Jenseits der Besessenheit

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Published On:

January 24, 2018

Featuring:
Peter Sloterdijk
Tom Amarque
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Issue 17 / 2017:
|
January 2018
Die Postmoderne und darüber hinaus
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Die destruktive Dynamik der Postmoderne überwinden

In unserem Interview wirft der Autor Tom Amarque einen ungewöhnlichen und provokanten Blick auf die Postmoderne. Er spricht über die Wirkung eines Mutter-Archetyps, dessen destruktive Aspekte sich heute gegen seine eigenen Werte – und gegen uns – wenden. Zudem, so argumentiert er, ist unser Blick auf die Wirklichkeit durch Besessenheiten eingeschränkt, die uns den Zugang zu einer integrierenden Sicht verstellen. Wir haben Tom Amarque gefragt: Wie finden wir in dieser Situation einen kreativen Weg in die Zukunft?

evolve: Du hast dich in deinen Büchern intensiv mit der Frage beschäftigt, wie eine Entwicklung über die Postmoderne hinaus aussehen könnte. Welche Entwicklungen sind dir dabei besonders wichtig?

Tom Amarque: Eine wichtige Entwicklung sehe ich auf der Ebene der Archetypen. Archetypen könnte man als formgestaltende Kräfte bezeichnen, also Kräfte, die auf unser psychisches Leben einwirken und in gewisser Hinsicht symbolische Repräsentationen von biologischen oder frühen sozialen Ereignissen sind. Man denke etwa an Marienbildnisse, in denen sie Jesus Christus in die Luft hebt, während ihr Fuß Schlangen zertritt. Das ist offenbar die Darstellung einer frühmenschlichen Erfahrung, wo die Mutter ihr Kind vor Raubtieren schützt.

Betrachtet man die Postmoderne nicht nur als literarische oder philosophische Bewegung, sondern auch als eine Chiffre für soziale Bewegungen, könnte man sagen, dass sie auch eine feminin ausgerichtete Gegenbewegung zur eher maskulinen »patriarchalen« Moderne ist. Das sind natürlich nur Denkfiguren zur Vereinfachung. Nietzsche sprach in dieser Hinsicht von der ewigen Wiederkehr solcher archetypischen Formen. Die Hinwendung zu sozialer Integration von Minderheiten könnte man als eine Eigenschaft dieser femininen Kräfte deuten. Man denke an die politisch »egalitäre Linke«, die tatsächlich für soziale Gleichberechtigung und für eine gerechtere Gesellschaft im Allgemeinen kämpft, und die »autoritäre Linke«, die aktiv für Denk- und Sprechverbote eintritt. Man könnte dies nun auch als zwei Ausprägungen des Mutter-Archetyps beschreiben, nämlich der fürsorglichen und der erdrückenden Mutter, wie sie die alten indischen Kulturen etwa u. a. als Kali verstanden haben.

Das Problem, das ich derzeit sehe, hängt insofern mit mangelnder Differenzierung dieses Mutter-Archetyps und mit dessen Schattenseite zusammen, nämlich diesem erdrückenden Mutteraspekt, wie er unsere heutige Kultur durchwebt. Diese Schattenseite zeigt sich u.a. in einer ausgeprägten Anklägerkultur, begründet durch das Diktum Herbert Marcuses, man dürfe Gewalt gegen Rechts einsetzen, um Gewalt von Rechts zu unterdrücken. Man sieht es aber auch im sozialen Zwang zur politischen Korrektheit oder auch in einer ausgeprägten Opferhaltung, bei der oft ausgeblendet wird, dass jeder ein aktives Mitglied unserer Gesellschaft ist und damit an der Konstruktion der Wirklichkeit beteiligt ist.

Aus der Postmoderne und ihrem Credo der Toleranz wurde somit eine Bewegung, die physische und auch soziale Gewalt legitimiert, um ihre Toleranz durchzusetzen. Wie Kali frisst die Postmoderne damit ihre eigenen Kinder. Aus einer toleranten Bewegung wurde eine, die physische und auch soziale Gewalt legitimiert, um ihre Toleranz durchzusetzen. Das ist im Grunde ein Widerspruch, den schon der Philosoph Jürgen Habermas als performativen Widerspruch der Postmoderne erkannt hat.

Weil die Postmoderne ursprünglich auch eine Gegenbewegung zum Terror der Moderne war, tendierte sie stets dazu, alles Männliche und Maskuline als schlecht zu bezeichnen. Aber Peter Sloterdijk fragte in diesem Zusammenhang zu Recht: Was ist mit Thymos? Diese eigentlich männliche Kraft hat eine ganz schlechte Stellung in unserer heutigen Kultur. Alles, was maskulin stark auftritt, wird als der Archetyp des maskulinen Tyrannen gedeutet. Aber es gibt nicht nur den Tyrannen, den negativen Vater-Archetyp, sondern auch den guten König/ Vater. Aber die Postmoderne betrachtet – in ihrer Nähe zu Kali – alles Männliche als einen Ausdruck des bösen Vaters und des unterdrückenden Patriarchats. Aber wir brauchen auch die Integration des guten Vater-Archetyps, und dazu gehört auch die Erkenntnis, dass tatsächlich nicht alles, was das Patriarchat hervorgebracht hat, schlecht ist.

Viele Menschen sind von den Fragmenten der postmodernen Ideologie regelrecht besessen.

Opfer und Tyrannen

e: In der Postmoderne gibt es das gesellschaftliche Phänomen, dass es völlig legitim ist, sich als Opfer zu fühlen. Das hat mit der Absicht zu tun, den Opfern von Ungerechtigkeit und Unterdrückung eine Stimme zu geben. Im Extrem führt das aber zu einer Art Verherrlichung der Opferhaltung. Das führt dann dazu, dass selbst in der postmodernen Männerbewegung die Männer ihre Identität häufig als Opfer formulieren. Dabei verlieren wir aus dem Blick, dass wir alle Gestalter von Wirklichkeit sind. Die Opferrolle ist in der Hinsicht einfacher, dass man die Schuldigen an der eigenen Situation im Außen finden kann.

TA: Ja, in einer Welt, in der das Männliche und Starke stets nur als Ausdruck des archetypischen Tyrannen – des sexistischen, macht- und geldgierigen Mannes – gedeutet wird, ist es natürlich vollkommen legitim, sich als Opfer zu betrachten. Natürlich werden wir in vielerlei Hinsicht unterdrückt, sei es von den Kräften der Natur oder des Sozialen oder sogar von den Kräften unseres eigenen Unterbewusstseins. Aber es gibt auch das Motiv des guten Königs, der erneuert und erhält, der seine Opferhaltung überwindet und aktiv und stark der Welt entgegentritt, weder als Täter, noch als Opfer. In gewisser Hinsicht verkörpert er das Wahre, Gute, Schöne und Gerechte des Maskulinen. Der gute König, das ist beispielsweise Bill Gates, der sein Geld dafür einsetzt, global Cholera und Malaria auszurotten, und dazu beigetragen hat, den Weg ins Informationszeitalter zu bahnen.

Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen zur Postmoderne finde ich den Begriff der Besessenheit ganz treffend. Als ein zwanghaftes, ideologisches Festhalten an bestimmten Überzeugungen, die man nicht mehr hinterfragt oder zumindest für ein Gespräch öffnet. Es ist ja so, dass sich die wenigsten Menschen mit den Feinheiten postmoderner Philosophie auskennen, sondern sie verkörpern nur ideologische Fragmente, die sich aus dieser Philosophie ergeben. Und viele Menschen sind von diesen Fragmenten der postmodernen Ideologie regelrecht besessen. Diese Fragmente verkörpern sie dann in einer sehr einseitigen emotionalen Haltung, wie z.B. einer Opferhaltung oder auch der Haltung »Kapitalismus ist schlecht!« Dabei wird dann völlig ausgeblendet, dass der Kapitalismus uns in eine Epoche mit bislang nie erreichtem Wohlstand und umfassender Gesundheit geführt hat – täglich werden 20.000 Menschen aus der Armut gehoben. Der Kapitalismus ist also mitnichten nur schlecht. Aber wie es das Wesen der Ideologie ist, werden nur partielle Aspekte betrachtet und vertreten, so als wären die Leute tatsächlich von ihnen besessen. In ähnlicher Weise ist es ja nahezu unmöglich, mit einem Veganer rational über die Vorzüge der reinen Fleischernährung zu sprechen, die es zweifellos gibt, immerhin hat sich unser Gehirn im Wesentlichen durch Fleischkonsum entwickelt. Das meine ich mit Besessenheit.

Kulturell befinden wir uns in einer Phase, die durch eine große Verwirrung gekennzeichnet ist. Was ist Wahrheit? Was können die Medien? Was kann die Demokratie, und leben wir überhaupt in einer? Was kann die Wissenschaft, oder ist sie, wie der Kapitalismus, nur ein patriarchales Werkzeug des bösen weißen Mannes, der seine tyrannische Herrschaft untermauern will? Ist alles sozial konstruiert, oder gibt es biologische Grundlagen von Gender und politischer Haltung? Es ist eine Phase des Chaos, in der sich nationalistische Bewegungen überall erheben, teils, um verloren gegangene Sicherheiten bereitzustellen, die mit dem Verlust der »Großen Narrative« verloren gingen, teils als Reaktion auf die autoritäre Linke. Doch dies sind reaktionäre nationalistische Bewegungen, die den Ausweg im Erstarken früherer Entwicklungsstufen sehen und die Möglichkeiten und Probleme der Postmoderne nicht transzendieren können.

Die Frage ist also, ob wir tatsächlich über die Postmoderne hinauswachsen und dabei die positiven Aspekte aller früheren Entwicklungs- und Kulturstufen integrieren können. Das heißt auch, wir müssen den Besessenheiten entgegenwirken, die sich auf allen Entwicklungsstufen ergeben. Wir müssen fähig sein, unterschiedliche Perspektiven gleichzeitig halten zu können. Um auf das Beispiel von eben zurückzukommen: Ja, die gegenwärtige Tierhaltung ist grausam. Ja, einige Studien zeigen auch, dass Fleischkonsum in gewissem Maße gesund und förderlich ist. Also lasst uns Möglichkeiten finden, die Tierhaltung zu verändern oder auf künstlich erzeugtes Fleisch umzusteigen. In solch einem Diskurs frei von Besessenheiten unterschiedliche Positionen halten zu können, ist die Aufgabe einer wie auch immer gearteten Post-Postmoderne.

Kreativität statt Besessenheit

e: Wie kann sich deiner Ansicht nach eine solche post-postmoderne Bewegung formieren?

TA: Man kann viel über diese unterschiedlichen philosophischen Richtungen sprechen, die versuchen, sich einer Post-Postmoderne anzunähern, und dort nach übereinstimmenden Faktoren suchen. Eines dieser gemeinsamen Elemente müsste wohl sein, aus dem Relativismus mit einer optimistischen, kreativen Haltung herauszutreten und sich wieder zu trauen, Werturteile zu fällen. Wir müssen wieder herausfinden können, was brauchbare, ethische und werteorientierte Deutungen dieser Welt und unseres Selbst sind – und dabei die Erkenntnis der Postmoderne berücksichtigen, dass es unendliche viele Deutungen und Interpretationen gibt.

Ich glaube aber, viel wichtiger ist das Engagement des Einzelnen, sich den eigenen Besessenheiten und Einseitigkeiten zu widersetzen. Diese Verantwortung kann jeder Einzelne übernehmen. Es ist gar nicht notwendig, dass jemand mit den Feinheiten der Post-Postmoderne vertraut ist, sondern es ist viel wichtiger, dass der Einzelne sich gegen die prä-modernen, modernen und postmodernen Besessenheiten wehrt. Dann können wir mit Vernunft erkennen, dass es in jeder Frage mehrere Aspekte gibt, die man berücksichtigen muss, um zu einer vernünftigen Entscheidung zu finden. Und, einfach gesagt, bemerkt man aus einer psychologischen Perspektive die eigene Besessenheit immer daran, dass man in einer Diskussion emotional wird und die ganzheitliche Sicht verliert.

Ein Merkmal einer post-postmodernen Haltung ist die Betonung von Spontaneität, Kreativität und Optimismus.

e: Der Begriff Besessenheit ist sehr hilfreich, denn integrales Bewusstsein zeichnet sich dadurch aus, dass es in der Lage ist, mehrere Perspektiven zu halten und zusammenzubringen. So fluide und dynamisch das auch sein kann, ist es nicht nur ein Kaleidoskop von Verschiedenheit, sondern es entsteht auch eine lebendige Ganzheit, die eine Richtung hat. Wenden wir das auf die konkrete politische Wirklichkeit an, wie die Flüchtlingsbewegung in Deutschland. Da gibt es einerseits die Besessenheit der Angst vor dem Verlust der Heimat, und es gibt die Besessenheit, einfach gut sein zu wollen ohne Rücksichtnahme auf problematische Aspekte. Es gibt einerseits so etwas wie ein Recht auf Heimat, das von postmoderner Seite nicht wahrgenommen wird. Andererseits erkennen wir, dass wir in einem großen globalen Zusammenhang stehen, in dem Kriegs- und auch Wirtschaftsflüchtlinge etwas mit uns zu tun haben. Wir können nicht einfach sagen, das sei nicht unser Problem. Es ist eine komplexe Situation. Bereits die Anstrengung, diese Perspektiven zu halten, selbst wenn man die Lösungen nicht weiß, kann in sich schon eine Öffnung schaffen.

TA: Ich bin auch weit davon entfernt, eine Lösung für dieses konkrete Problem zu haben. Aber ich kann relativ nüchtern betrachten, dass ich einerseits ein christlich erzogener Westler bin. Mein Großvater war evangelischer Pastor, das heißt, ich bin in einem Kontext groß geworden, in dem Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft gezeigt werden und man sein Haus im Sinne Abrahams und Sarahs für Fremde und Gäste öffnet. Andererseits kann ich nüchtern beobachten, dass es auch gefährlich ist, einfach nur die Grenzen zu öffnen, ohne unsere weltpolitischen Zusammenhänge und die Ideologie, die mit dem Islam zusammenhängt, zu berücksichtigen. Wie kann man diese unterschiedlichen Werte in Übereinstimmung bringen? Welche (durchaus auch guten) konservativen und nationalen Werte will man opfern, zugunsten einer pluralen und für alle gerechten Gesellschaft? Dies ist eine Diskussion, die nüchtern geführt werden muss. Die Besessenheit, einfach zu sagen, »man muss die Grenzen zumachen« oder »man muss die Grenzen öffnen«, ist keine informierte Haltung und erzeugt keinen informierten Dialog.

Lösungen im Dialogischen finden

e: Das ist genau der Gegenbegriff zu dem, was du Besessenheit nennst: das Dialogische, das gemeinsame Ringen. Das Integrale zeigt sich in dieser dialogischen Haltung, die voraussetzt, dass ich andere Perspektiven anerkenne, mich ihnen aussetze und mich um ein Gemeinsames bemühe. Diese Haltung lässt Pluralität zu und hat gleichzeitig den Anspruch, etwas gemeinsames Ganzes zu finden, das eine Entwicklungsrichtung beinhaltet. Die Postmoderne kann sehr gut mit Pluralität umgehen, aber wo die Pluralität uns selbst infrage stellt, kommt das, was du Besessenheit genannt hast, ganz intuitiv zum Tragen. Da wird es zu einer Bewusstseinsfrage, diese Offenheit halten zu können, ohne die Antworten zu kennen und ohne in die Einseitigkeiten der Besessenheit zu fallen. Das ist etwas sehr Persönliches, fast Intuitives, das für mich jenseits von aller Philosophie ein integrales Bewusstsein sehr gut beschreibt.

TA: Ja, mit der Freiheit, die dadurch entsteht, geht auch eine neue Art von Spontaneität, Kreativität und Optimismus einher. Das heißt, man tritt aus der Relativität der Postmoderne heraus und kann frei gestalten, kann sich entscheiden und gemeinsam nach Lösungen suchen. Ein Merkmal einer post-postmodernen Haltung ist eben diese Betonung von Spontaneität, Kreativität und Optimismus, die der Besessenheit entgegenwirken. Denn egal, ob es ein Antifa-Aktivist ist oder jemand, der den Veganismus propagiert, diese Anliegen sind sehr schnell mit negativen Emotionen verbunden. Daran erkennt man, wo sich jemand innerlich befindet – ist derjenige besessen oder optimistisch? Eine post-postmoderne Haltung ist meines Erachtens immer spontan, optimistisch und kreativ und versucht, im Dialogischen konkrete Lösungen zu finden.

Oder mit anderen Worten: Spontaneität, Kreativität und Optimismus sind auch immer Eigenschaften des archetypischen guten Königs. Seine Handlungsbereitschaft schützt uns vor der sozialen Gewalt, die von der autoritären Linken und der nationalistischen Rechten ausgeht, und findet einen Weg durch die Dunkelheit und das Chaos. Sie kann bestenfalls ein neues Königreich begründen, in dem tatsächlich alle Entwicklungsstufen und alle Menschen in gesunder Weise zur Geltung kommen können und ihre Individualität beschützt wird.

Audio zum Thema: Tom Amarque in Radio evolve: www.evolve-magazin.de/radio/narratives-bewusstsein

Author:
Dr. Thomas Steininger
Share this article: