Nebelkinder

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Published On:

July 14, 2015

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Ausgabe 07 / 2015
|
July 2015
Die Zukunft in uns
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Die Generation der Kriegsenkel entdeckt sich selbst

Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. W. Faulkner

Mitte des letzten Jahrzehnts begannen erste Vorreiter, sich unter einem besonderen Fokus mit Folgen und Fortwirken der Nazi-Vergangenheit und des Kriegsgeschehens für die heutige deutsche Gesellschaft zu beschäftigen. Durch verschiedene Pu­blikationen waren Anfang der 2000er neue Aspekte in die Debatte eingeführt worden. Vorbereitet durch die Bände »Der Brand« von Jörg Friedrich und »Im Krebsgang« von Günther Grass, die sich an eine Perspektive heranwagten, die davon ausging, dass auch Deutsche vom Krieg als Opfer betroffen waren. In der Folge waren es vor allem die Bücher von Sabine Bode, Anne-Ev Ustorf und Bettina Alberti, flankiert von den Forschungen des Kasseler Psychoanalytikers Hartmut Radebold, die den Blick für eine erweiterte Auseinandersetzung mit dem Thema geöffnet haben. Besonders die Journalistin Sabine Bode hat sich Verdienste erworben, als sie die Generation der »Kriegskinder« definierte, etwa 15 Geburtsjahrgänge von 1930 bis 1945 umfassend. Die »Kriegskinder« wuchsen sozialisiert durch Erwachsene auf, die zu einem beträchtlichen Anteil schuldhaft verstrickt oder wenigstens indifferente Mitläufer des Dritten Reiches waren. Obendrein wurden sie jedoch, vermutlich in ihrer Mehrzahl, durch traumatische Erfahrungen infolge von Flucht, Vertreibung, Bombenkrieg oder dem Verlust naher Angehöriger geprägt, die ein Leben lang unbearbeitet geblieben sind. Im Nachkriegsdeutschland wuchsen sie in die Rolle der Aufbaugeneration hinein und spätestens in den Sechzigern wurden sie zu den Eltern der deutschen Babyboomer, der geburtenstarken Jahrgänge. Die Münchner Autorin Katharina Ohana benannte die Kinder der Kriegskinder in ihrem 2006 erschienenen eindrucksvollen Buch »Ich, Rabentochter« erstmals als die »Kriegsenkel«.

2007 hat die Akademie Sandkrughof bei Hamburg, die ich damals leitete, mit Seminarangeboten für »Kriegsenkel« begonnen, die überraschend schnell auf große Nachfrage stießen. Die Teilnehmer erkannten sich gegenseitig in den Geschichten wieder, die sie sich aus ihren Familien zu erzählen hatten: Entweder wurde zuviel oder gar nicht über die Vergangenheit geredet. Die häusliche Atmosphäre wurde als dumpf und emotional defizitär beschrieben. Zugleich wurden die Heranwachsenden oftmals für die seelischen Bedürfnisse ihrer zu kurz gekommenen Eltern dienstverpflichtet. Ganz offensichtlich waren wir dabei kollektiven Phänomenen auf der Spur. Die Verwerfungen, die Krieg und Schuld in die Familienstrukturen hineingetragen hatten, überschatteten vielfältig auch noch die Biografien von Menschen, die sie selber gar nicht erlebt hatten. Die Genogramme zu den Generationen, die wir in der Gruppenarbeit erstellten, erinnerten, wenn es um die Kriegszeit ging, beim ersten Hinsehen oft an einen Stacheldrahtverhau: Verwindungen, Verwicklungen, Verknotungen, die sich kreuz und quer durch ganze Familiensysteme zogen.

Nachdem wir im Laufe von vier Jahren über 200 Teilnehmer durch unsere Angebote begleitet hatten, gaben wir dem Thema einen institutionellen Rahmen, indem wir 2010 den »Verein Kriegsenkel« gründeten. Es ging darum, eine dauerhafte Anlaufstelle für Betroffene und Interessierte zu schaffen, die außerdem helfen sollte, den öffentlichen Diskurs weiterzuentwickeln. Neben regelmäßigen Tagungen initiierten wir auch Veranstaltungsreihen in Verantwortung anderer Träger. Die Vorträge und Aufsätze, die in diesem Zusammenhang entstanden, bilden den Kern einer Anthologie, die wir nun im Frühjahr dieses Jahres unter dem Titel »Nebelkinder« herausgegeben haben. In den Beiträgen, die wir für dieses Buch sammeln konnten, legt ein großer Teil der Autoren beredt Zeugnis davon ab, wie sehr sie sich als Angehörige einer Nicht-Erlebnisgeneration noch beeinträchtigt erfahren von Ereignissen, die lange vor ihrer Geburt stattgefunden haben: Schuld und Trauma haben nicht vor den Generationengrenzen haltgemacht. Das Schweigen und vor allem die Sprachlosigkeit in den Elternhäusern haben die Babyboomer im Unklaren aufwachsen lassen. Die »Nebel«-Metapher, aus der wir auch den Buchtitel ableiteten, tauchte in einer ganzen Reihe der Beiträge unabhängig voneinander auf. Für Kriegsenkel ist es ein offensichtlich treffendes Motiv der Selbstbeschreibung, dass sie sich als Wandernde in einem Meer aus Nebel nur schwer zu verorten wissen, ihre Wurzeln nicht spüren, ihre Bestimmung nicht finden. Das gilt nicht nur für den persönlichen, sondern wohl auch im gesellschaftlichen Kontext. Der Publizist Frank Schirrmacher – selbst Kriegsenkel – sprach dieser Generation aus Anlass des Debakels um den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff (Jahrgang 1959) schon mal ab, überhaupt eine »politische Idee« zu haben. Mit dieser Einschätzung findet er Verbündete an anderer Stelle: Die Straßenkämpfer der 68er, die in den Schulen später oft zu Lehrern der Babyboomer wurden, hielten sie schon immer für zu blass und zu nett. Fakt ist aus meiner Sicht, dass sie sich als zahlenmäßig starke Gruppe in der Mitte der Gesellschaft zu wenig ihrer selbst bewusst, und deswegen nicht selbstbewusst sind. Dass es ein Generationsspezifikum und Identitätspunkt für sie sein könnte, durch Ereignisse verunsichert zu sein, die mit der eigenen Biografie gar nichts zu tun haben, lag sehr lange im »Nebel«.

¬ SCHULD UND TRAUMA HABEN NICHT VOR DEN GENERATIONENGRENZEN HALTGEMACHT. ¬

Inzwischen scheint sich an vielen Stellen etwas aufzuklären. Auf den Veranstaltungen, die wir im Zusammenhang mit der Buchvorstellung durchführen, ist inzwischen mit Händen zu greifen, wie sich das Feld in den letzten Jahren verändert und entwickelt hat. Viele haben sich an die Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte gemacht und finden dabei auch zu einer neuen Perspektive auf sich selbst. Das verleiht der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit eine neue und wichtige Aktualität. Vor diesem Hintergrund leuchtet es noch einmal ganz anders ein, dass der Gedanke, es müsse irgendwann einmal Schluss sein mit dem Zurückschauen, völlig abwegig ist. Dauer und Wege der Verarbeitung bestimmen sich nicht aus unserem Gutdünken heraus. Offensichtlich bringt dabei erst die Kriegsenkelgeneration genug freie Ressourcen dafür mit, in eine Form der Erinnerungsarbeit einzutreten, die sich mit den Abgründen der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen kann, ohne zu verstummen oder in der Anklage steckenzubleiben, als hätten wir nichts mehr damit zu tun. Es ist dieser kulturellen Bewegung zu wünschen, dass sie genug transformatorisches Potenzial entfaltet, um angesichts der anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen substanziell zu kreativen und friedlichen Lösungswegen beitragen zu können. Dann hätten die Babyboomer ihre Rolle gefunden und eine politische Idee ganz anderer Dimension in die Welt gebracht, als man sie von ihnen erwartet hatte.

Author:
Michael Schneider
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