Kultur der Lebendigkeit

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Essay
Published On:

July 19, 2018

Featuring:
Christian Salchegger
Ekhart Hahn
Elisabeth ­Salchegger
Mirra Alfassa
Sri Aurobindo
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 19 / 2018:
|
July 2018
Stadt & Land
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

in Stadt und Land

Stadt und Land sind zwei Pole unseres menschlichen Seins. Es braucht beide gemeinsam, um lebendige Lebensfelder neu zu entdecken.

Deviprasad C. Rao

Unsere Lebensräume prägen uns. Aber es ist auch unser Bewusstsein, das unsere Lebensräume prägt. Das evolve-Magazin ist ja kein Magazin für Stadt- oder Dorfentwicklung. Es ist auch nicht einfach ein Magazin für Ökologie, sondern ein Magazin für Bewusstseinskultur. Welchen Beitrag kann eine integrale Bewusstseinskultur für unsere Lebensräume leisten? Welche Impulse gibt eine integrale Bewusstseinskultur der Stadt und dem Land? Dieser Frage stellen wir uns in dieser Ausgabe von evolve.

Stadt und Land – das sind mehr als strukturelle Begriffe. Sie berühren uns. Stadt und Land – das sind zwei Pole unseres menschlichen Seins. Zwischen beiden, noch in der Nähe des Landes liegt das Dorf. Eingebettet im Land ist das Dorf aber auch die Wurzel der Stadt. Aber Stadt ist Dynamik und Veränderung, Dorf ist Tradition. Eingebettet in Landschaft und Gemeinschaft steht das Dorf für das, was seit vielen Generationen Sitte ist. Auch darin unterscheidet es sich von der Dynamik der Stadt. Stadt ist Dynamik und Aufbruch, Land bewahrt das, worauf alles aufbaut.

Mein »Ur-Erlebnis« von Stadt, oder davon, was Stadt sein kann, hatte ich mit zwölf Jahren. Ich bin zwar in einer mittleren österreichischen Stadt aufgewachsen, doch mit zwölf sah ich London, eine für mich neue Welt. London, das war ein Planet ganz für sich. Natur existierte hier nur in kleineren und größeren künstlichen Reservaten, die man Parks nannte. Und London pulsierte – Tag und Nacht. Es pulsierte in überfüllten U-Bahnen, in verstopften Straßen. Alles war geschäftige Bewegung. Und es waren auch die Geschäfte, die den Puls der Stadt bestimmten. In so einer Stadt merkt man, dass man aus der Provinz kommt. Hier war, im Gegensatz zu meiner Heimat, die Welt vor Ort – Gesichter, Hautfarben, Restaurants, Sprachen.

Wie können wir die Errungenschaften der Systemwelt nutzen, ohne uns in ihr zu verlieren?

In London gehen die Gedanken weniger zum nächsten Berg, zur nächsten kleinen Stadt. Vielmehr gibt es lebendige Fäden nach New York, Bombay, Singapur. Und noch eine Entdeckung war damals für mich wichtig: Alles, was für mich »cool« war, die langen Haare, die abgefetzten Klamotten, die Beatles und die Rolling Stones – alles kam von hier. Ich schien den Ort gefunden zu haben, an dem sich die Welt immer neu erfindet. London, das war »die Stadt«. Und es war für mich ein Lebensimpuls mit einer magischen Kraft. Die Magie der Stadt hatte mich erfasst.

Athen – die freie Stadt

Einer der ältesten Epen der Menschheit, der Gilgamesch-Epos, handelt von der Stadt Uruk und ihrem König Gilgamesch. Eigentlich ist es auch ein Epos über Stadt und Land, denn Gilgamesch wanderte fernab der Stadt in die Steppen und Berge des Landes, um dort vor seiner Rückkehr in die Stadt Antworten auf die letzten Fragen zu finden. Mesopotamien ist die Wiege der ersten Städte. Hier fand der Übergang vom Dorf zur Stadt statt. Der Schritt aus der Natur in die Stadt war, vermittelt über den Herrscher, auch ein Schritt in ein neues menschliches Selbstbewusstsein. Es war der Schritt in eine neue, menschliche Macht.

Das war der Anfang der Stadt. Doch zu sich selbst fand sie vielleicht erst später – im goldenen Zeitalter des antiken Athens. 500 v. Chr. hatte Athen gerade nach einem langen, verlustreichen Krieg das Persische Reich zurückgeschlagen. In der Stadt war viel zerstört. Aber in diesen schweren Jahren fand Athen endgültig auch zu seiner neuen Form des Zusammenseins – zur attischen Demokratie. Damals entstand in Athen, wenn auch unter Ausschluss der Sklaven und auch der Frauen, die Keimzelle der westlichen Demokratie. Athen war auch der Beginn eines neuen Selbstbewusstseins. Es war nicht mehr der Herrscher, der die neue Kultur hielt. Die Bürger Athens waren selbstbewusst genug, gemeinsam ihre neue Welt zu erschaffen. Vielleicht ist das goldene Zeitalter Athens gerade deshalb auch eine Zeit einer kulturellen Explosion. Unter dem Ratsvorsitzenden Perikles, einem begnadeten Politiker und Demokraten, kam es zum Wiederaufbau Athens. Innerhalb einer Generation entstanden die Akropolis und eine ganze Serie von Tempeln, die den Göttern von Zeus bis Athene und Apollo geweiht waren – ein Baustil, den man noch heute weltweit kopiert. Bildhauer wie Phidias schufen mit ihren klassisch-griechischen Skulpturen das, was wir noch immer als den Inbegriff der griechischen Kunst verstehen. Und nicht zuletzt wurde Athen damals zur Wiege der abendländischen Philosophie.

In dieser hochkreativen Zeit schrieb Aischylos, einer der großen griechischen Dichter, sein Meisterwerk, die Orestie, jenes vielschichtige mythische Theaterstück, das bald jedes Jahr vor dem Volk Athens gespielt wurde. In diesem großen Stück überwindet die Göttin Athene mit ihrem Richtspruch die Furien, die alten Sippengötter, und schuf mittels Vernunft und Verständigung die Grundlage eben dieser attischen Demokratie. Die Göttin der Vernunft machte Athen zu einem Ort der Freiheit und der Kooperation. Wenn Rom bis heute der Inbegriff der imperialen Stadt ist, so ist Athen ihr Gegenentwurf, Athen ist Inbegriff einer freien Stadt der freien Bürger. Athen schuf damals einen Traum, eine Bewusstseinskraft, die unsere Das Land, das uns trägtnicht mehr verlassen sollte. Selbst im europäischen Mittelalter waren Städte oft Orte der Freiheit, der Freiheit vor der Willkür der Bischöfe und Fürsten. Ihr Zunft- und Gildewesen waren Orte der Selbstverwaltung, Experimente der Kooperation. Athen ist bis heute ein Zeichen dafür, was Stadt sein kann. In diesem andauernden Experiment der Stadt haben sich die Menschen immer wieder neu erfunden.

Das Land, das uns trägt

Land ist das Gegenbild zur Stadt. Als Österreicher bin ich vorbelastet, denn in den Alpen haben wir noch immer viel unberührtes Land. Wie kommt es, dass Menschen unberührtes Land als heilig empfinden? Wenn ich alleine oder mit Freunden im Hochgebirge stehe, brauche ich dafür eigentlich keine Erklärung. Es ist einfach so. Was sich dort zeigt, ist eine Wirklichkeit, die uns nach wie vor übersteigt, die uns vorausgeht, die aber irgendwie auch uns selbst ausmacht. Landleben ist ein Leben, das den Kontakt zu dieser Dimension nie ganz verloren hat.

In unserer Kulturgeschichte gab es ja immer wieder große Fürsprecher des Landlebens und der Natur. In Europa war das zum Beispiel der französisch-schweizerische Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Doch der vielleicht tiefste Denker über Land und Natur kommt aus China. Laotse, der legendäre Begründer des Taoismus deutet in fast jedem seiner Sätze auf die unaussprechliche Weisheit des Natürlichen. Die tief vom Taoismus geprägte chinesische Kunst atmet diese Ehrfurcht vor dem Unaussprechlichen, das in einem Grashalm, in einem von Nebel durchzogenen Bergtal oder in einer simplen Tuschzeichnung eines Felsen zu finden ist. Dabei war der Taoismus auch ein Protest, eine Auflehnung gegen die Überkultiviertheit des Konfuzianismus, wie er sich am Kaiserhof und in der Stadt zeigte. Laotse spricht auch vom einfachen Volk auf dem Land, das, eingebettet in Landschaft und natürlicher Tradition, den Krankheiten der Zivilisation noch nicht erlegen ist. Vieles davon ist, genau wie Athen, auch Mythos – ein Mythos, der auch gefährlich regressive Formen annehmen kann. Und doch ist da etwas in der Kraft der Verbundenheit des Landes, das nicht nur reaktionär sein muß. Gerade in einer Zeit der virtuellen Realität und der weltumspannenden künstlichen Intelligenz zeigt sich die Bedeutung des Landes auf eine neue Weise.

Deviprasad C. Rao

Stadt ohne Land

Unsere modernen Städte sind sowohl Erben der alten Metropolen als auch Erben der freien Stadt. Seit der Globalisierung erleben wir sie noch in einer weiteren Rolle. Städte, allen voran die großen Metropolen wie New York, London oder Hongkong, werden immer mehr zu Knotenpunkten einer weltumspannenden Wirtschafts- und Finanzdynamik. Die Stadt London befindet sich heute weniger in einem Land namens England als in einem weltweiten Netz globaler Metropolen.

Was man dabei leicht übersieht ist, dass alle Städte, auch die größten, letztlich aus dem Land und der Landschaft geboren sind, in der sie stehen. Und doch schließt sich heute auch wieder der Kreis: Als die Menschen vor einigen Tausend Jahren begannen, aus den Dörfern in die Städte zu ziehen, war das auch eine Befreiung aus der unmittelbaren Abhängigkeit von Land und Natur. In der Stadtkultur fanden sie zu einer neuen Freiheit und Eigenständigkeit, zu einer neuen eigenen menschlich geschaffenen Sphäre. Heute, Tausende Jahre später, kommt die Natur zurück. Mit dem Klimawandel, aber auch mit dem Sterben der Insekten und dem Sterben der Vögel wird uns klar, dass wir die Natur, das Land, aus dem wir leben, nie verlassen hatten. Wir hatten es vergessen.

Die zunehmende Isolation zwischen der Stadt und der Erde, die sie trägt, steht für den Triumph aber auch für die Verlorenheit der modernen Welt. Die heutige Stadt ist Teil einer globalen Systemwelt. Und es ist das Wesen dieser Systemwelt, die Welt zu optimieren, sie zu verwerten. Wir selbst sind Teil dieser Dynamik. Selbstoptimierung, Biohacking und die Akkumulation immer neuer Erfahrungen sind Teil dessen, was wir ein erfolgreiches Leben nennen. Unser menschliches Selbstbewusstsein droht sich heute in einer neuen Systemwelt zu verlieren. Vielleicht ist es deswegen so wichtig, sich der Lebenswelt zu besinnen. Doch was meinen wir mit einer authentischen Lebenswelt? Vielleicht sind das, wofür Athen in seiner selbstbewussten Kreativität steht, und das, wofür das Land in seiner Beziehung zum Unverfügbaren und in seiner Beziehung zum Überbrachten steht, die Pole, zwischen denen sich unsere Lebenswelt aufspannt.

Alle Städte sind letztlich aus dem Land und der Landschaft geboren.

Gelebtes Bewusstsein der Einheit

Es gibt weltweit eine neue und wachsende Bewusstseinskultur, Menschen, die versuchen, die Welt anders als in ihrer technischen Verwertbarkeit wahrzunehmen. Oft heißt das einfach, dem Wunderbaren nachzuspüren. Menschen üben sich in einer Achtsamkeitskultur, die es ihnen erlaubt, auch im Profanen das Heilige zu sehen. Es ist das tägliche Leben, die Plätze des Alltags, die zu den Öffnungen einer persönlichen Bewusstseinskultur werden, Öffnungen in einer neuen Stadt- und Landkultur. Achtsamkeit, ein Gespür für Lebendigkeit, ein Sinn für das Heilige, verbunden mit einem Bewusstsein für die menschliche Entwicklungsgeschichte – vielleicht ist das die Quintessenz einer integralen Bewusstseinskultur.

Auroville in Indien ist so ein Platz, an dem sich diese integrale Bewusstseinskultur einen Ort geschaffen hat, um in der Welt zu wirken. 1968 gegründet von Mirra Alfassa, der spirituellen Partnerin des indischen Philosophen Sri Aurobindo, ist Auroville eine Stadt, die, so ihre Charta, »niemandem im Besonderen gehört, sondern der ganzen Menschheit«. Inspiriert von Sri Aurobindos Philosophie ist es ein Ort, an dem Land und Stadt sich auch in einer neuen Weise finden. In dieser Ausgabe von evolve beschreibt der deutsche Stadtentwickler Ekhart Hahn, wie es in der As-One-Community in der japanischen Stadt Suzuka gelingt, gemeinschaftliche, dörfliche Strukturen mitten in der Stadt zu verwirklichen.

Auch hier in Deutschland gibt es eine Vielzahl von Initiativen, die Stadt und Land im Innen und im Außen verbinden. In Oberfranken bei Schweinfurt hat die Initiative Go&Change, eine Gruppe von 30 jungen, integral inspirierten Menschen, ein altes Kloster von katholischen Ordensschwestern übertragen bekommen, um dort einen neuen integralen Lebensraum zu entwickeln.

Auch wenn man nach Berlin kommt, erlebt man in dieser chaotischen Stadt, die zum Magneten für junge kreative Menschen aus der ganzen Welt geworden ist, eine solche Vielzahl an Initiativen, die zeigen, wie der Lebensraum Stadt auf eine neue bewusste Weise belebt werden kann. Vor einigen Wochen war ich bei einem Berlin-Besuch im Bezirk Neukölln. Auf der Hofseite eines kleinen vegetarischen Restaurants stieß ich auf einen riesigen Permakultur-Naturgarten – mitten in Berlin. Ein Garten, der nicht nur ein Biotop mitten in der Großstadt ist, sondern auch das kleine vegetarische Restaurant mit Gemüse und Kräutern versorgt.

In der Stadt Melk, in Österreich, hat der Unternehmer Ernst Gugler in den letzten Jahren eine Druckerei aufgebaut, die in diesem ökologisch sensiblen Industriebereich beweist, dass man nicht nur ökologisch nachhaltig drucken kann, sondern dass auch ein Industriebetrieb als bewusster und sozialer Lebensraum erfolgreich sein kann.

Bauern wie meine Freunde Christian und Elisabeth Salchegger mit ihrer biologischen Landwirtschaft in den Salzburger Alpen pflegen eine Verbundenheit zur Natur, aber auch zu alpenländischen Traditionen, die wir dringend brauchen.

Lebensräume entstehen, indem wir sie wagen

Können wir unsere Lebensräume in der Stadt und auf dem Land neu entdecken und entwickeln? Die Stadt ist ein besonderer Nährboden der menschlichen Kreativität. Unsere moderne Welt entstand aus ihr. Auch deswegen droht die Stadt sich in ihren eigenen Schöpfungen, in den Systemen, die sie schuf, zu verlieren. Wie können wir die Errungenschaften der Systemwelt nutzen, ohne uns in ihr zu verlieren, ohne selbst zum mechanischen Rad zu werden?

Das Land war schon immer in enger Verbindung zu Natur und Tradition. Und deswegen auch immer in Gefahr zu engstirnigen und rückwärtsgewandten Reaktionen. Das Land hat sich oft schwergetan, das Offene und das Neue zu sehen. Aber es hat auch oft eine intuitive, fast instinkthafte Wahrnehmung der leeren Versprechungen, mit der die Systemwelt lockt. Die schiere Vielzahl der Initiativen für eine neue Bewusstseinskultur, die wir heute weltweit erleben, verbindet ein Gewahrsein für Lebendigkeit und ein permanentes Herausfinden, wie Leben sich mit anderen verbinden kann. Lebensräume entstehen, indem wir sie wagen. Vielleicht gibt es so etwas wie eine Akupunkturstrategie für Veränderung: Aus einem tiefen Gewahrsein des Ganzen finden wir die Art und Weise, wie wir die »Nadel der Veränderung« dort setzen können, wo wir leben, wo wir wirken – im Austausch mit allen anderen, die das auf ihre Weise tun.

Die Akupunktur ist ja eine erstaunliche Errungenschaft der Traditionellen Chinesischen Medizin. Aus einer alten taoistischen Praxis entstanden, ist es ihr gelungen, dass auch die westliche, mechanische Medizin ihre Wirkung anerkennt. Gleichzeitig musste die westliche Medizin eingestehen, dass sie die Wirkung der Akupunktur bis heute nicht erklären kann. Ihre Sichtweise reicht dazu nicht aus. Im dynamischen Feld unserer Lebensräume zwischen Stadt und Land gibt es für eine integrale Bewusstseinskultur viele Möglichkeiten, aus einem Bewusstsein für das Ganze immer neue Akupunkturpunkte zu setzen. Unser Planet und all seine Lebensformen werden es uns danken.

Author:
Dr. Thomas Steininger
Share this article: