Im Westen nichts Neues?

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

October 26, 2015

Featuring:
Gert Scobel
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Issue:
Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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ENTWICKLUNG IN ZEITEN DES INTERNETS


Zweifellos waren die letzten hundert Jahre abendländischer Geschichte eine doppeldeutige Entwicklung: Grosse menschheitliche Fortschritte stehen neben mörderischen Katastrophen. Wir sprachen mit dem Philosophen und Fernsehjournalisten Gert Scobel über seinen Blick auf unseren Weg im Westen.

evolve: Welche idengeschichtlichen Einflüsse waren Ihrer Ansicht nach in den letzten 100 Jahren in unserer westlichen Welt prägend?

Gert Scobel: Das ist eine ganze Vielzahl von Strömungen und Entwicklungen, die man einzeln genauer betrachten müsste. Wir können einerseits einen Prozess der Säkularisierung von Religion beobachten, den beispielsweise Charles Taylor untersucht hat. Gleichzeitig haben sich die Religionen auch weiter ausdifferenziert und dabei versucht, Antworten auf »neue« Probleme zu finden. Dazu gehört u. a. die massive Etablierung der Wissenschaften, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, in Gestalt der Technik, die in unser Leben eingreift. Diese Entwicklung der Wissenschaft stellt uns aber immer wieder auch vor philosophische Fragen, denn wir haben zwar eine Theorie des Urknalls, aber wo der Urknall herkommt, wissen wir damit immer noch nicht. Im Grunde erinnern die neusten astrophysikalischen Versuche, die Zeit vor dem Urknall zu rekonstruieren, an Versuche mythologischen Denkens, die schon sehr alt sind.

Nicht zu vergessen sind aber auch die Errungenschaften der letzten hundert Jahre, zu denen die sozialen Revolutionen zählen, die sich inzwischen institutionalisiert haben, wie es sich bei Rentenschutz oder garantiertem Urlaub zeigt. Es gibt zwar Verstöße gegen diese Errungenschaften und leider auch Menschen, die durch das Raster fallen, aber im Großen und Ganzen gibt es hier einen Fortschritt. Gleichzeitig sehen wir aber verheerende Kriege mit einer immer weiter fortschreitenden Technisierung, was fatale Folgen nach sich zieht. Im 20. Jahrhundert haben wir zudem das Abdanken großer sozialer Entwürfe etwa des Kommunismus und eine weitgehende Ökonomisierung der Lebenswelten erlebt. Parallel dazu versuchen andere Ideen, diesen freigewordenen Platz zu übernehmen.

Im Hinblick auf unsere Lebensumwelt zeigen sich globale Veränderungen, mit denen wir heute erstmals gemeinsam und global umgehen müssen – das ist neu, das hat es in der Form noch nicht gegeben. Zu dieser globalen, veränderten Lebenswelt gehören nicht nur die Energie- und Umweltkrise, sondern auch die weitgehend universale Verfügbarkeit von Informationen, zumindest in der westlichen Welt, aber auch in Asien und den arabischen Ländern, wenn wir es nicht gerade mit Zensur zu tun haben.

e: Heute beobachten wir zunehmend auch eine Konfrontation zwischen Fundamentalismen verschiedener Art, wie im radikalen Islam im Nahen Osten oder dem christlichen Fundamentalismus der Tea-Party-Bewegung in den USA, und einem säkularen Verständnis von Menschenrechten und Demokratie. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

GS: Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich etwas Neues ist. In Krisenzeiten gab es immer die Tendenz, sich an der Vergangenheit zu orientieren und auf das zurückzugreifen, was sich scheinbar bewährt hat, etwa die Idee der Nation. Die Konfrontation mit dem Fundamentalismus hatten wir schon zwischen 800 und 1100 n. Chr. in Toledo und in Granada in Andalusien, wo Muslime, Christen und Juden über mehrere Jahrhunderte unter muslimischer Führung zusammenlebten.

Damals gab es auch christlichen Fundamentalismus auf regionaler Ebene in vielen Gebieten, die heute zu Europa zählen. Ich bin mir also nicht sicher, welche der momentanen Entwicklungen wirklich neu sind, oder ob wir nur glauben, dass es neue Phänomene sind, weil wir heute zwar eine 24-stündige Echtzeitkommunikation via Internet und elektronische Medien haben, zuweilen aber die geschichtlichen Entwicklungen, die es bereits gab, vergessen.

e: Worin sehen Sie wirklich neue Entwicklungen, die es so vorher noch nicht gab? Man kann ja nicht sagen, dass einfach alles eine Wiederholung ist.

GS: Nein, es wäre naiv, zu sagen, alles ist nur eine Wiederholung, weil dies die Besonderheiten oder Eigenheiten der Zeit verkennen würde.

Ein Beispiel: Wir können Kriegsführung nach Auschwitz nicht mehr so betrachten wie davor, weil diese Form von technisiert-­bürokratischer Massenvernichtung, die optimal organisiert wurde, eine historische Neuheit war. Das markiert sicher eine Wende in unserem Verständnis militärischer Auseinandersetzungen.

Ihre Frage beinhaltet aber wohl auch den Gedanken, ob wir uns auch auf menschlicher Ebene verändern. Und ich bin mir nicht sicher, ob wir uns als Menschen wirklich verändert haben. Wenn Sie mich als Neurowissenschaftler oder als Biologen fragen würden, dann würde ich antworten, dass sich unser Gehirn in den letzten 20 000 bis 30 000 Jahren nicht verändert hat, also dass die grundlegende Hardware dieselbe ist.

Die Art und Weise, wie Sie oder ich jetzt Angst empfinden, ist dieselbe, die unsere Vorfahren vor 40 000 Jahren empfunden haben, auch wenn wir Säbelzahntiger nur noch aus dem Kino kennen. Möglicherweise haben sich die Dinge, vor denen wir Angst haben, etwas verändert, aber grundlegend sind es immer noch dieselben Situationen: die Angst zu sterben, zu verhungern, zu verdursten, gefoltert oder getötet zu werden. Das sind die Urängste, mit denen wir es heute auch zu tun haben.

e: Haben sich diese Ängste nicht dadurch verändert, dass uns heute nicht nur unser direktes Umfeld, sondern die ganze Welt zugänglich ist? Gibt es vielleicht auch neue Ängste, die mit dem Infragestellen unserer Identität in einer globalen Welt mit einer zunehmenden Komplexität zu tun haben?

GS: Seit den 60er Jahren hat sich die Anzahl der Menschen, die auf unserem Planeten leben, verdoppelt. Das bleibt nicht ohne Folgen. Damit ist aber nicht gesagt, dass es einfacher wäre, meinen Nachbarn zu verstehen, als jemanden, der vielleicht zugewandert ist. Es kann sein, dass ich mit meinem Nachbarn viel größere Probleme habe, obwohl wir aus dem gleichen kulturellen Kontext kommen.

Die Angst vor dem Neuen, Unbekannten, gab es schon immer. Neue Entwicklungen waren uns schon immer zu komplex, zu schwierig, zu bedrohlich und zu groß. Gleichzeitig haben wir heute das Gefühl, dass sich etwas qualitativ verändert hat. Das hängt aber auch damit zusammen, dass wir aus unserem Schlaf erwachen, in dem wir seit den 70er Jahren lebten. Wir haben der Idee vertraut, dass wir allein durch die Einführung der freien Marktwirtschaft in anderen Ländern einen Prozess der Demokratisierung anstoßen können. China ist ein gutes Beispiel dafür, dass das nicht der Fall ist.

¬ DIE ANGST VOR DEM NEUEN, UNBEKANNTEN, GAB ES SCHON IMMER. ¬

e: Welchen Stellenwert hat dann für Sie die Idee einer geschichtlichen Entwicklung?

GS: Die Geschichte entwickelt sich; wir können eine Welt, in der sich das Internet als Alltagsinstrument etabliert hat, nicht mit einer Welt Anfang der 70er Jahre vergleichen. Das Internet ist eine neue Entwicklung, die uns vor ganz neue globale Herausforderungen stellt.

Und mit Hinblick auf geschichtliche Entwicklung generell würde ich sagen: Ja, wir entwickeln uns ständig weiter, aber unser Zögern, eine der vielen Entwicklungsrichtungen als die einzig Richtige zu bezeichnen, ist größer geworden. Warum? Weil speziell im 20. Jahrhundert zu viele unserer großen Ideologien gescheitert sind. Es ist ein Grundprinzip der Evolution, dass es in ihr keine Teleologie, kein letztes Ziel gibt, auf das sie zusteuern würde.

e: Sehen Sie in der Spiritualität Entwicklungen mit einer Qualität des wirklich Neuen?

GS: Durch die Begegnung der Kulturen entstehen sicher neue Formen von Spiritualität. Ob es sich dabei um vollkommen neue Formen handelt oder die Weiterentwicklung oder Evolution schon bestehender Traditionen wie dem Buddhismus, ist momentan sehr schwer zu sagen. Das hängt sicher auch davon ab, von welchen Menschen wir sprechen. Wenn wir Amerikaner im Bible-Belt meinen, dann kann man Ihre Frage sicher verneinen: Neu ist dieser Fundamentalismus gerade nicht. Wenn wir aber in bestimmte Ashrams oder Meditationszentren an der amerikanischen Ost- oder Westküste oder in Berlin, Barcelona und anderen Großstädten gehen, finden wir neue Entwicklungen von Spiritualität. Eine Institution wie das Mind & ­Life Institute, das aus der Begegnung des Neurowissenschaftlers und Biologen Francesco Varela und des Dalai Lama entstanden ist, um Buddhismus und Wissenschaft in einen Dialog zu bringen, ist ein Beispiel für diese neue Qualität. Ein anderes Beispiel ist die Meditationsforschung: Nie zuvor wurden meditative Zustände so gründlich untersucht. Aus diesen Forschungsergebnissen und der Begegnung von Wissenschaft und Spiritualität ergeben sich neue Hinweise auf die Natur der Meditation oder unseres Selbstbewusstseins. Ich vermute also, dass der Buddhismus, der vom Westen nach Asien »re-­importiert« wird, diesen auch in seinen Ursprungsländern allmählich verändert. Ähnliches gilt auch für andere große Religionen, die sich derzeit im Kontext einer globalen Welt wandeln.

e: Würden Sie so weit gehen, von einer Renaissance der Religionen zu sprechen?

GS: Ich bin nicht der Ansicht, dass wir von einer Renaissance der Religionen sprechen können. Vielmehr erwachen wir aus einer Illusion, die sich in den 60er Jahren entwickelt hat, dass wir in ein oder zwei Generationen in der Lage sein werden, die Religion abzuschaffen. Aber während der letzten Jahrzehnte waren die Religionen nicht weniger aktiv als vorher oder nachher. Den Grund für das Gefühl einer angeblichen Renaissance der Religionen sieht zum Beispiel Jürgen Habermas darin, dass mit den Religionen Grundbedürfnisse und Kommunikationsweisen verbunden sind, die sich nicht einfach durch eine instrumentelle rationale Lebensweise ersetzen lassen, wie wir vielleicht noch vor 20 Jahren geglaubt haben. Daraus zu folgern, dass es eine Renaissance gäbe, wäre jedoch falsch. Religionen wird es weiterhin geben. Die Frage ist jedoch, welche Ansprüche an die existierenden Religionen in einer demokratisch-­säkularen Gesellschaft von den Menschen, die nicht der Religion angehören, erhoben werden können. In einer säkularen Gesellschaft haben wir den Anspruch, dass man nicht darunter zu leiden hat, wenn man nicht zu einer bestimmten Kirche gehört. Kein Christ zu sein, darf ebenso wenig ein Hindernis für den »Anschluss« an unsere Gesellschaft sein, wie der Umstand, dass ich Moslem bin. Insofern hat sich wirklich etwas verändert. Wir begreifen Religion und Spiritualität als Teil einer Lebensform, die in einem gesellschaftlichen, institutionellen und juristischen Rahmen verankert ist, den keine Religion mehr sprengen sollte.

Author:
evolve
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