In welchem Kosmos leben wir?

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Interview
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November 7, 2019

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Ausgabe 24 / 2019:
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November 2019
Offene Heimat
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Ein existenzieller Blick

Für den Philosophen Jochen Kirchhoff scheint im Kosmos eine Geistigkeit und Seelenhaftigkeit des Ganzen auf. Und unserer menschlichen Erkenntnisfähigkeit sind diese tieferen Schichten des Daseins zugänglich. Wo sind wir zuhause, wenn wir die Welt als dieses Mysterium wahrnehmen, das wir zugleich selbst sind?

Bild: Christian Kreisel

evolve: Der Kosmos, wie ihn uns die Naturwissenschaft erklärt, ist ein großes intergalaktisches, materielles Geschehen. Sie sehen den Kosmos aber mit einem anderen Blick. Man könnte ihn einen geistigen, vielleicht auch existenziellen Blick auf den Kosmos nennen. Aus Ihrer Sicht gesprochen, kann uns der Kosmos so etwas wie Heimat sein?

Jochen Kirchhoff: Wenn man den Kosmos nur als dieses riesige materiell-energetische System versteht, dann ist es natürlich schwierig, hier von einem Heimatgefühl zu sprechen. Aber das ändert sich, wenn man ihn nicht nur als ein materielles komplexes System sieht, sondern wenn man ihn als durchpulst und durchseelt erlebt. Es gibt meines Erachtens so etwas wie einen Kosmos hinter dem Kosmos. Ist es berechtigt, neben dem materiellen, physischen Kosmos von einem geistig-seelischen Kosmos zu sprechen?

Wenn es eine Geistigkeit und Seelenhaftigkeit des Ganzen gibt, dann ist es auch möglich, in diesem Ganzen zu Hause zu sein. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass das, was diesen Kosmos eigentlich ausmacht, auch das ist, was uns ausmacht. Unser Quellgrund und der Quellgrund des Kosmos sind identisch. Damit berühren wir eine Tiefenschicht, in der wir beginnen, uns selbst als kosmische Existenz zu verstehen. Das ist zugegebener Weise eine vollkommen andere Sicht des Kosmos, die auf einem Vertrauen auf die unmittelbare Erkenntnisfähigkeit des Menschen beruht. Es ist ein tiefes Vertrauen darin, dass der Mensch die Fähigkeit hat, in seiner Erfahrung in eine sehr tiefe Schicht einzudringen.

Der Zauber des Sternenhimmels

e: Da könnte man natürlich sagen: »Herr Kirchhoff, das ist ein wunderschöner Gedanke, aber vielleicht auch nur eine schöne Fantasie. Wie soll es möglich sein, unmittelbar in ein solche Tiefe einzudringen?«

JK: Wenn wir einfach den Sternenhimmel betrachten und erlauben, dass diese visuelle Wahrnehmung unsere Seele berührt, empfindet jeder – außer man ist völlig verschlossen und borniert – so etwas wie Resonanz. Irgendetwas in unserer Wahrnehmung resoniert. Man empfindet sich nicht nur als der Blickende. Es scheint, als würde man auch irgendwie angeblickt werden. Da ist eine Verbindung und die hat auch etwas wirklich Erschütterndes. Das kann manchmal so sein, als würde ein Schleier über dem Sternenhimmel hängen, und plötzlich reißt er auf. Das kann auch einen trockenen Rationalisten in der Seele packen. Da rührt einen etwas an. Es gibt ja selbst in den materialistischen Naturwissenschaften gelegentlich eine tiefe Bewunderung für den Kosmos.

Wenn ich persönlich in den Sternenhimmel blicke, dann sehe ich in ein lebendiges Ganzes und ich fühle mich angeblickt und bin mit etwas tief in Resonanz.

Es gibt meines Erachtens so etwas wie einen Kosmos hinter dem Kosmos.

e: Diesen Blick auf den Kosmos, den Sie hier beschreiben, spielt in unserem öffentlichen Diskurs und Verständnis des Kosmos aber eigentlich keine Rolle.

JK: Ja, dort gilt nur der naturwissenschaftliche, objektive, naturalistische Blick. Aber es gibt eine andere, eine Tiefenverbindung. Und ich bin der Auffassung, dass wir alle aufgerufen sind, etwas pathetisch gesprochen, diese Verbindung ernst zu nehmen, und uns auch als kosmische Wesen wahrzunehmen.

Das Geheimnis des Lichts

e: Aus diesem anderen Blick haben Sie ja auch ein anderes Verständnis von Physik entwickelt. Wenn Sie von Licht sprechen, meinen Sie primär nicht etwas, das auf eine mathematische berechenbare Wellenlänge herunterbrechbar ist. Sie versuchen hier etwas viel Unmittelbareres zu bedenken und zu sehen. Licht, ganz egal, ob man es jetzt physikalisch, geistig oder metaphorisch versteht, berührt. Es ist eine universelle, menschliche Erfahrung.

JK: Das Licht als solches ist physisch und immateriell zugleich. Was meinen wir mit einem geistigen oder seelischen Licht und was ist das sogenannte physische Licht? Es gibt, genau genommen, gar kein physisches Licht. Licht ist eigentlich immer das Gleiche. Man könnte das Faszinierende beim Licht auch so verstehen, dass es eine Manifestation des Spirituellen schlechthin ist.

e: Zumindest wird es in vielen spirituellen Traditionen so verstanden. Aber wenn Sie das Licht oder den Kosmos ansprechen, dann tun Sie dies aus einem bestimmten, unmittelbaren, ich würde sagen, existenziellen Blick. Dieser Blick geht erstmals jeder Abstraktion voraus. Wir tun ja meist so, als wären unsere Abstraktionen das Selbstverständliche und Erste. Deswegen ist Ihre Art zu denken eine Provokation. Und sie nötigt uns zumindest, in unseren Selbstverständlichkeiten einmal inne zu halten.

JK: Wenn das wirklich so ist, wäre das wunderbar. Diese metaphysische Grundwahrnehmung, die der Mensch besitzt, gehört meiner Überzeugung nach zur Grundwürde des Erkennens überhaupt. Der abstrakte Kosmos der materialistischen Naturwissenschaft ist ja im Grunde genommen von einer absoluten Trostlosigkeit. Selbst Einstein glaubte nicht daran. Mit gewissen Abstrichen sah er eine Weltharmonie des Kosmos, in der etwas Göttliches am Wirken ist. Aber in unserer wissenschaftlich-materialistischen Weltsicht gilt es als Tugend, dass man die Sinnlosigkeit und das Absurde erträgt und den Tod als endgültiges Ende akzeptiert. Wer das nicht akzeptiert, der hängt alten, längst überwundenen Vorstellungen nach.

Sloterdijk bringt diese Haltung brutal auf den Punkt, wenn er sagt, das Projekt der Weltseele sei gescheitert. Wir müssten unsere kosmische Verlorenheit akzeptieren, alles andere seien Fantasien.

Die Andersheit des Ganzen

e: Wenn wir akzeptieren, dass wir in einem sinnentleerten Ganzen leben, wird natürlich alles, was wir Heimat nennen, irgendwie künstlich, etwas Konstruiertes, weil wir unsere eigentliche Verlorenheit und damit auch Heimatlosigkeit akzeptieren müssen.

JK: Genau, und für mich ist der Kosmos aber in dem Sinne eine Heimat, dass ich hier eigentlich zu Hause bin, sogar als mehr als in meinem physischen Körper auf der Erde. Ich liebe den Körper, und alles, was damit zusammenhängt. Trotzdem ist der physische Tod eine ungeheure Herausforderung und ich bin der Auffassung, dass im Körper eine Seinsqualität des Menschen lebt, die den physischen Tod überschreitet.

e: Sie sprechen ja auch manchmal von der »Andersheit« des Ganzen. Und meinen damit, dass es so etwas wie eine andere Seite des Universums gibt, die wir oft übersehen.

JK: Danke, ja! Genauso ist es: die Andersheit des Ganzen. Das ist ein schöner Begriff und in dieser Wahrnehmung kann ich dann auch Lebendigkeit anders begreifen. Ich kann mich als lebendiges Wesen in einer lebendigen Welt, in einem lebendigen Kosmos sehen.

Ich kann mich als lebendiges Wesen in einem lebendigen Kosmos sehen.

e: Das wird ja oft also romantisches Zeug belächelt, mit dem unsere Naturwissenschaft aufgeräumt hat, aber Ihre Arbeit zeigt, dass man durchaus auch aus einem aufgeklärten, kritischen Denken zu solchen Annahmen kommen kann. Das ist nicht unbedingt kindlich und naiv.

JK: Richtig

e: … unabhängig, ob man Ihnen jetzt in allen Gedankengängen folgt

JK: Genau, das muss man auch gar nicht

e: Allein, wenn man sich auf diese gedankliche Provokation einlässt, lichtet sich ein Bann der Wahrnehmung und des Denkens und es zeigt sich eine andere Möglichkeit. Der Kosmos ist nicht unbedingt eine große, kalte Leere, die mit uns keine Beziehung hat. Die gängige Naturwissenschaft spricht ja davon, dass wir letztlich in einer toten Welt leben. Wir denken dieses naturwissenschaftliche Weltbild nur meistens nicht wirklich zu Ende.

JK: Ja, würde man es zu Ende denken, käme man zu einem Ergebnis, das einem wahrscheinlich nicht schmeckt. Wenn man hier einen anderen Blick wagt, öffnet sich die Wahrnehmung dafür, dass die Welt, in der wir leben, ein Mysterium ist. Der Raum selbst beispielsweise ist ein unvorstellbares Mysterium, ähnlich wie die Zeit. Der Raum selbst ist für mich als solcher lebendig. Er ist das Unsichtbare schlechthin. Er steht in Beziehung zu uns, er durchpulst uns lebendig und er ist gewissermaßen die Urquelle des Lebendigen. Ich frage in meinen Seminaren manchmal: Ist der Raum eigentlich innen oder außen? Er ist auf eine eigenartige Weise eben beides, der Raum ist innen und außen, allein das ist ja schon ein Rätsel. Jemand wie Sloterdijk kann sich damit natürlich nicht abfinden und erklärt, der veräußerlichte Raum ist die Grundgegebenheit der modernen Welt.

Aber aus meiner Sicht ist der Raum ein Mysterium und er kann sich auch öffnen und dann kann er eine tosende Welt von Leben und Farben enthüllen. Die Grundfrage bei all dem ist ja: In welcher Welt, in welchem Kosmos leben wir eigentlich?

Author:
Dr. Thomas Steininger
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