Mythen sind Lebenserfahrungen der Menschheit

Our Emotional Participation in the World
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Published On:

July 12, 2021

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Ausgabe 31 / 2021:
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July 2021
Wir alle leben in Mythen
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Mythen sind nicht nur Geschichten, die wir uns erzählen, um die Welt zu verstehen. Mythische Motive zeigen sich auch in unseren Träumen und Inspirationen. Sie ergreifen uns, legen verborgene Sinnzusammenhänge offen. Die Jung’sche Psychoanalytikerin Ingrid Riedel hat sich zeitlebens mit dieser mythischen Struktur beschäftigt. Wir sprachen mir ihr über die Weisheit und Wandlungskraft des Unbewussten.

evolve: Was sind Mythen?

Ingrid Riedel: In unseren Träumen und tiefsten Fantasien können Motive auftauchen, die wir in Mythen wiederfinden. Eventuell haben wir diesen Mythos oder auch ein entsprechendes Märchen irgendwann gehört. Es sind einfach menschliche Grunderfahrungen, die sich in diesen Mythen verdichtet haben. Die Urerfahrung des Menschen mit dem Leben, mit dem Tod, mit Jugend und Alter, mit Mann und Frau, mit Führung und Gefolgschaft hat sich in großen Erzählungen niedergeschlagen, die kein Einzelner erfunden hat, sondern sie wurden durch Generationen hindurch erzählt und haben verschiedene Formen angenommen. Es sind eben Lebenserfahrungen der Menschheit.

Wenn ich mich mit meinen tieferen Fantasien, Träumen und schöpferischen Ideen beschäftige, stoße ich auf Grund-Erfahrungen, die ich in Mythen erzählerisch verdichtet finde. In letzter Zeit beschäftigt mich zum Beispiel ein Mythos aus dem alten Sumer. Darin geht es um die große Göttin ­Inanna, eine strahlende Göttin, mit aller Macht und allem Glück des Lebens versehen. Sie repräsentiert die Erfüllung des Lebens. Eines Tages kommt ihr in den Sinn, dass sie eine Schwester namens Ereschkigal hat, die im Reich des Todes lebt. Ihr fehlt all das, was Inanna in reichem Maße besitzt. Inanna aber weiß: Wenn ich mit Ereschkigal nicht in Kontakt komme, fehlt mir all das, was sie vom Dunklen des Lebens weiß. ­Inanna macht sich auf zu ihrer Schwester und muss durch viele Tore gehen. In jedem Tor muss sie etwas ablegen von ihrer Macht, ihrer Schönheit und ihrem Glück. Sie geht durch diese Tore, bis sie ebenso arm dem Tod gegenübersteht wie ihre Schwester. Erst jetzt erfährt sie die Ganzheit des Lebens.

So geht es mir heute in meinen späteren Jahren auch. Und weil ich mit vielen Menschen zu tun hatte, die es plötzlich mit dieser dunklen Seite zu tun bekommen, ist mir das sehr nahegekommen.

Der existenzielle Zugang

e: Jetzt kann man natürlich auch die Haltung einnehmen, dass das einfach alte Geschichten sind und wir heute unsere menschliche Lage neu analysieren und verstehen können. Ihr geschilderter Zugang zu den Geschichten ist weniger ein analytischer als ein intuitiver. Ist das etwas, was wir in unserer modernen, postmodernen Welt vernachlässigt haben?

IR: Wenn man so einen Mythos überraschend findet, dann denkt man nicht darüber nach, sondern es ergreift einen wie eine Geschichte, als eine lebendige Erzählung. Man spürt plötzlich: Das hat mit mir zu tun. Also, es ist weder ein historischer noch ein literarischer Zugang, sondern ein emotionaler und existenzieller Zugang. Ich merke plötzlich, es geht um etwas, was ich vielleicht gerne ausklammern würde, aber es ginge auf Kosten der Ganzheit des Lebens, wenn ich mich dem Dunklen, den dunklen Aspekten, verweigern wollte.

e: Bei der Geschichte von Inanna erscheint unmittelbar einsichtig, dass sich hier etwas Wahres zeigt. Warum ist das so wahr? Wir leben in einer Zeit, in der wir einen großen kulturellen Umbruch sehen. Es scheint so, dass diese Geschichte auch für unsere Zivilisationskrise relevant ist, dass diese Begegnung mit dem Tod, mit dem Dunklen uns etwas zu sagen hat. Warum steckt in solchen Geschichten so viel Wahrheit und wie können wir uns mit dieser Wahrheit näher beschäftigen?

IR: Der Tod und die schwierige Seite des Lebens mit Krankheit und Entbehrung ist jedem Menschen in seinem Leben gegenwärtig. Deshalb ist der Mythos von ­Inanna auch so unmittelbar ansprechend. Wir haben während der Corona-Pandemie auch schwere Erkrankungen, Todesfälle, das Ringen der Ärzte und Pflegenden erfahren. Wir waren zudem selbst ständig gefährdet, uns anzustecken. Es ging da aber auch um unsere Grundeinstellung dem Leben gegenüber, die plötzlich wieder hochaktuell war.

Im Mythos oder auch im eng damit verwandten Märchen gibt es oft die Thematik, dass der König eines Landes schwer erkrankt ist, also das leitende Prinzip des Lebens ist dann gestört. Und immer muss dann jemand ausziehen, um das heilende »Wasser des Lebens« zu suchen. Das ist ein weiter Weg, der meist auch an weisen Frauen vorbeiführt, die etwas wissen vom Umgang mit Krankheit und Tod. Um die Pandemie nicht nur zu überstehen, sondern eine neue Entfaltung des Lebens im ganzen Land, die Entfaltung eines neuen lebensfreundlichen Prinzips zu nutzen, müssen wir uns also auf die Suche nach dem »Wasser des Lebens« begeben. Indem wir uns zum Beispiel fragen: Was ist jetzt das Wesentliche? Was hat die Pandemie zutage gefördert? Und was fordert ihre Bewältigung jetzt weiter von uns?

Wasser in der symbolischen Sprache bedeutet, dass etwas wieder in Fluss kommen muss. Unser Leben muss wieder ins Fließen kommen. Das war ja während der Pandemie bisher ständig die Frage: Müssen wir Lebensvorgänge stoppen, um das Ausmaß der Ansteckungen zu vermindern, um die Pandemie mit möglichst geringen Verlusten an Menschen überstehen zu können? Wie bringen wir aber jetzt das Leben verantwortlich und wirklich wieder ins Fließen?

Weisheit des Lebens

e: In diesem Mythos vom kranken König spielen alte weise Frauen eine wichtige Rolle. Sie haben sich auch in vielen Ihrer Bücher mit dieser Figur beschäftigt. Was kann uns dieses Bild in einer über Jahrhunderte zutiefst männlich geprägten Kultur heute sagen?

IR: Es zeigt eben, dass es vor unserer männlich geprägten Kultur eine andere gab, in der die Frau, gerade auch die alte, die lebenserfahrene Frau, eine bedeutende Rolle spielte. Der Mythos kann auch einen Beitrag zur aktuellen Gender-Diskussion leisten. Unsere Gesellschaft weiß darum, dass sie das Prinzip Weisheit verloren hat. Der Mythos erinnert aber auch an die Weisheit von Männern. Das berührt sich direkt mit Ihrer Frage: Warum brauchen wir diese alten Mythen noch? In ihnen liegt die Weisheit der Menschheit, die wir insbesondere in sehr schwer bestehbaren Situationen brauchen.

Die Jung’sche Psychologie, die von manchen als randständig betrachtet wird, zieht auch heute immer wieder junge Menschen an, die in dieser Richtung Psychotherapeuten werden wollen. Sie wollen in der Seele des Einzelnen die Spuren des Mythos wiederfinden. Sie spüren, dass in den mythologischen Geschichten auch Lösungen für aktuelle Probleme angedeutet sind. In der Jung’schen Psychologie sehen und verstehen wir den Menschen mit einer Tiefendimension der Psyche ausgestattet, die bis in frühe Erfahrungen der Menschheit hineinreicht und an die wir angeschlossen bleiben. Dieses Angeschlossensein zeigt sich zum Beispiel in Träumen, in denen die heutigen Menschen der missbrauchten Erde ein Opfer bringen sollen – so wie früher die Menschen ihren Göttern –, um sie zu versöhnen, damit sie uns in Zukunft das Wasser, das »Wasser des Lebens«, nicht gänzlich entziehen mögen.

So müssen in dem Traum eines unserer Zeitgenossen der Erde Schweiß und Tränen geopfert werden, im Wissen darum, dass wir sie ausgebeutet haben, um sie durch ein Mit-Erleiden gleichsam zu versöhnen. In einem anderen Traum wird der Träumer, Mitverwalter eines Reaktors der Nukleartechnologie, von seiner inneren Traumstimme dazu aufgefordert, von der – verstrahlten – Erde zu essen, so wie es in einem der alten mythologischen Rituale des heiligen Essens geschah, um mit dieser leibhaftigen Teilhabe an dem geschädigten Element es wirklich »einzuverleiben« und es dadurch auch wieder zu reinigen. Das sind mythische Vorstellungen, wie sie in heutigen Träumen erscheinen können.

e: Was mir auffällt, wenn ich Ihnen zuhöre, ist das Menschenbild, das darin zum Ausdruck kommt. Sie sprechen nicht so sehr von unseren Einzelerfahrungen, sondern von Menschheitserfahrungen. Darin ist meine Einzelbiografie Ausdruck einer Menschheitsgeschichte, in der bestimmte archaische Muster sichtbar werden. Lernen wir heute auch, dass unsere hoch individuierte Wirklichkeit viel tiefer verwurzelt ist in gemeinsamen Menschheitserfahrungen, als wir es normalerweise zulassen?

IR: In der Jung’schen Psychologie geht es uns um diese Verwurzelung. Aber wir wollen da die Leute nicht zuerst zu diesen alten Erfahrungen zurückführen, sondern zuerst auf den Weg zu einer ganz eigenen Ausprägung ihrer Person. Wir nennen dies den »Individuationsprozess«, zu dem auch die Wahrnehmung der Nachtträume wie die der Tagträume und überhaupt die der inneren Bilder und Vorstellungen gehört – und dabei stößt man auf die Wurzeln eines jeden Einzelnen, die bis in jene Menschheitserfahrung hinabreichen. Wir glauben, dass man diese Erfahrungen auch als Einzelner braucht, um das Heutige zu bestehen und sich weiterzuentwickeln. Der einzelne Mensch kann angesichts schicksalhafter Herausforderungen in eine ausweglose Situation geraten, weil er den Anschluss an die menschlichen Möglichkeiten, solchem Schicksal zu begegnen, verloren hat.

Die innere Verbindungsmöglichkeit eines jeden mit dem Mythos beruht auf dem »kollektiven Unbewussten«, wie wir es nennen, das sich in jeder menschlichen Psyche auch heute als eine Tiefendimension findet, in die wir beispielsweise durch unsere eigenen Träume hineingeführt werden. Ich leite keinen Menschen an, in irgendeinen Mythos einzusteigen, sondern komme erst dann, wenn sich in Träumen oder auch in intuitiv gemalten Bildern mythische Inhalte von selber zeigen, darauf zu sprechen und schaue mit dem betreffenden Menschen zusammen diese Ebene an. Und dabei geht den Menschen dann oft direkt das Herz auf und sie sagen: Das ist ja ein wunderbarer Zusammenhang. Wir kommen da wirklich in größere Zusammenhänge hinein und fühlen uns im Anschluss an diese Traditionen auch getragen von der Geschichte der Menschheit. Wir fühlen uns vom Leben getragen.

Die Wandlungskraft des Menschen

e: Diese Verbundenheit mit der Geschichte leuchtet ein, aber was hat es mit der Zukunft auf sich? Wir leben in einer Welt, die von Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung geprägt ist, manche gehen gar davon aus, dass die Maschinenintelligenz die menschliche Intelligenz übersteigen wird. Wir leben in völlig neuen Welten, in denen wir in unserer Menschheitsgeschichte noch nie waren. Was haben uns die Mythen in dieser völlig neuen Wirklichkeit der Zukunft zu sagen?

IR: Alle großen Mythen wissen um die Zukunft und die Wandlungsfähigkeit des Menschen, auch in scheinbar ausweglosen Situationen. Die Geschichten vom kranken König enden alle damit, dass mit dem »Wasser des Lebens« ein neues Prinzip aufkommt, das kein Mensch erwartet hat. Es gehört zum Mythos, dass der Mensch neu werden kann und sich immer weiterentwickelt.

Der Mythos weiß auch von den vielen Irrwegen des Menschen. Es ist auch ein zentrales Thema des Mythos, wo und wie man sich verlieren kann. Da wagt einer im alten Griechenland, Ikarus, als erster Mensch den Flug, und das Unerhörte, das Fliegen, gelingt ihm auch – doch als er das Menschen-Maß verliert und der Sonne zu nahe kommt, stürzt er ab, stürzt in den Tod. Aktuell oder nicht, dieser Mythos von Ikarus?

Mythen gründen in Lebenserfahrung und einem Wissen um das rechte Maß an Wagemut und an Vertrauen – und auf dem daraus gewonnenen Lebensvertrauen, dass es einen größeren Zusammenhang gibt. Sie führen uns auch immer wieder in Kontakt mit der äußeren Natur und mit unserem Körper. Sie sind in einer größeren Lebenserfahrung gegründet als unsere privaten und persönlichen. Mythen wecken Vertrauen in die Kraft der Menschheit, zu überleben und sich immer wieder zu wandeln. Das Wandlungsmotiv gehört zum Mythos, deshalb sind es keine fest zementierten Geschichten, die nur in die Vergangenheit gehören. Besonders reich ist der Mythos an Schöpfungsmythen – und Schöpfung meint nie nur den einen ersten Anfang, sondern immer den Neuanfang, meint das, was neu geschehen, was neu zusammengebracht, was neu getan werden muss, damit ein Neubeginn für das Ganze – eines Landes zum Beispiel – möglich wird.

e: Sie sind jetzt mehrmals auf das Lebensvertrauen zu sprechen gekommen. Warum?

IR: Weil wir daraus leben. Wenn ich das Vertrauen ins Leben verliere, dann macht es keinen Sinn mehr, dann empfinde ich keine Freude mehr und die Angst überwältigt mich. Sinnvoll am Leben zu sein, ist das Wesentliche, und dem zugrunde liegt ein Vertrauen, dass uns das größere Leben, dem wir zugehören, trägt, jedenfalls unsere Lebensstrecke weit – und nicht nur mich, sondern alle Lebenden miteinander, ja, alles Lebende miteinander. Man tendiert heute auch in der Naturwissenschaft wieder dazu, unsere Erde, mythisch »Gaia« genannt, wie vor Zeiten als ein einziges Lebewesen zu verstehen, in dem alles miteinander verbunden ist, zusammenwirkt und aufeinander einwirkt. Und das, seit unsere Erde besteht. Ich fühle mich mit diesem großen Ganzen verbunden, von ihm getragen und möchte so denken und handeln, dass es dem Ganzen dient. Dafür suche und finde ich auch heute in­spirierende Motive in den Bildern und Symbolen des Mythos.

»Selbsttranszendenz« – Vortrag von Ingrid Riedel:

https://www.youtube.com/watch?v=BYbMAHGqvz0&t=70s

Author:
Dr. Thomas Steininger
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