integrale nachhaltigkeit

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 14, 2015

Featuring:
Nicanor Perlas
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Issue:
Ausgabe 07 / 2015
|
July 2015
Die Zukunft in uns
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Was ist soziale Transformation?

Die Bereiche Politik, Wirtschaft und Kultur stehen heute meist getrennt nebeneinander. In Nicanor Perlas’ Ansatz einer integralen nachhaltigen Entwicklung werden sie in einen intensiven Austausch gebracht, um tiefen inneren und äußeren Wandel zu ermöglichen und konkret umzusetzen.

evolve: Was ist soziale Transformation?

Nicanor Perlas: Ich verwende lieber den Ausdruck »gesellschaftliche Transformation«. Gesellschaftliche Transformation beinhaltet die Neuorientierung und Neuausrichtung der Grundannahmen und Werte in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in Richtung einer integralen nachhaltigen Entwicklung, kurz ISD (Integral Sustain­able Development). Die Gesellschaft ist komplex und die Herausforderungen sind systemisch und vielfältig. Ein integraler Ansatz ist absolut zentral für jede Gesellschaft, die sich sinnvoll entwickeln will.

In unserem Zusammenhang hat ISD sieben Dimensionen. Die ­ersten drei sind die kulturelle, wirtschaftliche und politische Dimension der Gesellschaft. Sie haben zwar jede ihre eigenen Qualitäten und Abläufe, doch interagieren diese drei Dimensionen auf komplexe, emergente Art und Weise. Armut beispielsweise kann man nicht nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachten. Sie hängt auch mit den politischen Gegebenheiten eines Landes und den vorherrschenden Mentalitäten sämtlicher Gesellschaftsebenen zusammen. Die Wirklichkeit, die sich daraus ergibt, ist die vierte, die gesellschaftliche Dimension von ISD.

Jede Gesellschaft, ohne Ausnahme, existiert nur aufgrund der gewaltigen ökologischen Ressourcen, die die Natur der menschlichen Gesellschaft zur Verfügung stellt. Ein integraler Zugang zur nachhaltigen Entwicklung muss also ökologische Verantwortung be­inhalten. Die fünfte Dimension ist daher die ökologische.

Die sechste Dimension ist die menschliche. Sie muss sicherstellen, dass der angemessene gesellschaftliche Kontext geschaffen wird, der die Entwicklung wahrhaft freier, informierter, fähiger und verantwortlicher Menschen fördert, die danach streben, ihr höchstes menschliches Potenzial zu verwirklichen.

Die siebte Dimension ist die spirituelle. Durch die Wissenschaft lernen die Menschen die evolutionären Prozesse in Natur und Universum immer besser kennen und dabei tritt die spirituelle Dimension – in den außerordentlichen Entdeckungen der Neurowissenschaften, der Epigenetik, der Astrophysik und der aktuellen Forschung in weiteren Grenzgebieten – immer klarer zutage.

e: Woran arbeiten Sie zurzeit?

NP: Wir versuchen zu zeigen, dass es möglich ist, ISD auf der Ebene einer ganzen Stadt umzusetzen. Wir arbeiten in einer der ärmsten Städte in der Provinz Iloilo auf einer der zentralen Inseln der Philippinen. Wir versuchen, dabei zu helfen, die Stadt von einem auf den Staat zentrierten zu einem gesellschaftsorientierten Entwicklungsansatz zu bringen. Konventionelle Verwaltung ist auf den Staat zentriert, folgt den Notwendigkeiten und politischen Imperativen und gestaltet die Wirtschaft so, dass sie den Interessen der Mächtigen dient. Eine auf den Staat zentrierte Verwaltung schließt daher oft die große Mehrheit der Bevölkerung aus. Im Gegensatz dazu berücksichtigt ein gesellschaftsorientierter Ansatz, den wir als strategische dreigegliederte Partnerschaft bezeichnen, dass die drei zentralen Sphären oder Dimensionen der Gesellschaft jeweils eine unterschiedliche innere Logik und auch unterschiedliche Möglichkeiten haben. Die Währung der Politik beispielsweise ist Macht, die Währung der Wirtschaft ist Geld und kontextualisierende Vorstellungen sind die Währung der Kultur. Bei diesem Ansatz verbinden wir die unterschiedlichen Ressourcen, Talente, Netzwerke und Werte der Stadtverwaltung (in der Politik), der Firmen (in der Wirtschaft) und der Zivilgesellschaft (in der Kultur), um »lösungsorientierte Ökosysteme« zu schaffen.

e: Wie sind Ihre Erfahrungen? Was funktioniert, was nicht?

NP: Der Schlüssel bei der Herausbildung eines lösungsorientierten Ökosystems ist gegenseitiges Vertrauen unter den gesellschaftlichen Hauptakteuren. Strategiekonferenzen aller Art sind immens wichtig, um das Vertrauen zu entwickeln, damit sich die strategischen dreigegliederten Partnerschaften bilden können. Zu diesem Prozess gehört eine partizipatorische Verwaltung, die sicherstellt, dass alle wichtigen gesellschaftlichen Segmente eingebunden sind.

e: Wie verhält sich die persönliche Entwicklung der Akteure zu den systemischen Herausforderungen?

NP: Die innere Haltung der Einzelnen ist absolut wesentlich, damit solch eine Initiative möglich wird. Es braucht die innere Kraft, um mögliche Zweifel als Gelegenheit zu evolutionärem Lernen zu verstehen und so aus einer Herausforderung die Geburtsstunde einer innovativen Lösung zu machen. Transformatorische Entwicklung bedeutet notwendigerweise einen tiefen Wandel nicht nur der geistigen Mentalität, sondern auch des Bewusstseins und der Motiva­tionen. Wie dies in einer Situation gelingen kann, in der viele unterschiedliche Bewusstseinsstufen gegenwärtig und wirksam sind, ist eine der zentralen Herausforderungen für jeden strategischen Versuch, integrale nachhaltige Entwicklung umzusetzen.

e: Sie arbeiten auch viel mit jüngeren Menschen zusammen. Was empfehlen Sie der nachkommenden Generation?

NP: An der nachkommenden Generation begeistert mich, dass sie ein sehr tief gehendes Verständnis für die Notwendigkeit mitbringt, systemische und integrale Transformation auf der Basis eines profunden inneren Wandels umzusetzen. Die nachkommende Generation versteht dies jedoch erst in sehr allgemeiner Weise. Ich würde vorschlagen, dass junge Menschen diese Lebensorientierung verfeinern, damit das Potenzial, das sie in die Welt bringen, systematisch aktiviert werden kann. Sie könnten beispielsweise Trainings und Fortbildungen absolvieren, Initiativen ergreifen, Ausbildungen machen oder all diese unterschiedlichen Ansätze kombinieren. Aber das wirklich Neue und Evolutionäre daran ist, dass die kommende Generation all das auf einer tiefen Suche nach innerem Wandel und einer ernsthaften Meditations- und Kontemplationspraxis gründet.

Einstein wird oft zitiert mit seinem Ausspruch, dass ein Problem nicht mit demselben Bewusstsein gelöst werden kann, das ebendieses Problem hervorgebracht hat. Aber oft versteht man die vielen verschiedenen Stufen des menschlichen Bewusstseins gar nicht, die nötig sind, um Einsteins Einsicht in die Praxis umzusetzen. Ein Problem beispielsweise, das aus Egoismus entsteht, kann nicht mit einem egoistischen Bewusstsein gelöst werden. Man muss die größere Tragweite eines altruistischen, nondualen Bewusstseins erleben, und zwar nicht in der Theorie, sondern in der Erfahrung. Genauso schwierig ist es dann, den neuen Bewusstseinszustand durch konstante Praxis zu stabilisieren und einen Lebensstil zu entwickeln, der die Stabilisierung dieses neuen Bewusstseinszustands fördert. Dann kann man sich auf diesen neuen Bewusstseinszustand verlassen und ihn nutzbar machen, um die großen existenziellen Herausforderungen, vor denen die Menschheit heute steht, auf kreative Weise anzugehen.

Author:
Adrian Wagner
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