Internet und Bewusstsein

Our Emotional Participation in the World
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November 5, 2018

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Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
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Die Architektur von Computersystemen, ganz gleich ob als Großrechner, PC, Tablet oder Smartphone, ist der unserer neuronalen Strukturen, wie wir sie in unserem Gehirn vorfinden, nicht unähnlich. Zwar arbeiten Computer in erster Linie mit rasanter Geschwindigkeit Prozesse seriell, also nacheinander ab, wohingegen in neuronalen Systemen wie dem Gehirn, eine gigantische Anzahl von Prozessen langsam, aber hochgradig parallel, also gleichzeitig abläuft. Diese Parallelität weisen dennoch auch gewöhnliche Computerprogramme auf, da sie eine Vielzahl an funktionalen Einheiten (Objekte genannt) erzeugen, welche mit anderen Programmeinheiten kommunizieren und Informationen austauschen. Hinzu kommt, dass mittlerweile Milliarden von Computern weltweit parallel arbeiten, Informationen austauschen und verschiedenartigste Aufgaben erledigen. Obwohl unser Gehirn mit seinen etwa 100 Milliarden Nervenzellen das wohl komplexeste lebendige Organ ist, das wir kennen, haben wir es mit dem Internet in punkto Vernetzung damit bereits überholt. Und doch schreiben wir dem Internet noch nicht die Eigenschaft des Bewusstseins zu, denn dazu müsste uns »das Internet« eine Auskunft über sein zutiefst subjektives Erleben geben können. Offenbar kommt es nicht nur auf den Grad der Vernetzung an, es braucht mehr und dies lehrt uns bereits die Neuropsychologie.

Daten erhalten ihre Bedeutung erst durch das Zusammenspiel aus vorbewussten Mechanismen und der bewussten Re-flexion.

Definieren wir Bewusstsein als Betrachtung oder subjektives Erleben des Erscheinens einer Repräsentation (z. B. einem Bild), dann treten die digitalen Inhalte zunächst im Zusammenspiel von Mensch und Computer über Bildschirme in Erscheinung. Selbst wenn also das Internet per se noch nicht bewusst sein sollte, sitzt doch an fast jedem Endgerät ein menschliches Bewusstsein – bewusst, um zu betrachten, zu entscheiden und zu handeln. Und aufgrund der Vielzahl der »Bewusstseine« könnten wir hier auch von einem Hyper-Bewusstsein sprechen. Und dort wird es mit Bedeutung gefüllt, wozu unser eigenes neuro­nales Netzwerk Gehirn eine Brücke bildet. Und diese Bedeutung wird an das digitale Netzwerk weitergegeben als Bewertungen (Likes) oder als bedeutungsabhängige weitere Aktivitäten (Klicks und Botschaften). Aber würde das bedeuten, ohne diese Beobachter wäre das Netzwerk quasi »blind«? Dann würden Informationen zwar verarbeitet, wenn sie jedoch für niemanden relevant sein könnten, bliebe das Internet ein sinnloses Räderwerk mit quasi-autistischen Zügen. Doch auch hierüber hat sich das Internet bereits hinausentwickelt, denken wir an die Vielzahl intelligenter Algorithmen, die selbstständig wie Personen agieren, Inhalten Bedeutung zuweisen und das Verhalten des Netzwerks steuern und so bereits die Endnutzer wesentlich beeinflussen und gezielt selektierte Inhalte auf die Bildschirme steuern. Man denke hier an die Werbestrategien der Anbieter. 

In Bezug auf unsere anfängliche Frage heißt das: Entweder entwickelt das Internet hier tatsächlich etwas wie Bewusstsein oder Bedeutungszuweisung hat zunächst nichts mit Bewusstsein zu tun. Etwas spricht zunächst für Letzeres, denn wenn wir die Parallele zum menschlichen Bewusstsein ziehen, dann finden wir solche internet­ähnlichen Netzwerke auch dort, die Inhalte generieren, filtern, selektieren und unserem Bewusstsein präsentieren – als Ergebnis einer langen Verarbeitungskette. Wahrnehmung ist selektiv – dies basiert auf einem gut trainierten neuronalen Mechanismus, der vorbewusst darüber entscheidet, was uns bewusst werden soll. Auch wir haben also einen ständigen unbewussten »Big Brother« in uns, der unsere Wahrnehmung und unser Denken überwacht, filtert und aufbereitet, damit uns möglichst zweckmäßige Bewusstseinsinhalte erreichen sollen. Und ebenso, wie uns als Computernutzer immer nur ein winziger Ausschnitt des Gesamten zur Verfügung steht, kommt unserem Bewusstsein ebenfalls stets nur eine augenblickliche Selektion des Erlebensmöglichen »zu Gesicht«. Und doch wohnt gerade dem menschlichen Bewusstsein die entscheidende Kraft inne, die uns befähigt, diese vorbewussten Auswahlprozesse zu beeinflussen. 

Hier liegt eine wichtige Botschaft, die uns das Internet über unser Bewusstsein lehrt: Daten erhalten ihre Bedeutung erst durch das Zusammenspiel aus vorbewussten Mechanismen und der bewussten Re-flexion. Alles, was wir im realen und medialen Leben wahrnehmen und betrachten, erhält durch die Art und Weise unserer Aufmerksamkeitslenkung seine Bedeutung und Bewertung. Und das gilt sowohl für den digitalen als auch den innermenschlichen Bereich. Damit haben wir stets die Möglichkeit, Automatismen zu durchbrechen und sie nutzbar zu machen für das, was mehr ist als purer Mechanismus. Vielmehr sind wir dann in der Lage, menschliche Qualitäten wie Liebe, Wohlwollen, Mitgefühl, Vergebungsbereitschaft und Toleranz auch einem komplexen und mechanistischen Netzwerksystem entgegenzubringen. Und vielleicht wird bereits die nächste Generation des Internets sich der Implementierung dieser humanistisch-spirituellen Qualitäten ins digitale System annehmen und damit zur Rettung der Menschlichkeit in einem human-­digitalen Zeitalter beitragen.

Author:
Prof. Dr. Thilo Hinterberger
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