Mein Wille geschehe

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Essay
Published On:

July 18, 2022

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Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
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Wie spiritueller Narzissmus das Heilige zerstört

Gott als Autorität hat ausgedient. Und die Psychologisierung der Spiritualität vereinnahmt das Transzendente. Doch wie bedeutsam sind spirituelle Erfahrungen, wenn persönliche Anmaßung an die Stelle von Gnade tritt? Und was trägt uns wirklich in existenziellen Krisen?

Ich erinnere mich noch gut, wie es war, wenn meine Großmutter nach getaner Arbeit ihren Rosenkranz, den sie immer bei sich trug, aus der Tasche ihrer Kittelschürze hervorholte, sich auf das knarrende Holzsofa in ihrer Küche setzte und betete. Ihr Ritual war mir vertraut und fremd zugleich. Während die Perlen durch ihre Finger glitten, flüsterte sie Worte, die ich kaum verstehen konnte. Ich spürte, dass ich dann besser leise spielte. Sprach ich sie doch einmal an, reagierte sie meist kaum, so versunken war sie. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass in diesen Momenten die Stille zwischen den Schlägen der Pendeluhr auf besondere Weise hörbar wurde. Meine Großmutter redete nie über ihren Glauben. Ihr Tun sprach für sich. Ihre Zuwendung zum Heiligen lebte von einer sehr schlichten Hingabe, die fraglos war. Gott war für sie ein eindeutiger Ankerpunkt, das große Gegenüber, dem sie ihr Leben einfach anvertraute.

Das Ich rückt ins Zentrum

Diese Art der unreflektierten Volksfrömmigkeit wirkt heute antiquiert. Und sie ist eine Erinnerung an eine andere Zeit. Meine Großmutter wurde zu Beginn des letzten Jahrhunderts geboren. Und sie starb vor 40 Jahren. Die Demut, die in ihrer Ausrichtung zum Göttlichen zum Ausdruck kam, hat inzwischen Seltenheitswert. Für die Generation meiner Großeltern hatte das Heilige noch eine natürliche Gravitation. Gott war die gütige Autorität des Lebens, der man sich unhinterfragt zuwandte. Und was aus der Zuwendung zu dem, was den Menschen übersteigt, erwuchs, war ein Akt der Gnade. Während meine Großmutter noch »einfach betete«, knüpfen heute viele Menschen an ihre Beziehung zum Heiligen sehr konkrete Erwartungen, die befriedigt werden sollen. Das ist ein radikaler Paradigmenwechsel. »Traditionell christliche Spiritualität basiert auf dem Glauben an einen transzendenten Gott, der nur durch religiöse Autorität und Institutionen vermittelt werden kann. Moderne Formen der Spiritualität sind stark individualisiert, ausgesprochen psychologisch und fördern ein universelles Modell einer angeborenen inneren Göttlichkeit«, beschreibt die Religionswissenschaftlerin Ann Gleig diesen Bruch, der die Beziehung zu Gott geradezu auf den Kopf stellt. In ihrer Forschung über »Narzissmus und Psychospiritualität« beobachtet sie einen »sozio-historischen Wandel von religiösen Gemeinschaften, die von einer kulturellen Symbolik geleitet wurden, welche auf Kontrolle, einer Zügelung des Verhaltens und einer Ethik basierte, die die Gruppe über das Individuum stellte, hin zu therapeutisch orientierten Gemeinschaften, die einen Modus der Selbsterfahrung unterstützen«. Während im traditionellen Glauben Ergebenheit und Respekt damit versöhnen, dass nicht alles in menschlicher Hand liegt, formuliert die eher eigennützige Spiritualität Ansprüche, die zu erfüllen sind. Wie weitreichend dieser Wandel ist und welche Umwälzungen sich durch ihn bereits vollzogen haben, wurde mir erstmals deutlich, als wir vor 15 Jahren bei der Identity Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung für Philosophie, die Spiritualität der Deutschen untersuchten. Zu unserer Verblüffung betrachteten sich nur zehn Prozent der Befragten noch als Traditionschristen, die dem kirchlichen Dogma folgen. Ein Drittel hingegen gab sich als »religiös-kreativ« zu erkennen und nahm für sich in Anspruch, das, was christlicher Glaube bedeutet, ganz nach eigenem Gutdünken zu definieren.

¬ DIE PSYCHOLOGISIERUNG DER SPIRITUALITÄT BRINGT EINE UNWUCHT IN DIE KOSMOLOGIE. GERADE IN DER SELBSTAUFGABE ZEIGT SICH DIE TRÖSTLICHE KRAFT DES HEILIGEN. KÖNNEN WIR ES WIEDER ERLAUBEN, VERWANDELT ZU WERDEN? ¬

Damit zeigt sich im Verhältnis zum Unverfügbaren geradezu eine Schubumkehr, denn zugespitzt formuliert tritt der Mensch nun mit Gott in Konkurrenz. »Da der Prozess der Selbstverwirklichung eine radikale Veränderung der Subjektivität darstellt, aktiviert und verschärft er unweigerlich jede Form von Narzissmus«, bemerkt auch Ann Gleig in ihrer Untersuchung. Diese Psychologisierung der Spiritualität bringt eine Unwucht in die bisherige Kosmologie und untergräbt das Unantastbare des Heiligen. Spirituelle Kapazitäten wie der indische Gelehrte Jiddu Krishnamurti haben diese Entwicklung schon immer sehr kritisch betrachtet. »Die Person ist außerordentlich wichtig geworden, nicht die Lehren, nicht die Realität. Die persönliche Erfahrung einer Person ist vielleicht nur eine Projektion der eigenen Absichten, Ängste und Hoffnungen. Sie hat eigentlich überhaupt keinen Wert, wenn es um die Wahrheit geht. Medi­tation ist keine persönliche Leistung, neben Gott zu sitzen«, bemängelte er bereits in den 1980er-Jahren. Wenn Selbstbezogenheit wichtiger wird als das, was in einer Beziehung der Offenheit zum Absoluten als immer wieder Überraschendes, Nichtvorherbestimmbares aufscheinen kann, landet man schnell bei dem, was die Psychologie heute »spirituellen Narzissmus« nennt. In der Fachwelt herrscht Uneinigkeit, ob es sich hierbei um eine abträgliche oder vielleicht sogar eine wünschenswerte, zumindest nicht zu kritisierende Entwicklung handelt, was auch daran liegt, dass die psychologische und die spirituelle Deutung in ganz unterschiedliche Richtungen weisen.

Erwartungen statt Hingabe

Der Sozialpsychologe Jochen Gebauer etwa betrachtet das Thema sehr entspannt. »Wir dachten immer, dass Selbstüberschätzung etwas Negatives ist. Außerhalb der Wissenschaft denkt man das bis heute noch. Das hat auch etwas mit unserer religiös geprägten Kultur zu tun. Wenn ich mich als besser wahrnehme, ist das schlecht. Inzwischen hat die Forschung allerdings herausgefunden, dass die allermeisten Menschen sich überschätzen und dass dies die psychisch gesünderen Menschen sind. Selbstüberschätzung ist ein zentraler Weg zu einer guten psychischen Gesundheit«, erklärt Gebauer in einem Yoga-Podcast. In einer Kultur, die auf individuelle Leistung und Selbstdarstellung setzt, ist dieser Zusammenhang plausibel, denn wer vor Selbstbewusstsein strotzt, leidet wahrscheinlich weniger unter hohen Anforderungen. Aber lässt sich dieses Ziel vielleicht auch erreichen, ohne sich selbst zu überhöhen? Als Gebauer in der Yoga-Philosophie darauf stößt, dass die Yoga-Praxis die psychische Gesundheit fördere und dabei die menschliche Neigung zur Selbstüberschätzung reduziere, wird er neugierig. Diesen Zusammenhang empirisch zu belegen, könnte die in der westlichen Psychologie in Maßen durchaus geschätzte Selbstbezüglichkeit mit einem neuen Fragezeichen versehen. Gebauer untersucht Yoga-Übende und Meditierende. In beiden Gruppen stößt er auf ein verbessertes Wohlbefinden – das, so ergeben seine Analysen, nicht unwesentlich aus der spirituellen Selbstaufwertung der Praktizierenden erwächst. Für den Sozialpsychologen ist dieses Ergebnis schlicht eine weitere Bestätigung für einen bereits bekannten psychologischen Zusammenhang. In den Medien wird daraus eine »Spiritualität auf Abwegen« und die Feststellung: »Dem Ego ist nichts heilig.«

Roos Vonk, ebenfalls Sozialpsychologin, erkennt die persönlichen Motivationen, die Menschen mit dem Spirituellen verbinden, durchaus an: »Viele beginnen ein Achtsamkeitstraining, um Beschwerden wie Schlaflosigkeit, Stress oder Grübeln zu reduzieren, oder weil sie weiser, friedlicher, aufmerksamer werden wollen. Sie zielen auf das individuelle Wohlbefinden ab. Außerdem ist der Ausgangspunkt, dass etwas repariert oder verbessert werden sollte.« Aus individueller Sicht macht es Sinn, Methoden wie Meditation, deren positive gesundheitliche Wirkung für viele psychische und körperliche Leiden wissenschaftlich belegt ist, entsprechend zu nutzen. Was Vonk jedoch beschäftigt, ist, dass diese funktionalisierende Vereinnahmung von spirituellen Praktiken diesen ihre den Geist von sich selbst befreiende Wirkung nimmt und sie ins Gegenteil verkehrt. »Das individuelle Selbst, das sich gut fühlen will, legt sich über das wache Selbst wie eine schöne, warme, einschläfernde Decke«, sagt sie. In ihrer kürzlich veröffentlichten Studie zu spirituellem Narzissmus, für die sie Meditierende betrachtete wie auch Menschen, die sich in spiritueller Energiearbeit üben, stieß sie auf Haltungen spiritueller Überlegenheit, selbsternannter spiritueller Führerschaft und übernatürlicher Selbst­überschätzung. Die Untersuchten zeigten eine überdurchschnittlich hohe Zustimmung zu Aussagen wie: »Ich bin mir dessen, was zwischen Himmel und Erde liegt, mehr bewusst als die meisten Menschen.« Oder: »Ich kann die Welt um mich herum mit meinen Gedanken beeinflussen.« Für spirituelle Skeptiker mag sich das einfach ein bisschen übertrieben anhören. In der christlichen Tradition klingt es arrogant, ja beinahe gotteslästerlich.

Wenn es existenziell wird

Man muss kein katholischer Bischof sein, um diese Entwicklung bedenklich zu finden. Denn es ist nicht allein eine theologische Herausforderung oder eine Bedrohung kirchlicher Autorität, wenn das Fundament des Heiligen ausgehöhlt wird. Wenn göttliche Gnade zur persönlichen Anmaßung wird, gerät etwas ganz Grundsätzliches ins Wanken. Der Theologe Rudolf Otto, der vor hundert Jahren ein noch heute relevantes Standardwerk über »Das Heilige« schrieb, sprach nicht umsonst vom Mysterium als dem »Ganz Anderen«. Gleich ob man es Gott nennt oder Nirvana, es geht um das, was über den menschlichen Horizont hinausweist und sich deshalb nicht in Besitz nehmen lässt. Spiritualität bedeutet so betrachtet, sich diesem »Geheimnis des Überweltlichen« auszusetzen. Wenn Otto von spiritueller Erfahrung spricht, dann meint er damit, dass dieses Erhabene »in die tiefsten Gründe der Seele« greift, »aufregend und rührend mit mächtigem Schauer«. Es ist eine Dynamik, die den Menschen in der Tiefe seines Wesens trifft, dort, wo er aus sich selbst heraus nicht hingelangt. Und sie lebt gleichermaßen von der Beglückung wie auch von der Erschütterung. Strategien spiritueller Aneignung greifen allein nach dem Erhebenden und werfen das, was den Menschen zum Erbeben bringt, über Bord. Doch was bleibt dann noch übrig von der Spiritualität?

Wie wesentlich diese Ganzheit ist, die wirklich alles beinhaltet, haben viele Menschen in der Pandemie erfahren. Gerade weil in ihr Licht und Schatten zusammenfallen und eins sind, eröffnet sie Hoffnung und Trost und hält dabei auch das dem Menschen Unerträgliche. In sehr säkularen Gesellschaften wie Deutschland, wo Spiritualität sich oft genug am Erwünschten misst, war das Hadern mit den Corona-Zumutungen besonders groß. Sowohl Menschen christlichen Glaubens als auch jene, die sich nichtkonfessionellen Formen der Spiritualität verbunden fühlen, verloren in erheblichem Maße ihr Vertrauen in eine größere Macht, die das Leben trägt. In Ländern wie Polen oder Italien, in denen das Religiöse noch wesentlich traditioneller gelebt wird, war dies weitaus seltener der Fall. Wahrscheinlich hat das auch etwas mit Demut zu tun. Eine neue Studie zu spiritueller Hingabe jedenfalls legt nahe, dass es gerade die Selbstaufgabe ist, in der sich die tröstliche Kraft des Heiligen zeigt. Auch Menschen mit besonders großer religiöser Hingabe werden von schweren Ereignissen gebeutelt, doch selbst wenn sie sehr intensive negative Gefühle erfahren, verlieren sie dabei nicht ihre Lebenszufriedenheit. Es mag paradox klingen, aber gerade weil spiritueller Narzissmus diese Demut und Hingabe von sich weist, ist er dort, wo Spiritualität wirklich notwendig wäre, nämlich in den wirklich existenziellen Situationen des Lebens, zum Scheitern verurteilt.

Sich verwandeln lassen

Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Es geht nicht darum, dass traditionelle Religionen wie das Christentum der einzig denkbare Rahmen wären für eine Spiritualität, die diesen Namen verdient. Wo Kultur im Ganzen dem, was das menschliche Vermögen übersteigt, immer weniger Raum gibt, sind es vor allem Menschen, die in hingebungsvoller Ernsthaftigkeit einer spirituellen Praxis nachgehen, die uns noch verstehen lassen, was Spiritualität bedeuten kann. Die Wissenschaft sucht sie, weil dies am Erfolgversprechendsten ist, gerne in traditionellen religiösen Kontexten. Doch auch die Religionen finden sich, der eingangs beschriebene Patchwork-Glaube macht dies deutlich, selbst bereits im Sog spiritueller Enteignung.

Der Narzissmus, der sich heute im Spirituellen zeigt, ist im Profanen in vielen Gesellschaften längst die vorherrschende Strömung. Wir scheinen geradezu besessen davon, uns das Leben und die Welt verfügbar zu machen. »Dabei übersieht man aber, dass immer ein Riss, ein Spalt zur Welt bestehen bleibt, und dass gerade und nur in diesem Riss, in dem, was unverfügbar bleibt, wirkliche Erfahrung und Lebendigkeit aufscheinen kann«, sagt der Soziologe Hartmut Rosa. Seine Kritik an der Kultur der Vereinnahmung trifft nicht nur im Weltlichen etwas, sondern auch mit Blick auf das Himmlische. Dieser Riss, den wir mit überheblichen Ambitionen immer wieder zu kitten versuchen, ist letztlich der Riss, durch den sich das Heilige überhaupt nur zeigen kann. Was wäre, wenn wir mehr daran interessiert sind, darüber zu staunen, anstatt stolz darauf zu sein, wenn wir ihm vielleicht begegnen? Für Rosa wäre das eine »Haltung des anverwandelnden Antwortens«, in der das gewohnte »Steigerungsspiel« seinen Sinn verliert. Wir streben nicht mehr nach Erleuchtung, um uns mit ihr zu brüsten. Wir erlauben es, verwandelt zu werden. »Dann«, so Rosa, »wird eine andere Welt möglich.«

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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