Mittendrin

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July 19, 2018

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Ausgabe 19 / 2018:
|
July 2018
Stadt & Land
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Es wird grün. Es wird rot – und wieder grün. Kein Auto bewegt sich. Freitagnachmittag. Ich befinde mich auf einer Hauptverkehrsstraße, die durch eine Stadt am Rande des Ruhrgebiets führt. Links an der Fassade eines mehrstöckigen Gebäudes hängt eine große Folie: Wohnungen zu vermieten, frisch renoviert. Die Wohnungsgrößen und die günstigen Mietpreise sind aufgelistet sowie eine Reihe von Vorteilen und Annehmlichkeiten, die einen erwarten. Auch für Arbeitslose. Zu meiner Rechten erkenne ich den Platz vor dem Hauptbahnhof. Menschen aller Couleur überqueren die Straße.

Ich bin auf dem Weg zu einem Waldfriedhof, genauer gesagt zu einem Ruheforst. Das Navi hat mich zu einer Straße mit einem Namen, ähnlich dem, den ich eingegeben hatte, geführt. Es war eine ruhige Wohnstraße, eine Sackgasse ohne Wald. Ein Anwohner erklärte mir, dass der gesuchte Ort am anderen Ende der Stadt sei. In der Zeit bis zur Urnenbeisetzung würde ich es wohl kaum schaffen, dort hinzukommen. Er sollte recht behalten. Jetzt stehe ich im Stau – mittendrin.

Irgendwann erreiche ich dennoch den Wald und fahre den sich schlängelnden Weg hoch bis zu einem Parkplatz am Wegesrand, wo ich aussteige. Ich laufe an einer Schranke vorbei und bin mittendrin – diesmal im Wald. Kaum etwas weist darauf hin, was dort zu finden sein soll. Die ganze Woche über reihte sich ein Termin an den anderen. Jetzt komme ich zur Ruhe. Ich habe keine Ahnung, wo sich die Trauergemeinschaft befindet. Mein Herz ist bei der Verstorbenen. Ich bedanke mich bei ihr, dass sie mich an diesem Freitagnachmittag hierhin geführt hat. Etwas in mir hat inzwischen losgelassen. Einige Gegenden, in denen wir in den vergangenen 30 Jahren zusammen waren, kommen mir in den Sinn. Ich laufe und genieße das schöne Wetter, den sanften Waldboden unter meinen Füßen, einige Blumen am Wegesrand, irgendwann von einer Anhöhe aus sogar den Blick auf die Stadt im Tal.

Braucht es einen fixen Punkt auf dieser Welt, an dem man jemandes, der einem nah war, gedenken kann?

Der Gedanke, dass überall im Wald Urnen vergraben sein könnten, beschäftigt mich. Wie ist es, nicht zu wissen, wo genau die letzten Überreste sind? Braucht es einen fixen Punkt auf dieser Welt, an dem man jemandes, der einem nah war, gedenken kann? Oder sind diese leichte Orientierungslosigkeit, die Ausdehnung in die Landschaft sowie das feine Hinüberspüren angemessener? Ich werde mir bewusst, dass ich als Kind und Jugendliche mit einer Grabeskultur aufgewachsen bin. Ab meinem zweiten Geburtstag lebte ich in der Straße, in der der Friedhof war. Bei Beerdigungen zog die Prozession von der Kirche zum Friedhof an unserem Haus vorbei. Manchmal spielte eine Blaskapelle. Wie oft habe ich am Fenster hinterm Vorhang gestanden und wie deutlich erinnere ich mich an die Tage, an denen ich selbst dort lief, um meine Großeltern und später meine Eltern zu ihrem sogenannten letzten Ruheplatz zu begleiten.

Nach einer Weile finde ich mich damit ab, dass ich nun nicht nur zu spät gekommen bin, sondern womöglich auch nicht einmal den genauen Platz finden werde. Und dann sehe ich in der Ferne eine Holzhütte und parkende Autos. Ab da gibt es auch vereinzelt kleine Schildchen mit Namen und Jahreszahlen an den Bäumen. An manchen Stellen wurden Blumen eingepflanzt. Ich gehe weiter. Als ich nach einer Weile noch immer niemanden sehe oder höre und überlege umzukehren, kommt mir der Pfarrer entgegen. Er erklärt mir den Weg und ermutigt mich, noch weiterzugehen. Ich komme genau rechtzeitig, um als Letzte eine frische, leuchtende, gelbe Rose sowie eine Handvoll Erde in das Erdloch oberhalb der Urne zu geben. Danach wird die Stelle zugeschaufelt und mit Blumen bedeckt. Zwei Menschen sind da, von denen ich weiß, dass irgendwann ihre Urne am gleichen Baum ruhen wird. Eine Holzurne, die spätestens nach fünf Jahren zusammen mit der Asche zu Humus geworden sein wird. Den Baum werde ich in Zukunft wahrscheinlich wiederfinden. Bis dahin hängt dann auch ein entsprechendes Schildchen dran.

Author:
Griet Hellinckx
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