Nähe verändert

Our Emotional Participation in the World
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January 21, 2016

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Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
Ganz nah
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Warum braucht unsere Zukunft mehr menschliche Intimität?

Intimität gilt meist als Privatsache. Aber kann sich durch mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung für Intimität und Nähe auch unsere Gesellschaft verändern? Wir haben fünf Menschen, die sich in verschiedenen Zusammenhängen mit diesem Thema beschäftigen, gefragt:

Safi Nidiaye, Journalistin, Meditationslehrerin und Autorin u. a. von »Der Zauber der Intimität«.

Wir brauchen mehr menschliche Intimität, weil Intimität das Einzige ist, das Menschen von Krieg und Fanatismus befreien kann. Weil sie uns zu uns selber, zueinander und zur Wahrheit zurückbringt.

Intimität bedeutet Kontakt mit dem innersten Wesen. Meinem eigenen, dem meiner Mitmenschen und dem der Wesen der Natur, die mir begegnen. Im Zustand der Intimität bin ich in Kontakt, und der andere ist nicht mehr nur ein Objekt meiner Wahrnehmung, also ein »Er« oder »Sie« oder »Es«, sondern ein »Du«. Es ist unser eigentlich natürlicher, ursprünglicher Seelenzustand. Befinden wir uns in diesem Zustand, dann spüren wir das Leben und die Seele in uns selber und in allen und allem, das uns begegnet, nicht nur anderen Menschen, sondern auch Tieren und Pflanzen, ja sogar der Erde, der Sonne, dem Meer, dem Wind. Alles ist belebt und beseelt und wir sind in lebendigem Kontakt mit allem.

Wenn wir – wie es heute der Fall ist – diese Intimität verlieren, kommen wir in einen Zustand von Entfremdung. Ich glaube, ein Großteil des Wahnsinns, der unsere Welt regiert, von maßloser Ausbeutung von Mensch und Natur bis hin zu religiösem Fanatismus und Terror, geht auf diese Entfremdung zurück. Den Seelenzustand der Intimität wiederzuentdecken und zu pflegen, würde es uns unmöglich machen, einander und den Planeten weiter auszubeuten, zu zerstören, einander zu betrügen, anzugreifen, zu töten. Es würde uns zurückführen in die Wahrheit unserer Herzen, die Verbundenheit mit allem, und aus unserer Welt ein Zuhause machen, in dem Wärme und Geborgenheit herrschen.

Alfred Bast, Künstler und Autor, Gründer von Kunstkloster art research – Schule der Wahrnehmung.

Heute drängt alles ans Licht der Öffentlichkeit. Das ist gut so. Fast. Denn es ist nicht immer ein wohlwollend-klärendes Licht. Oft leuchten grelle Blitzlichter und Schein-Werfer eine komplexe Sache einseitig aus. Sie erzeugen damit extrem dunkle Projektions-Schatten, in denen sich Verdrängtes flink zu verstecken weiß. Das Intime – dunkel verborgen – ist verdächtig und wird ins Visier genommen. Das hat Folgen.

Nicht zwingend ist das Dunkel, das sich der rationalen Einsicht entzieht, im Konflikt mit dem Lichten. Keine Pflanze könnte ihre schöne Gestalt ausformen, wenn sie nicht Halt und Nahrung im Dunkel der Wurzeln hätte.

Das Intime kann als das Teil des menschlichen Wurzelwerks gesehen werden. Da sind die Übergänge weicher, fließender. Alles ist mit allem verbunden wie in der Dunkelkammer des Körpers – dem Gehirn. Traum, Gefühl, Ahnung, Gespür wirken ineinander. Dabei entstehen die kreativen Impulse.

Intimität bewahren ist heute wichtiger denn je. Auch um dem Sog frühreifer Veröffentlichungen zu widerstehen, deren Haltbarkeit in atemloser Geschwindigkeit welkt.

Intim ist auch der »innere Arbeitsplatz«, an dem die Ströme des Bewussten und Unbewussten zusammentreffen, um gut verwurzelte Gestaltung, die auch für andere fruchtbar wird, zu entwickeln.

Und manchmal kann das ja auch INTEAM sein.

Saleem Matthias Riek, Tantralehrer, Paar- und Sexualtherapeut und Buchautor.

Wenn wir wirklich intim miteinander werden, schmelzen unsere Vorstellungen davon, was wir wollen, was uns glücklich macht, ja sogar wer wir sind. Der Kampf hört auf. Wir lassen uns bereitwillig darauf ein, dass uns der Kontakt mit einem anderen Menschen verwandelt, auch wenn das zunächst Angst macht.

Was wir uns sehnlich wünschen, erreichen wir niemals gegen andere, sondern immer nur gemeinsam. Damit dies geschehen kann, müssen wir offen dafür sein, dass sich unsere Wünsche verändern. Zwei Menschen wollen nie auf Dauer genau das Gleiche, das ist eine Illusion, wie sich bald nach der Verliebtheit herausstellt.

Viele Menschen glauben, nur mit jemandem intim sein zu können, wenn sie zumindest ähnliche Wünsche haben. Doch unter dieser Prämisse laufen wir Gefahr, echte Intimität zu vermeiden, denn diese beinhaltet die Begegnung mit dem Anderen, nicht nur die Spiegelung meiner selbst.

Wenn wir uns auch auf Fremdheit intim einlassen, sind wir weniger anfällig dafür, uns selbst oder andere abzuwerten und zu verurteilen. Stattdessen suchen wir nach Einfühlung und lernen, unsere Verwandlung willkommen zu heißen und zu genießen. Diese Bereitschaft macht uns individuell beziehungsfähiger – sie wird aber in Anbetracht der globalen Krisen auch kollektiv dringend gebraucht.

Pat Enkyo O'Hara, Zen-Meisterin und spirituelle Ko-Leiterin des Zen Peacemaker Order.

Was ist Intimität? Es bedeutet, jemandem nahe zu sein, zuerst sich selbst, seinem eigenen Wesen. Und von dort dann ausstrahlend nach außen, dem nahe sein, das in unserer Nähe ist: den Menschen, die wir lieben, unserer Umwelt, unserer Gemeinschaft und unserer Welt. Intimität mit unserer Welt mag komisch klingen, aber tatsächlich ist es nicht so. Wenn wir mit unserem eigenen Atem anfangen, unserem Herzschlag, und wenn es uns gelingt, sehr dicht an unseren Gefühlen zu sein, unserer Fürsorge, dann entwickeln wir eine authentische Einstellung zum Leben. Wir sind nicht länger in den Ideen und Kontrollstrukturen der Medien und des Marktes gefangen. Stattdessen erfahren wir zum ersten Mal unsere wahre Natur. Das ist die Tür zum Mitgefühl. Wenn wir unserem Herzen nahe bleiben, unserer Fähigkeit zu Frage und Vernunft, dann fallen wir nicht den Worten, Ideen, Ideologien und Slogans von anderen zum Opfer. So ermöglichen wir Mitgefühl und Klarheit statt Wut und Selbstbezogenheit.

Es braucht nur einen Moment des Innehaltens, des Atmens und sich selbst Fragens: »Was fühle ich gerade wirklich?« Es ist so, wie wenn dir bewusst ist, ob das Wasser, das du trinkst, warm oder kalt ist.

Dr. Andreas Weber, Philosoph, Biologe und Autor, u. a. von »Lebendigkeit: Eine erotische Ökologie«.

Intimität heißt, in Verbindung zu sein. Die Nähe des Wortes zum Körperlichen, zur Erotik, zur Lust, aber auch zur Scham, macht daraus einen aufgeladenen Begriff. Mehr Intimität – das hört sich nach einem netten Love-and-Peace-Programm an. Es klingt nach Sharing-Economy, Gehörtwerden und gutem Sex, so, als könne alles Schwierige von allein gut werden. Und kann man vom Guten nicht immer noch ein bisschen mehr gebrauchen? Aber womit wir uns zunächst einmal beschäftigen müssen, ist die Intimität mit uns selbst. Die eigene Wahrheit.

Intimität heißt, Bedürfnisse spüren, wo sie sind, Gefühle fühlen, die vielleicht nicht gewollt sind, weil sie wehtun. Intimität heißt, wirklich sein. Davon brauchen wir mehr, ja, so viel wir kriegen können. Aber ich glaube nicht, dass diese Auffassung von Intimität vielen zuerst in den Kopf kommt.

Intimität heißt nicht, warm und geborgen zu leben, sondern nackt zu sein und aus dieser Nacktheit ein Wahrnehmungsorgan zu machen. So nackt wie die Wasseramsel im kalten Bergfluss, die dort auch im Winter ihre Nahrung findet, weil sie das Bedürfnis danach hat und sich ihm stellt. Die Intimität, die wir brauchen, ist das rückhaltlose Vertrauen der Wasseramsel, dass die Luft sie trägt und der eisige Bach sie mit Leben wärmt.

Author:
Dr. Andreas Weber
Author:
Pat Enkyo O'Hara
Author:
Safi Nidiaye
Author:
Alfred Bast
Author:
Saleem Matthias Riek
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