Kleine Splitter von einem großen Ganzen

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Interview|Profile
Published On:

January 16, 2017

Featuring:
Galsan Tschinag
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Ausgabe 13 / 2017:
|
January 2017
Liebe in Zeiten von Trump
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Erfahrungen zwischen Ost und West

Galsan Tschinag wuchs in der mongolischen Steppe auf und wurde zum Oberhaupt und Schamanen seines Nomadenstammes ernannt. In den 60er Jahren studierte er Germanistik in Leipzig und ist seitdem ein preisgekrönter Autor deutscher Literatur. Wir sprachen mit dem Wanderer zwischen den Welten über die Liebe.

evolve: Sie sind ein Wanderer zwischen den Welten, Sie leben in der mongolischen Steppe, der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator und sind immer wieder auf Lesereisen vor allem im deutschsprachigen Raum unterwegs. Was können Sie uns mit diesem Schatz an Erfahrung über die Liebe sagen?

Galsan Tschinag: Ich denke, der Westen und die Moderne haben in der Technik und den sogenannten Naturwissenschaften große Fortschritte erreicht. Aber in Hinblick auf Naturverbundenheit und zwischenmenschliche Liebe sind ihnen die nomadischen Völker der Mongolei weit voraus. Wenn es im 21. Jahrhundert noch glückliche Menschen geben sollte, dann gehören die wenigen Steppennomaden auf dem mongolischen Lande unbedingt dazu. Sie sind mitten in der Natur und sie sind miteinander. Wenn ich mit Menschen im Westen spreche, bemerke ich, dass die meisten Sätze mit »ich, mein, mir, mich« beginnen. Wir Steppennomaden reden viel öfter von »wir oder uns« – wir meinen immer die Gemeinschaft. Auch wenn wir in der Steppe ganz allein sind, denken wir in der Mehrzahl. Damit meinen wir nicht nur unsere zweibeinigen Gefährten, sondern auch die vierbeinigen, die Pferde, Schafe, Ziegen, Yaks und Kamele. Wenn wir in der Steppe zu Fuß gehen, dann gehören zu diesem Wir auch die Gräser, Bäume, Berge, Steine und Winde – die Elemente der Natur. Deshalb verstehen wir auch die Liebe im Zusammenhang mit der Natur.

Die Mongolei ist eines der kältesten Länder der Welt. Deshalb frieren, dürsten und hungern wir mit den Tieren gemeinsam. Und wenn der Sommer kommt, sind wir mit den Tieren gemeinsam glücklich. Vom Glück eines Schafes oder eines Pferdes redet man im Westen so gut wie nie. Viele nehmen an, dass nur Menschen Glück erfahren können. Bei Tieren wird oft von Wohlbefinden gesprochen, aber Tiere können richtig glücklich sein, so wie kleine Kinder. Wenn die Nomaden sehen, dass ihre Tiere glücklich sind, dann sind auch sie glücklich. Deshalb hört man in den Liedern der Nomaden auch Tierstimmen und im Kehlkopfgesang auch den Wind, die Bäume und Felsen. Auch wenn ich Gedichte oder Erzählungen schreibe oder über das All nachdenke, beziehe ich immer die Natur mit ein. So verstehen wir auch das Wort Liebe in einem sehr weiten Sinne, für uns ist es die kosmische Liebe. Die intime, geschlechtliche Liebe zwischen zwei Menschen wird nicht als getrennt davon verstanden. Den Satz »Ich liebe dich« gibt es bei uns nicht oder er hört sich sehr fremd an, so als würde man in einer fremden Sprache sprechen. Wir haben viele andere Umschreibungen – statt »Ich liebe dich« sagen wir »Ich bin dir gut« und statt »Möchtest du mit mir zusammen sein?« sagen wir »Möchtest du meine Alte/mein Alter sein?« Übrigens habe ich gelesen, dass es bei den nordamerikanischen indigenen Stämmen ähnlich ist. Deshalb ist für uns die Liebe im heutigen europäischen Sinne ziemlich unverschämt und unmoralisch. Bei uns findet Sexualität im Privaten statt, Sexualität in der Öffentlichkeit kennen wir nur von unseren Tieren und da ist es ganz normal und jeder weiß, worum es geht. Aber deshalb müssen wir Menschen es nicht zur Schau stellen, wie es im Westen passiert.

Der Westen ist aber auch schon in der Mongolei angekommen und das Leben in der Hauptstadt Ulan Bator und in den Bezirkshauptstädten ist ein ganz anderes Universum als das Leben auf dem Land. In den Städten versuchen sich die Menschen so schnell wie möglich zu europäisieren und zu amerikanisieren. Schönheitsoperationen sind ein blühender Wirtschaftszweig, weil sich Menschen die Nase oder die Augenpartie operieren lassen, um westlich auszusehen. Alle Frauen, die modern aussehen wollen, färben sich die Haare blond. Im Extremfall lassen sich Frauen sogar operieren, um einige Zentimeter größer zu werden.

¬ Das Heilende ist die Liebe von Seele zu Seele, von Mensch zu Mensch. ¬

e: Worauf basiert für Sie eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich lieben?

GT: Für uns geht es zunächst einmal nicht um Mann und Frau, sondern um Mensch und Mensch. Es gibt einfach Menschen, die sich gut leiden können, wir können nicht erklären, warum das so ist. Es gibt Menschen, mit denen man gern Lebenszeit verbringen möchte, und solche, die man schnell verlassen möchte. So empfinden die mongolischen Männer und Frauen auf dem Lande und können von sich aus entscheiden, wen sie heiraten. Es ist aber üblich, die Eltern um Erlaubnis fragen.

e: Haben Sie während Ihrer Studienzeit in Deutschland etwas über die Liebe gelernt?

GT: Die Liebe, die ich dort erfahren habe, war sehr kommerziell und es ging vor allem um das Fleischliche. Als ich in Leipzig studiert habe, standen vor allem die Afrikaner, die dort waren, bei den deutschen Mädchen hoch im Kurs. Dabei ging es nur um Sex. Schon damals gab es auch sehr viele Trennungen und in den Gesprächen fiel mir auf, dass viele Menschen unglücklich sind. Diese Entwicklung ist auch nach dem Mauerfall weitergangen. Vor 15 Jahren betrug die Scheidungsrate in Deutschland 40 Prozent, heute liegt sie bei fast 50 Prozent. Nicht nur Partner sind voneinander entfremdet, sondern auch Brüder und Schwestern, Väter und Söhne, Mütter und Töchter. Ich habe viel darüber nachgedacht, was der Grund sein könnte. Die Menschen im Westen und vor allem meine lieben Deutschen haben einen Hang zum Philosophieren. Gleichzeitig sind sie schlecht belesen und oft nur seicht gebildet. Aber sie haben einen großen Ehrgeiz und reden viel über Kunst und Philosophie. Kurz: Sie denken zu viel – und zu schlecht. Sie denken nach der Mode und täuschen Bildung vor. Und sie haben an allem etwas auszusetzen. Wenn man aber mit einer Frau oder einem Mann fünf oder zehn Jahre zusammenlebt, dann gibt es natürlich dieses und jenes auszusetzen. Sie graben darin immer weiter, bis es zur Trennung führt. Wir Nomaden haben diese Zeit gar nicht und wir haben eine andere Erziehung. Wir betrachten uns als Teil der Natur: Wir als Mann und Frau haben unsere Kinder, unsere Jurte, unsere Herden. Wir haben dieses einfache, aber erhabene Verständnis voneinander. Deshalb verwunden wir einander nicht mit solchen überflüssigen Gedankenfloskeln.

Ich sehe in dem anderen Menschen die Seele, so wie ich auch in einem Schaf die Seele des Tieres sehe. Das Äußere einer Frau ist für mich zweitrangig, Hauptsache, sie ist ein Mensch. Und ein Mensch darf auch seine Fehler und Unebenheiten haben, die wir akzeptieren und ertragen müssen. Die Geduld dazu können wir voneinander lernen. Die Frau neben mir ist Teil meiner Mitwelt innerhalb des großen Universums. Wir müssen zueinander halten, wir haben keine Zeit, untereinander nach Fehlern zu suchen. In der extremen mongolischen Natur können kein Mann und keine Frau allein überleben. Wir sind kleine Splitter von einem großen Ganzen, und wenn das Universum heilig und schön ist, dann sind auch wir als kleine Splitter heilig und schön. Das bedeutet, wir haben auch Ehrfurcht vor uns selbst, vor dem Heiligen in uns. Minderwertigkeitsgefühle und Selbsthass kennen wir nicht.

e: Sie sind auch der Schamane Ihres Stammes, wie kommt die Liebe darin zum Ausdruck?

GT: Dabei ist die kosmische Liebe im Spiel. Wenn ich einem Menschen helfe, dann helfe ich einer Seele in Not. Ich strecke meine rettende Hand aus, damit sich diese Seele in der Not daran festhalten kann. Es ist meine Mission, dem anderen zu helfen. Wenn ich zu einer Familie in die Jurte eingeladen werde, wo ein Familienmitglied krank ist, dann bitte ich zuerst um eine Schüssel mit lauwarmem Wasser, Seife und um ein Handtuch. Dann hocke ich mich vor dem Kranken hin und wasche ihm oder ihr die Füße. So kommt es zu einer Begegnung von Seele zu Seele und der Mensch gesundet oft sehr schnell. Das ist eine ganz einfache Praxis und oft braucht es nicht viel mehr. Das Wichtigste bei meiner Arbeit als Schamane sind Menschlichkeit und Zuwendung. Das Heilende ist die Liebe von Seele zu Seele, von Mensch zu Mensch.

Author:
Mike Kauschke
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