Mehr als ein Willkommen

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Interview
Published On:

October 26, 2015

Featuring:
Thomas Greinke
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Issue:
Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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Wenn Flüchtlingshilfe zum Miteinander wird

Die Flüchtlingskrise ist allgegenwärtig und Tausende engagieren sich derzeit in Deutschland, um den Menschen, die zu uns kommen, zu helfen. Für Thomas Greinke erwächst aus seiner Arbeit mit Flüchtlingen ein neuer Blick auf das Leben als Ganzes.

evolve: Wie bist du dazu gekommen, dich für Flüchtlinge zu engagieren?

Thomas Greinke: Ein erster Impuls kam mir Anfang des Jahres, als ich beim Kulturmonat in meiner Geburtsstadt einen Meditations-Event zum Thema »Zeit für Stille« in der Stadtkirche organisiert habe. Die Einnahmen wollte ich nicht für mich nehmen und mir kam spontan die Idee, sie für Flüchtlingskinder zu spenden. Damit begann für mich die Aufmerksamkeit für das Thema größer zu werden. Der zweite starke Impuls kam aus Gesprächen mit meiner Frau, die als Psychiaterin viel mit Flüchtlingen zu tun hat, die psychisch schwerst traumatisiert und auch suizidal sind. Eines Tages kam sie nach Hause und sagte, bei einem ihrer Patienten »hat der Haken gehalten«: Ein Flüchtling, der nach drei Jahren in Deutschland wieder abgeschoben werden sollte, hatte sich erhängt. So waren diese Themen immer präsent und ich spürte die Ohnmacht, Traurigkeit, Wut und Verzweiflung, wenn man vor dem Fernseher sitzt und die erschütternden Bilder sieht. Eines Abends haben wir dann als Familie mit unseren beiden Söhnen zusammengesessen und entschieden, wir müssen etwas tun. In unserer Lokalzeitung war ein Artikel erschienen, in dem um Hilfe gebeten wurde, wir haben uns dort gemeldet und damit ging es los.

Das ist der eine Weg, für mich gab es aber noch andere Motive, die aus dem spirituellen Weg kamen, den ich schon viele Jahre gehe. Einer meiner Lehrer sagte einmal: »Du musst eine so tiefe Verbindung zum Leben haben, dass es wehtut.« Wenn ich das Elend der Flüchtlinge sehe, dann habe ich manchmal das Gefühl, dass es mich innerlich zerreißt. Auch daraus kam der Impuls, mich konkret zu engagieren.

e: Wie sieht eure ehrenamtliche Arbeit mit Flüchtlingen aus?

TG: Wir sind ehrenamtliche Betreuer für sieben junge Menschen zwischen 17 und 26 Jahren aus Somalia. Das bedeutet, wir unterstützen sie in allem, man könnte sagen, wir sind Paten. Das geht vom Arztbesuch bis zu Behördengängen. Wir haben für alle einen Schulplatz gefunden und Wohnungen besorgt, in denen jeder ein eigenes Zimmer hat. Und wir zeigen ihnen, wie unsere Gesellschaft funktioniert, was unsere Kultur ausmacht. Das geht schon damit los, dass sie lernen, wie eine Waschmaschine funktioniert, oder wie man ein Bankkonto einrichtet oder einen Internetanschluss herstellt. Wie man sich mit 300 Euro vernünftig ernährt, wo und was man einkaufen kann – es ist im Grunde das gesamte Leben. Wir sind also auf allen Ebenen für sie da. Jeden Tag öffnen wir uns dafür, was jetzt gebraucht wird.

¬ WIR SIND IN DIESE ARBEIT REINGESPRUNGEN, OHNE ZU WISSEN, AUF WAS WIR UNS EINLASSEN. ¬

Neben den äußeren Belangen ist es uns noch viel wichtiger, ihnen ein inneres Zuhause zu geben. Wir führen ganz viele Gespräche, sowohl einzeln als auch in der Gruppe, was wir jetzt im Sommer oft am Lagerfeuer gemacht haben. Wir begegnen ihnen in ihrem Schicksal und versuchen, den unermesslichen Schmerz gemeinsam zu tragen und ihnen zu helfen, ihre Traumatisierung zu überwinden. Wir haben eine sehr enge Beziehung zu Hassan entwickelt, der heute 18 Jahre alt ist. Er ist mit 16 aus Somalia geflohen, nachdem die Al-Shabaab-Miliz seinen Vater vor seinen Augen erschossen und seine beiden Brüder verschleppt hatte. Er flüchtete dann zwei Jahre lang – teils zu Fuß, mit Pkws, per Flugzeug und Boot – über Äthiopien, den Iran, die Türkei und Griechenland nach Kroatien. In Kroatien wurde er festgenommen, für vier Monate eingesperrt, misshandelt und es wurden gewaltsam die Fingerabdrücke genommen. Damit ist er dort regis­triert, aber er wollte von Anfang an nach Deutschland. Er ist jetzt fünf Monate hier und hat nun einen Abschiebebescheid bekommen, wodurch er wieder nach Kroatien zurückmuss, denn nach dem Dublin-Abkommen wird man wieder dorthin zurückgeschickt, wo einem zuerst die Fingerabdrücke abgenommen wurden. Und das lässt ihn verzweifeln, weil er in Kroatien so misshandelt und später auch noch ausgeraubt wurde. Seit fünf Monaten hat er Angst, wieder dorthin zurückzumüssen, und konnte während der ganzen Zeit kaum schlafen und ist psychisch vollkommen am Ende. Hassan ist ein freundlicher, kluger Mensch und spricht sehr gut türkisch, französisch, englisch und mittlerweile auch richtig gut deutsch. Er hat in den Monaten hier Freunde gefunden und beginnt, sich zuhause zu fühlen. Er will endlich zur Ruhe kommen, aber nun hat er den Abschiebebescheid. Wir haben ihn daraufhin zu uns nach Hause genommen, damit er nicht nachts abgeholt wird, wie es die Polizei oft macht, um die Menschen dann gleich in ein Flugzeug zu setzen. Gegen die Abschiebung haben wir Klage eingereicht und sogar ein Adoptionsverfahren eröffnet, weil wir einfach das Gefühl haben, wir sind seine einzige Chance und wir ihn in den lezten Monaten so lieb gewonnen haben.

Seit einigen Wochen wohnt auch die 17-jährige Mumtaz, eine Cousine von einem unserer Somalier, bei uns. Sie war schwer krank hier angekommen, nachdem sie allein von Somalia geflohen war und schwer misshandelt wurde. Aber damit ist jetzt auch unsere Kapazität erschöpft. Denn es ist natürlich zeitlich, finanziell und vor allem menschlich eine große Herausforderung. Aber ich muss auch sagen, dass wir unglaublich viel Unterstützung von Nachbarn und Freunden bekommen, die uns Fahrräder, Möbel und Kleidung geben. Für unser Engagement bekommen wir auch viel Anerkennung in unserer Stadt und haben gerade den Itzehoer Bürgerpreis für Ehrenamtliches Engagement erhalten.

Itzehoer Bürgerpreis für Ehrenamtliches Engagement.

e: Diese Art des Miteinanders ist ja mehr als nur Hilfe »für andere«. Du scheinst selbst Teil eines größeren Entwicklungsprozesses zu werden. Wie verändert sich dadurch dein Verständnis vom Leben – und von Spiritualität?

TG: Die jungen Menschen, um die wir uns kümmern, sind sehr religiös, sunnitische Muslime, sie beten fünf Mal am Tag. Wir sprechen oft über Gott und für mich ist es ein wichtiger Aspekt des Umgangs mit ihnen, ihre Würde, Größe und auch Stärke zu sehen, für die ich größte Hochachtung habe, denn trotz der schweren Traumatisierung sind sie sehr liebevoll wertschätzend und lebensfroh – wir haben auch viel Spaß miteinander.

Dann ist es für mich so, dass ich durch diese Arbeit meine Stadt ganz neu kennenlerne, weil ich so viele engagierte Menschen treffe. Dabei sind wunderbare Verbindungen entstanden. Im spirituellen Sinne habe ich den Eindruck, dass ich noch einmal tiefer in der Welt, in meiner Gesellschaft angekommen bin. Und ich habe gelernt, was es bedeuten kann, ins Unbekannte zu gehen und dem zu vertrauen. Wir sind in diese Arbeit reingesprungen, ohne zu wissen, auf was wir uns einlassen. Aber was ich dabei entwickelt habe, ist ein tieferes Verstehen unserer Verbundenheit als Menschen. Man kann sich durch spirituelle Praxis verbunden fühlen, aber es so konkret zu leben, ist für mich eine vertiefende Erfahrung. Das betrifft die Verbindung zu den Menschen, aber auch die Verbundenheit mit der Welt und dem Leben und unserer kulturellen Entwicklung. Ich denke, die Integration von Menschen, die neu in unser Land kommen und hier Schutz und Heimat suchen, wird eine der größten Herausforderungen aber auch Gestaltungsmöglichkeiten unserer Gesellschaft sein.

Diese tiefere Verbundenheit mit dem Leben auf all diesen Ebenen ist für mich zum eigentlichen Ort spirituellen Lebens geworden, denn ich bin ständig aufgerufen, über meinen Selbstbezug hinauszugehen. Und das macht glücklich und zutiefst zufrieden, denn in dieser Öffnung für andere Menschen in Not und für die Welt, wird auch ein Angebundensein an eine spirituelle Wirklichkeit spürbar, wie immer man diese nun nennen mag. Das zusammen zu erleben, ist ein großes Geschenk und auch ein starker Impuls, mich selbst weiter zu entwickeln und ganz konkret in meiner Umgebung zu wirken.

 

Author:
evolve
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