen. Könnte dies das erste klare Zeichen eines gesunden, globalen »Sozialen Myceliums« sein, das wachsen und unsere Zivilisation, wie wir sie kennen, transformieren wird? 

Prof. Shelley Sacks, international tätige Künstlerin, ehem. Leiterin der Social Sculpture Research Unit an der Universität Oxford.

Kazuma Matoba

Wenn wir in den Nachrichten leidende Menschen sehen – wie Kinder in Hungersnot in Afrika oder eine weinende Mutter mit ihrem getöteten Kind in Syrien –, fühlen wir uns betroffen und können uns in diese Menschen einfühlen. Dies geschieht häufig, der Eindruck bleibt aber nicht dauerhaft, weil es uns einfach zu viel wird und wir uns nicht immer damit beschäftigen möchten. So können wir ohne berührt zu werden unsere alltäglichen Aufgaben erledigen. »Trotz der Tragödien der Welt ist mein Tag heute in Ordnung.« Diese Alltagsgedanken sind tief in einem individualistischen Dualismus verwurzelt: Ich und die Welt sind voneinander getrennt.

Durch Klimawandel und -katastrophe beginnen wir allmählich zu begreifen, dass es sich dabei um die Konsequenz unseres Konsumverhaltens handelt. Über diese wichtige Lektion hinaus müssen wir in eine nächste Evolutionsphase eintreten, in der wir alles als Konsequenz unseres Denkens und Handelns betrachten können. Denn wir sind miteinander und mit der Welt verbunden. So können wir leidende Menschen im Glauben bezeugen, dass wir nicht von ihnen getrennt sind, sondern wir und sie zu einem großen System gehören. Von dieser Perspektive aus können wir eine »neue kollektive Achtsamkeit« definieren und praktizieren. Genauso, wie wir bei Meditation mit Körper, Gefühlen und Geist achtsam umgehen, können wir kontemplativ anderen Teilen unseres ganzen Sozialkörpers Aufmerksamkeit schenken.

Prof. Dr. Kazuma Matoba, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Witten/Herdecke.

Johannes Greiner

Je achtsamer ich lebe, desto tiefer nehme ich wahr, desto farbiger und reicher ist die Welt und sind die Begegnungen. Auch mit mir selber bin ich stimmiger verbunden, wenn ich meine Achtsamkeit auf die Menschen, Tätigkeiten und Dinge richte, mit denen ich zu tun habe. Ich fühle die Welt und mich selber realer, wenn ich meine Achtsamkeit steigere. Ich bin intensiver da und kann dadurch allem auch tiefer begegnen. 

Wirkliche Achtsamkeit kann nur frei erbracht werden. Man kann sie auch nicht kollektiv fordern. Sie ist ein Geschenk. Durch die frei erbrachte Achtsamkeit kann in einer Begegnung ein innerer Raum entstehen, der alles Störende vergessen macht, und eine Sphäre schafft, die fern von Raum und Zeit eine bessere Welt ahnen lässt. In einer achtsamen Begegnung können wir nicht nur den anderen Menschen sehen – wir erleben auch uns selbst intensiver. Außerdem kann etwas entstehen, was keiner allein bewirken kann, was sich nur durch die gemeinsame offene Achtsamkeit ermöglichen lässt. Das kann auch ausgedehnt werden auf Gruppen von Menschen, die ihre Achtsamkeit für das Entstehen eines Verbindenden oder Weiterführenden zur Verfügung stellen. Ich möchte das die »inspirierte« oder vielleicht noch treffender die »geniale Gruppe« nennen. Was früher herausragende Genies hervorbringen konnten, vermag heute eine gut zusammenarbeitende Gruppe zu tun. Die Bewusstseinssubstanz, welche eine solche Inspiration möglich macht, ist die Achtsamkeit. Achtsamkeit ist im tieferen Sinne Liebe. Liebe zum Moment, Liebe zum Entstehenden, zum anderen Menschen, zu mir selbst und zu dem, was uns verbindet.

Johannes Greiner, Musiker, Waldorfpädagoge und Autor.

Author:
evolve
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