Musik in der S-Bahn

Our Emotional Participation in the World
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Essay
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January 21, 2016

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Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
Ganz nah
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Vom Nebeneinander zum Miteinander

Die vielen Menschen, die derzeit aus Kriegsgebieten in Syrien und anderswo zu uns kommen, werden unser Land verändern. Wie kann dabei Integration zu einer ko-kreativen Möglichkeit werden?

Mittags in der S-Bahn von München in Richtung Süden. Ich nutze, wie oft, die Zeit und den Raum, kreativen Impulsen nachzugehen. Schräg hinter mir höre ich sehr laute Musik, die durch das ganze Abteil dröhnt. Das ist eine ungewöhnliche Erfahrung, da die Regeln der gegenseitigen Rücksichtnahme in öffentlichen Verkehrsmitteln meist beachtet werden. Ich versuche zuerst, mich davon zu distanzieren, und hoffe, dass der Verursacher selbst bald die Musik abschaltet. Nach 10 Minuten sich steigernder Irritation drehe ich mich um. Nun sehe ich ein junges Ehepaar mit einem ungefähr einjährigen Baby im Kinderwagen. Ihr Erscheinungsbild lässt auf Syrier schließen und vermuten, dass sie als Flüchtlinge in Bayern angekommen sind. Der Vater hält fröhlich ein iPhone in der Hand, das ein rockiges Musikvideo abspielt. Direkt vorm Gesicht des Babys, wohl um es abzulenken, da es quengelt.

Diese Situation kann jedem von uns begegnen. Das Ereignis löste unmittelbar und in einer kurzen Zeitspanne einen spannenden inneren Prozess mit vielfältigen Empfindungen und Gedanken aus. Ich erlebte, was passiert, wenn unterschiedliche Wertvorstellungen und kulturelle Hintergründe aufeinandertreffen. Nach anfänglichem Ärger über dieses, von mir als grenzüberschreitend wahrgenommenes Verhalten, folgte Neugier über das, was noch entstehen würde. Ich beobachtete meine Mitreisenden und sah, dass die meisten ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen hatten, oder sich bemühten, das Verhalten zu ignorieren. Niemand schien auf die Situation reagieren zu wollen.

Mir kamen diese Fragen: Wie kommt es, dass niemand, mich eingeschlossen, reagiert? Würden wir uns anders verhalten, wenn es eine deutsche Familie wäre? Wie geht es Teenagern, wenn sie sehen, dass Ausländer für ein regelbrechendes Verhalten nicht angesprochen werden? Gerade sie, die immer wieder lernen, dass es Konsequenzen hat, wenn man Regeln bricht? Und was würde diese junge Familie daraus schließen, wenn sie 20 Minuten lang laute Musik im Zug unbeachtet spielen darf? Alles ganz konkrete Fragen, die die Komplexität des Themas Integration verdeutlichen.

Mir wurde klar, dass eine größere Toleranzgrenze, weil »diese Menschen ja aus einem anderen kulturellen Kreis kommen und es nicht wissen können«, die Andersartigkeit verstärkt und eine Polarisierung »sie und wir« fördert. Menschen, für die Recht und Gerechtigkeit wichtig sind, sehen unter Umständen ihre Werte verraten. Wut und Ablehnung richten sich gegen Migranten, die scheinbar bevorzugt behandelt werden, und gegen Mitbürger, die in ihren Augen unreflektierte Toleranz walten lassen. Das führt letztendlich auch zu innergesellschaftlichen Spaltungen.

¬ ERST WENN SICH MENSCHEN ALS MITGESTALTER ERLEBEN, FÜHLEN SIE SICH WIRKLICH ZUGEHÖRIG. ¬

Doch der Respekt gegenüber der Vielfalt der Kulturen schließt die Wertschätzung und den Schutz unserer eigenen kulturellen Errungenschaften und Regelwerke ein. Unsere herzliche Würdigung gegenüber Neuankömmlingen kann sich wirksamer darin ausdrücken, dass wir die Verantwortung übernehmen, sie auf unsere Werte und die Gesetze, die das gemeinschaftliche Leben regeln, hinzuweisen und ihnen die Konsequenzen bei Nichteinhaltung aufzeigen. Vieles, was uns selbstverständlich erscheint, ist es für andere Kulturen nicht und braucht eine Aufklärung. Musik in Transportmitteln oder auf der Straße laut abzuspielen wird in vielen Ländern Afrikas beispielsweise toleriert.

Flüchtlinge kommen am Hauptbahnhof München an (Sommer 2015).

Freundlichkeit, Aufklärung und Akzeptanz sind Voraussetzungen zur Integration und schaffen die Bedingungen für ein friedliches Nebeneinander. Nachhaltige Integration sollte jedoch ein Miteinander ermöglichen. Erst wenn sich Menschen als Beitragende und Mitgestalter erleben, fühlen sie sich auch wirklich zugehörig. Dazu kommt der Stolz, wenn wir spüren, dass wir die uns innewohnende Schaffenskraft in den Dienst einer Gemeinschaft stellen können. Dies sind kulturübergreifende Grundbedürfnisse, die uns Menschen zutiefst verbinden.

Eine Möglichkeit, um mit der Komplexität, Diversität und den Konfliktpotenzialen wie sie sich in der Integration zeigen, umzugehen ist der Meshwork-Prozess. Der Begriff Meshworking wurde von Don Beck geprägt. Er bezeichnet ein Verweben von unterschiedlichsten Kompetenzen und Zugangsweisen zu einem Problem, welche nur gemeinsam in eine neue Zukunft führen. In diesem Prozess identifizieren wir zunächst alle beteiligten Interessengruppen rund um das Thema Integration: Vertreter aus Politik, Justiz, Wirtschaft, einem Querschnitt der Zivilgesellschaft, Pro/Kontra-Bewegungen, Migrantengruppen, Gemeinde, Helferkreise, Religionen …, die aufrichtig zu Zukunftslösungen beitragen wollen. In einem ersten Schritt ermitteln wir die Interessen und zugrunde liegenden Bedürfnisse. Vorhandene Ressourcen wie Fertigkeiten, Fähigkeiten, Talente werden kartografiert. Dann erforschen wir, was das Verbindende zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen sein könnte. Daraus formulieren wir ein übergeordnetes Ziel, womit sich alle identifizieren, weil sie darin zugleich die Befriedigung persönlicher Interessen wiedererkennen. Die geteilte Zielsetzung erzeugt die Kraft, Divergenzen zu umfassen und dadurch eine verlässliche Grundlage für das weitere Vorgehen zu bilden. Im Kontext der Integrationsfragen könnte es z. B. lauten: »Wir sorgen gemeinsam für Wohlstand für alle in Deutschland.« Schließlich verbinden wir Bedürfnisse mit Ressourcen so miteinander, dass natürliche Synergien entstehen, weil sich jeder entsprechend seiner Neigungen und Werte einbringen kann. Arbeitsgruppen arbeiten an den Umsetzungen ausgewählter Themen. Sie stehen in einem stetigen Austauschfluss mit ihren jeweiligen Interessengruppen. Solche Prozesse könnten in regelmäßigen Treffen auf lokaler Ebene stattfinden und wären in regionalen und bundesweiten Meshwork-Prozessen integriert. Unerlässliche Teilnehmer auf allen Ebenen sind solche, die die Macht und Autorität haben, entwickelte Vorschläge politisch und juristisch durch- und umzusetzen.

In derartigen Meshwork-Prozessen erfahren wir Menschen uns als kreative Mitgestalter einer gemeinsamen Zukunft. Wir erkennen unseren einzigartigen Beitrag und übernehmen die Verantwortung, eine lebensbejahende Gemeinschaft, die für alle funktioniert, zu gestalten. Als »Social Architects« können wir einen Beitrag zum Ermöglichen ko-kreativer Räume leisten, in denen alles, was ist und im Werden ist, gehalten wird. Das Emporsteigen unseres höchsten Potenzials in allen Dimensionen des »Ich, Du und Wir« wird gefördert. Mit einem integralen Denken und funktionalen Prozessen gelingt es uns eher, den Wandel von einer ethnozentrischen Sichtweise, in der unsere Identität von unserer ethnischen Zugehörigkeit bestimmt wird, zu einer weltzentrischen Perspektive, in der wir uns als Bürger dieser Welt fühlen, zu ermöglichen. Aus dieser umfassenden Perspektive schaffen wir die Bedingungen für eine nachhaltige Integration.

Nun, wie ging meine Geschichte im Zug aus? Ich entschied einzuschreiten, ohne dabei den Stolz des Mannes zu verletzen, was eine laute Anrede vor allen Passagieren ausschloss. Ich wartete auf Blickkontakt. Dann drehte ich freundlich lächelnd einen imaginären Knopf. Sofort schaltete der Mann das Gerät aus. Die nonverbale Kommunikation dauerte ein paar Sekunden. Dann geschah etwas Wundervolles: Das Paar fing an, dem Baby leise vorzusingen.

Author:
Claudine Villemot-Kienzle
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