Muss die Toleranz alles tolerieren?

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April 17, 2019

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Ausgabe 22 / 2019:
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April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Toleranz ist ein wunderbarer Wert, denn ohne sie wäre das Zusammenleben von Menschen, die unterschiedliche Meinungen und Überzeugungen haben, in einer offenen Gesellschaft nicht möglich. Ziel der Toleranz ist es, die Autonomie gleichwertiger Individuen zu schützen. Dass Toleranz dennoch in der Praxis nicht so einfach umzusetzen ist, zeigt sich spätestens dann, wenn die Freiheit des einen, etwas zu tun, die eigene Freiheit tangiert. In modernen Gesellschaften, die immer heterogener werden, taucht das Problem besonders dort auf, wo es um unterschiedliche Wertevorstellungen geht, die unser Handeln prägen.

Hier steht die Frage im Raum: Muss alles toleriert werden, oder gibt es eine Grenze des Tolerierbaren? Die Antwort, die mir am plausibelsten erscheint, hat bereits 1944 der britische Philosoph Karl Popper gegeben. In seiner Schrift »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« erklärt er, wo die Grenzen der Toleranz liegen. Popper spricht in diesem Kontext vom Paradoxon der Toleranz. »Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.«

Alles und jeden zu tolerieren, führt also nicht zu mehr Toleranz, sondern zur Intoleranz. Popper hatte auch einen sehr konkreten Ratschlag, was dagegen zu tun sei: »Wir sollten daher im Namen der Toleranz das Recht für uns in Anspruch nehmen, die Unduldsamen nicht zu dulden. Wir sollten geltend machen, dass sich jede Bewegung, die Intoleranz predigt, außerhalb des Gesetzes stellt, und wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.«

Popper argumentierte hier gegen einen Werte-Relativismus, also jene Überzeugung, die lehrt, dass alle Werte, die existieren, gleichwertig seien. Für ihn sind Werte, die das Zusammenleben vieler ermöglichen, besser als Werte, die andere in ihrer Lebensgestaltung behindern oder die darauf angelegt sind, andere zu unterdrücken.

Wenn wir im Namen der Toleranz aufstehen, sind wir immer auch danach gefragt, unsere eigenen Motivationen zu betrachten.

Aus diesem Grund darf eine offene Gesellschaft alles, was dieses Miteinander gefährdet, nicht tolerieren. Meinungsfreiheit hört eben dort auf, wo eine Meinung anderen Menschen das Existenzrecht abspricht, sie herabwürdigt, demütigt oder für minderwertig erklärt. Dies gilt auch für die Religionsfreiheit. Sie ist kein Freibrief, um Freiheitsrechte anderer einzuschränken.

Toleranz funktioniert nur, wenn alle anerkennen, dass die anderen Menschen ihnen gleichwertig sind. Wo diese Grundannahme verneint wird, weil Männer sich für besser als Frauen halten, Menschen einer Nation sich über andere Nationen stellen, Gläubige sich über Nicht- oder Andersgläubige erhöhen oder Heterosexuelle ihren Lebensstil zur einzigen Norm zu erheben versuchen, ist die Grenze des Tolerablen erreicht. Solche Angriffe gegen die Toleranz dürfen nicht geduldet werden, selbst wenn sie von Menschen ausgehen, die selbst Opfer von Intoleranz wurden, denn Opfer zu sein, verleiht niemandem automatisch eine moralische Dignität. Ein Homosexueller kann sexuelle Diskriminierung erfahren haben und trotzdem rassistisch sein. Ein religiöser Mensch kann wegen seiner Religionszugehörigkeit diskriminiert worden sein und gleichzeitig ein Sexist sein. Da Rassismus oder Sexismus in einer offenen Gesellschaft nie toleriert werden dürfen, dürfen sie auch nicht in diesen Fällen toleriert werden.

Wenn wir im Namen der Toleranz aufstehen, sie einfordern oder ihrer Verletzung entschieden entgegentreten, sind wir immer auch danach gefragt, unsere eigenen, tieferen Motivationen zu betrachten. Würdigt unser Impuls Freiheit wie auch Zusammenhalt, also das Zusammenleben in der offenen Gesellschaft, oder begegnen wir in der Innenschau vielleicht bisweilen auch unseren eigenen Intoleranzen?

Author:
Dr. Katharina Ceming
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