Lebensdienlich

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

January 23, 2023

Featuring:
J. Daniel Dahm
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Issue:
Ausgabe 37/2023
|
January 2023
Re-Generation
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Wirtschaften mit der Natur

Kapital ist mehr als Geld. Daniel Dahm, ein Vordenker für den regenerativen Umbau der Gesellschaft, spricht vom Kapital des Lebens, von unserem Eingebunden-Sein in das Lebendige.

evolve: Sie sagen, dass unsere gängige Wirtschaftsweise vor allem Naturkapital in Finanzkapital umwandelt. Können Sie erklären, wie Sie das meinen?

Daniel Dahm: Wenn wir über Kapital sprechen, dann denken wir sofort an Geld. Aber im Grunde genommen bilden die Kapitalien die Produktionsmittel ab, Möglichkeitsräume, die uns als Menschheit zur Verfügung stehen. Mit dem Begriff der Kapitalien sind die grundlegenden Produktionsfaktoren gemeint, die uns befähigen, Wertschöpfung zu leisten und dies im Rahmen des menschlichen Haushalts. Den menschlichen Haushalt beschreiben wir über die Ökonomie. Der Begriff kommt aus der altgriechischen Wurzel ­Oikos, der Haushalt, auf die auch der Begriff der Ökologie zurückgeht. Und damit meinen wir nicht nur die Wirtschaft, sondern das Beziehungssystem des Lebendigen, die Verbindungen unseres gemeinsamen Hauses im Innen und Außen.

Die Kapitalien können dazu beitragen, das Vermögen des Haushalts als Ganzes zu mehren und zu stärken, doch davon wird heute primär nur noch das Finanzkapital wahrgenommen. Das Ganze der Kapitalien beruht vollständig auf dem Naturkapital, der Gesamtheit des ökologischen Zusammenhangs des Lebendigen. Aus dem Naturkapital erwächst erst das Sozialkapital, also die Fähigkeit des Homo sapiens, komplexe Kulturzusammenhänge wie Gesellschaften zu schaffen, die den Austausch von wirtschaftlichen Gütern, gesetzlichen Vorgaben und Institutionen und deren stetige Transformation und Fortentwicklung ermöglichen. Kulturen, die im medialen Mainstream oft nur noch mit Architektur, den bildenden und performativen Künsten, mit Musik und Ästhetik assoziiert werden, bilden die geistige und ethische Säule unserer Gesellschaften, sie beinhalten die Wohlstandsvorstellungen und Wertesysteme, kulturellen Symbole, Sprachen und Deutungen, die sich als Kulturkapital bezeichnen lassen. Dies trägt und kultiviert auch unsere Wünsche, Sehnsüchte, Werte und Vorstellungen von Wohlstand, Konsum und menschlichem Glück.

Als institutionelles Kapital bezeichnen wir dann unser formelles und informelles Ordnungs- und Regelungssystem, das sich in stetiger kultureller und kommunikativer Aushandlung bestätigt oder wandelt, inklusive seiner sozialen und politischen Organisationen, die zum Beispiel gesetzliche Regelwerke schaffen, um unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Miteinander zu ordnen. Wirtschaftskapital »schwimmt« auf Sozialkapital (und dieses auf Kulturkapital) und umfasst die Gesamtheit der Austauschmechanismen, Handelsformen, der Produktion und des Transfers von Gütern und deren Verteilung zwischen Menschen und Gemeinschaften.

Das finanzielle Kapital ist eine besondere Form des ökonomischen Kapitals. Es meint den abstrakten Geldwert, den wir nutzen, um den Austausch unserer wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zu vereinfachen und im Fluss zu halten. Das fing mit einfachen Formen an, seien es Kaurimuscheln, Knochen oder Münzen, die genutzt wurden, um über längere Zeiträume oder geographische Distanzen Güter und Werte zu tauschen. Das Finanzkapital entwickelte eine eigene Dynamik, weil es durch Akkumulation und Zentralisierung nicht mehr nur Tauschmittel war, sondern dessen Ansammlung und Anreicherung vorantrieb. Wir schufen auf diese Weise eine virtuelle Blase von Finanzvermögen, dessen stetiger Anspruch es ist, in reale (res = lateinisch: Ding, Sache) Kapitalien in Form von energetischen und materiellen Ressourcen zurückverwandelt zu werden.

¬ LEBENSDIENLICHKEIT BEDEUTET DIE REGENERATION UNSERER ÖKOLOGISCHEN LEBENSGRUNDLAGEN ZU LEISTEN. ¬

Die Fähigkeit zur Geldvermehrung (altgriechisch = Chrematistik) steht aber schon bei Aristoteles im Widerspruch zur Erwerbskunst und guten Haushaltsführung, zur Ökonomie. Die Ökonomie ist auf einen realen, materiell und energetisch balancierten Haushalt angewiesen, auf den wir zugreifen und durch den wir uns ernähren können, während die Geldvermehrung eine virtuelle, rein symbolische Vermehrung ist. Sie findet nur in unseren Köpfen statt und wir versuchen dann, sie auf unsere ökologische Wirklichkeit zu übertragen.

Nun ist in den letzten Jahrzehnten ein Prozess in Gang gekommen, bei dem die realwirtschaftliche Wachstumsentwicklung schrittweise von der Wachstumsentwicklung der Finanzmärkte substituiert wurde. Auf diese Weise wurden immer weiter Finanzkapitalansprüche in die Zukunft ausgelagert, die eigentlich in der Gegenwart einen realen, materiell-energetischen Entsprechungswert haben müssten. Dabei wurde das Finanzkapital immer weiter gesteigert, bis es ein Volumen erreichte, dessen Produktivitätsäquivalent auf unserem Planeten nicht mehr zu finden ist. Zeitgleich mit dem Aufstieg des Finanzkapitals beschleunigte sich der Abbau der Biokapazität der Erde durch menschliches Wirtschaften. Das Wachstum des Finanzkapitals führte zur Zerstörung unserer Produktionsgrundlagen, welche auch unsere Lebensgrundlagen sind.

Deswegen ist der Anspruch des Wirt­schaftens von morgen, oder eigentlich von heute, lebensdienlich zu wirken. Lebensdienlichkeit bedeutet, den Wieder­aufbau der degradierten Natursubstanz unserer Welt, die Regeneration unserer ökologischen Lebensgrundlagen zu leisten.

Eine Ethik des Lebendigen

e: Sie führen manchmal einen Satz von ­Albert Schweitzer an, der diese Lebensdienlichkeit deutlich auf den Punkt bringt: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« Lebensdienlichkeit bedeutet also einen Perspektivwechsel, bei dem wir diese Lebenserfahrung primär setzen und die Ökonomie als Haushalt nicht finanziell reduzieren, sondern lebenswirklich wahrnehmen. Warum ist dieser Perspektivwechsel wichtig?

DD: Wir sind als Menschen eingebunden in Ökozönosen, also in ökologische Lebensbeziehungen. Wir sind integraler Bestandteil der Ökologie unseres Planeten Erde. Und das kann uns sehr glücklich und demütig machen. Es liegt eine Hoffnung darin. Im Ringen mit dem Haushalt, zu dem auch wir gehören, dürfen wir uns verbunden fühlen. Wir tanzen nicht allein, sondern wir tanzen auf unserer begrenzten kleinen blaugrünen Perle im Weltall mit einer millionenfachen Zahl von Spezies gemeinsam. In einer Wechselbeziehung zwischen Ökosystemen finden wir als Spezies unseren Platz in der Vielzahl der Biozönosen, die in uns und um uns herum existieren. Im menschlichen Körper finden weit über 1500 verschiedene Spezies ihren Platz. Wir sind ein vielstimmiges Konzert des Lebendigen. In unserer Darmflora spiegelt sich die mikroorganismische Vielfalt der Böden unserer Kindheit. Eine Vielzahl von Mikroorganismen, Hefepilzen, Milchsäurebakterien und anderen mikroskopisch kleinen Lebewesen helfen uns, Nahrung aufzunehmen, zu verstoffwechseln, uns zu schützen, so dass wir leben können. Wir sind in unseren eigenen Landschaften und Lebensräumen beständig in einem Feld von Lebensbeziehungen und Verstoffwechselungen eingebunden.

¬ WIR SIND INTEGRALER BESTANDTEIL DER ÖKOLOGIE UNSERES PLANETEN ERDE. ¬

Nahrungsketten sind nicht Ketten linearer Art, sondern eher Nahrungsnetze und Wertschöpfungskaskaden. Aus dem, was Pflanzen aus Sonnenlicht in Form von Biomasse binden, entstehen vielfältige organische Substanzen und die Grundlagen allen Lebens. Diese innewohnende Kraft wirkt seit 3,8 Milliarden Jahren durch alles Leben auf diesem Planeten und führt zu immer höherer Komplexität.

Lebenssysteme finden ihre Stabilität im dynamischen Zusammenspiel des Unterschiedlichen. Die Fähigkeit zur Integration des Unterschiedlichen zeichnet auch uns Menschen im Besonderen aus. Wir schafften es, in 1,4 Millionen Jahren alle Ökosysteme dieser Welt zu besiedeln, mit Ausnahme der Antarktis. Das haben wir auch erreicht durch unsere Fähigkeit zum Austausch von Gedanken, zum wechselseitigen Lernen und zum Aufbau von Kultur, Gesellschaft und Ökonomie.

Albert Schweitzer verweist darauf, uns wieder bewusst zu machen, dass wir als Lebensform von anderen Lebensformen gehalten sind. Umgekehrt sind wir gut beraten, die anderen Lebensformen in ihren vielfältigen, unterschiedlichen Möglichkeiten zu stärken und zu halten. Das ist eine Ethik des Lebendigen, die wir im Grunde genommen in allen Religionen und Wertvorstellungen unserer Welt wiederfinden – egal, ob sie animistisch sind und von einer geistig-beseelten Natur ausgehen oder ob sie monotheistisch sind, indem sich die Vielfalt von Natur und Menschen in einem Gottesbild vereint.

Kultureller Gestaltungsraum

e: Mit solch einem ethischen Anspruch scheinen wir aber machtlos der Dynamik des sich verselbstständigenden Finanzkapitals ausgesetzt zu sein. Wie können wir diese Kluft zwischen Lebensdienlichkeit und der Entgrenzung der Geldvermehrung überbrücken?

DD: Die Begrenztheit unseres Planeten setzt der Expansion des Finanzkapitals insofern eine Grenze, als es ab einem bestimmten Punkt in die komplette Entwertung geht. Genau hier zerbricht die Kollektivpsychose, in der gar nicht mehr bemerkt wurde, dass man sich in einer Traumwelt bewegte. Wir haben eine vollkommen wahrhaftig wahnsinnig gewordene Wirtschaftspolitik kultiviert, die ihre Selbstzerstörung als Bedingung ihrer Zukunftsfähigkeit kommuniziert.

Das Gute aber ist, dass Wirtschaft, inklusive des Geldes, auf Kultur und gesellschaftlichen Institutionalisierungen beruht. Das heißt, sie ist ein Teil unseres kulturellen Gestaltungsraums. Sie ist Ausdruck unserer eigenen Vorstellungen, Wünsche und Träume, davon, wie wir miteinander umgehen wollen. Und dadurch können wir die Eigenschaften des Finanzkapitals verändern. Das schaffen wir, indem wir der Ökonomie und der Geldvermehrung einen ordnungspolitischen Rahmen setzen. Darin kann Geldvermehrung nur dann stattfinden, wenn auch Naturkapital vermehrt wird – wir koppeln Finanzkapital an die Entwicklung von Naturkapital. Dadurch bauen wir Naturkapital auf, dann kann auch die Menge des Finanzkapitals wieder zunehmen. Die Überschüsse des Finanzkapitals, die letztlich Spekulation auf die ökologische Produktivität der Zukunft sind, können wir wieder in Naturkapital zurückverwandeln.

Wieso? Menschen sind bereit, für ihre eigene Ernährung und ihre eigene Wohlstandssicherung Arbeit zu leisten. Diese Arbeit könnte auch die Renaturierung einer degradierten Flussaue oder die Neukultivierung einer Landschaftsfläche sein. Das heißt, wir können Finanzkapital nutzen, um Arbeit zu finanzieren, durch die wir Bodenfruchtbarkeiten wiederaufbauen und durch unsere landwirtschaftliche Tätigkeit landschaftliche Fruchtbarkeit verbessern. Das ist dann eine regenerative, aufbauende Landwirtschaft.

¬ LEBENSSYSTEME FINDEN IHRE STABILITÄT IM DYNAMISCHEN ZUSAMMENSPIEL DES UNTERSCHIEDLICHEN. ¬

Dies würde auch bedeuten, dass ein Unternehmen, beispielsweise ein landwirtschaftlicher Betrieb, neben einer Handels- und Steuerbilanz eine Naturkapitalbilanz benötigt, die zeigt, ob Boden aufgebaut oder Boden abgebaut wurde, ob er zu viel Nitrat in die Gewässer und damit die Nahrungsketten eingebracht hat oder ob er den Nitrathaushalt gestärkt und stabilisiert hat, ob Biodiversität ermöglicht und gestärkt, oder beschädigt wurde.

Wurde ein Schaden verursacht, dann muss dafür eine betriebliche Ausgleichsmaßnahme gezahlt oder dieser Ausgleich eigenständig geleistet werden. Wird ökologischer Nutzen ausgelagert, dann muss dieser durch eine Erhöhung des Unternehmenswertes belohnt werden, weil die Produktionsgrundlage stabilisiert wurde. Das würde auch bedeuten, dass ein solch regenerativ wirtschaftender Betrieb erleichterten Zugang zu Finanzkapital bekäme, weil er systemisch ein geringeres Risiko verursacht, gegebenenfalls sogar risikomindernd wirkt. Gleichzeitig könnte er eine Steuerminderung erfahren, indem zum Beispiel seine Produkte nicht mehr mit einer Mehrwertsteuer belastet wären, weil er ja den Mehrwert durch den Aufbau von Naturkapital schon selber leistet.

Die Grundlage eines regenerativen, ökologisch stärkenden Wirtschaftens ist, dass solche Unternehmen, die ökologisch aufbauend wirtschaften, auch einen tatsächlichen wirtschaftlichen Mehrwert im Zuwachs ihrer eigenen Produktivität erfahren. Demgegenüber müssen diejenigen, welche natürliche Gemeingüter beschädigen, diese Kosten über die Bilanz in ihrem Unternehmen wiederfinden. So würde z. B. ein konventionell produziertes Müsli um ein Vielfaches teurer werden als ein regenerativ produziertes Müsli, welches dann im Preis günstiger wäre und außerdem gesünder.


Author:
Dr. Thomas Steininger
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