Kein Krieg ums Klima

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Book/Film Review
Published On:

November 7, 2019

Featuring:
Charles Eisenstein
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Ausgabe 24 / 2019:
|
November 2019
Offene Heimat
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Eine Rezension des Buches »Klima. Eine neue Perspektive« von Charles Eisenstein

Es kommt unscheinbar daher, das neue Buch von Charles Eisenstein: ganz in Weiß, mit einem kleinen Pinguin als Eye-Catcher, der wie ein Zinnsoldat stramm auf einer verlorenen Eisscholle steht. Doch was sich auf den 396 Seiten zwischen den Buchdeckeln befindet, hat das Gewicht eines Eisberges, der die seichten Gewässer der gegenwärtigen Klimadiskussion ordentlich aufmischen könnte.

Die Diskussion um den politisch-kulturellen Umgang mit der die Zukunft bedrohenden globalen Erwärmung ist im vergangenen Jahr zum beherrschenden Thema geworden, die Antworten auf die offenen Fragen entscheiden in der Bundesrepublik mittlerweile Wahlen, haben die Jugend an den Freitagen millionenfach auf die Straße gebracht und im Oktober erst zur Teil-Blockade der Bundeshauptstadt geführt. Das herbstliche »Klima-Paket« der GroKo hat sich als inhaltsleeres Weihnachtspäckchen erwiesen. Und trotz dieser allgegenwärtigen Aufregung steht die Gesellschaft als Ganzes nach wie vor weitgehend ratlos vor der historischen Herausforderung des Klimawandels: Allen großen Worten zum Trotz steigen die CO2-Emissionen, die globalen Temperaturen klettern auf Rekorde, Mega-Stürme verwüsten die Dritte Welt, das Artensterben erreicht die Dimensionen eines Ökozids. Die 90-jährige Ökophilosophin Joanna Macy vermerkte unlängst: »Wir befinden uns jetzt in der Phase des Kollapses, vor dem wir seit 40 Jahren gewarnt wurden!« Höchste Zeit also, grundsätzlich über das »Klima-Narrativ« nachzudenken.

Charles Eisenstein, Kulturkritiker, Philosoph und Mathematiker von der renommierten Yale University untersucht seit Jahren konsequent das »Narrativ« der Moderne: jene kollektive Geschichte der Weltdeutung und des menschlichen Selbstbildes, auf dessen Grundlage die westliche Zivilisation, die heute vor dem Zusammenbruch steht, erst erbaut wurde. Als seine großen Gedanken während der Occupy-Bewegung gegen die neoliberalen Fangarme des globalisierten Kapitalismus weltweite Popularität gewannen, wurde Charles Eisenstein zum globalen Vordenker für eine holistische, »enkeltaugliche« und ökologische Lebensweise. Um der Fehlentwicklung moderner Zivilisation auf die Spur zu kommen, grub der gegenkulturelle Intellektuelle tief in der Kulturgeschichte und Mythologie der westlichen Zivilisation und stellt seitdem in all seinen Büchern, Reden, Podcasts und Online-Essays liebgewonnene Mythen und hilflose Argumente an den Pranger der Kulturkritik.

Eisenstein setzt sich in der aufgeladenen Atmosphäre zwischen Klima-Warnern und Klima-Skeptikern zwischen alle Stühle.

Mit seinem jüngsten Buch »Klima. Eine neue Perspektive« wagt es der Kulturphilosoph und schreibende Aktivist, über die bisherige Ebene der Klimadiskussion hinauszugehen und das Gesamtbild der gegenwärtigen Lage kritisch zu bearbeiten. Damit setzt er sich in der aufgeladenen Atmosphäre zwischen Klima-Warnern und Klima-Skeptikern zwischen alle Stühle, ordnet aber das von panischem Aktivismus gekennzeichnete politische Puzzle tatsächlich zu einem ganz neuen Bild: Er fordert die globale Ökologie-Bewegung auf, sich nicht verrückt machen zu lassen und statt dessen unbeirrt an der Restauration und Heilung existenziell bedrohter Ökosysteme weiterzuarbeiten, anstatt der abstrakten Reduktion des Kohlendioxids als einziger globaler Lösung das Wort zu reden. »No scaring into caring!«, betonte er auf seiner jüngsten Lesereise durch Deutschland: »This is the wrong narrative!« Nicht die Panik und Angst vor den bevorstehenden Folgen des Klimawandels würde uns erfahrungsgemäß zum Handeln bringen, sondern die Liebe zur Natur, das Gefühl der Verbundenheit mit dem Netz des Lebens. Ja, er geht so weit, von einer notwendigen »Revolution der Liebe« zu sprechen, die es bräuchte, um die kalte Macht der Ratio und den totalen Kontrollwahn der Befürworter des globalen »Geo-Engineering«, einer weltweiten Wetter-Manipulation, zu brechen. Das klingt beim ersten Lesen furchtbar romantisch daneben und scheinbar unwissenschaftlich, macht aber beim tieferen Nachdenken durchaus Sinn. Denn es ist das Herz, das sich für ein tiefes Engagement öffnen muss, wenn ein Wandel im Denken und Handeln stattfinden soll.

Charles Eisensteins Argumentation ist provokativ, aber gut: Er warnt die globalen Klimaaktivisten vor einem Fundamentalismus, das Kohlendioxid zum Alleinschuldigen zu machen und gegen CO2 in den »Krieg zu ziehen«. Derartiger Reduktionismus würde die Komplexität des Lebens übersehen und das breite Engagement für die Heilung der Natur unwichtig erscheinen lassen. Klassische Klimapolitik sei gerade mal darauf aus, das CO2 zu reduzieren, wolle aber die industrielle Wachstumsgesellschaft mit erneuerbaren Energien unverändert weiterlaufen lassen. Eisenstein plädiert demgegenüber dafür, alle Kraft daran zu setzen, die kulturell tief verwurzelte »Geschichte der Trennung« zu überwinden, die Mensch und Natur separiert und dem Kontrollwahn des Homo sapiens das Fundament bietet. Er fordert eine philosophisch, spirituell und politisch völlig »neue Geschichte«, um langfristig zukunftsfähig zu werden. Angelehnt an den buddhistischen Mönch und Weisen Thich Nhat Hanh plädiert er für ein neues Paradigma des »Interbeing« – eines Weltbildes, das von der tiefen Verflochtenheit, gegenseitigen Abhängigkeit und Verbundenheit allen Lebens ausgeht. Wer aus so einer liebenden, achtsamen und verbundenen Wertehaltung handelt, könne weder andere Länder noch die Natur oder sich selbst ausbeuten.

Die »neue Geschichte« setzt nicht länger auf Abtrennung, Konkurrenz und Isolation. Sie sieht kein einsames Selbst, das ums Überleben ringt in einer toten Welt, die als Maschine missverstanden wird. Die neue Perspektive, die Charles Eisenstein vorschlägt, sieht die Welt als komplexen, sich immer weiter entwickelnden Organismus und den Menschen als ihren Diener, dessen Rolle darin besteht, alles Leben im Großen Ganzen noch lebendiger zu machen. »Planetary healing is easy«, sagt er, und »just a shift of conciousness away!« Der lebende Organismus Gaia könne mit Temperaturschwankungen umgehen, wenn seine Organe gesund wären: Wälder, Meere, Feuchtgebiete, Ökosysteme, Lebewesen, Böden, Flüsse und Luft. Weil die Organe schon so krank sind und geschwächt, könne der Organismus das erhöhte CO2 nicht verdauen. In der Konsequenz hieße das: vor Ort, regional alles zu tun, um die vielen Ökosysteme zu regenerieren, die Gewässer zu reinigen, die Meere zu schützen, die Vergiftung zu stoppen. Um das zu können und zu wollen, müssen wir, so Eisenstein, lieben wie noch nie zuvor und alles beiseiteräumen, was dieser Liebe zum Leben im Wege stehen könnte. Und aus dieser Liebe handeln und im Handeln Hoffnung gewinnen. Und wenn eine der Strategien die Reduktion von CO2 ist, auch gut!

Ein radikaler, im wahrsten Sinn tiefenökologischer Ansatz, der die globale Krise als Initiation begreift: als existenzielle Prüfung für die Menschheit, die über ihr eigenes Selbstbild hinauswachsen und erwachsen werden muss, wenn sie heil aus diesem Übergang in eine neue Kultur herausfinden will. Wie sagt Greta Thunberg immer? »Alles muss sich ändern. Und wir müssen heute beginnen!« Charles Eisenstein liefert dafür trotz ungezählter Details zwar keinen Rettungsplan, aber er justiert den Kompass neu. Die Nadel orientiert sich an der Heiligkeit des Lebens, dem alles andere unterzuordnen ist. »Klima. Eine neue Perspektive« hält, was es verspricht. Es ist ein extrem wichtiges, kluges und provozierendes Buch. Und es macht Hoffnung.

Author:
Dr. Geseko von Luepke
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