Transformative Verantwortung

Our Emotional Participation in the World
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October 24, 2022

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Ausgabe 36 / 2022
|
October 2022
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Ebenso wie viele andere Menschen möchte ich gerne Verantwortung übernehmen – für mein eigenes Leben und das größere Ganze, von dem ich mich als Teil erlebe. Die vielen Herausforderungen im Großen und Kleinen erfüllen mich mit Sorge. Ich selbst lebe in einer Situation, in der mir viele Privilegien und Fähigkeiten geschenkt sind. Doch gleichzeitig fällt es mir schwer, mit den mir geschenkten Ressourcen auf eine Weise umzugehen, dass ich mich wirksam als Teil eines gesundenden Planeten erlebe. Wie kann ich gut und stimmig antworten auf den Zustand der Welt? Welche Verantwortung kann ich übernehmen und welche eben nicht?

Ich bin nicht allein mit diesen Fragen, und ich beobachte, dass diese Situation ganz unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann zwischen Ohnmacht, Heldentum und Ignoranz. Viele Menschen fühlen sich angesichts der vielfältigen Krisen verzweifelt und ohnmächtig. Oft können sie Probleme und Schuldige klar identifizieren, vielleicht die Ölindustrie, Putin oder auch »den Kapitalismus« oder »die Politik«. Und weil sie diesen Kräften so ohnmächtig gegenüberstehen, fühlen sie sich letztlich als Opfer.

Nicht selten verfallen Menschen angesichts dieser Überforderung auch in Ignoranz. Da sie nichts ändern können, fangen sie gar nicht erst an, sich zu engagieren. Vielleicht glauben sie auch, persönlich nichts befürchten zu müssen, oder sie verdrängen unbewusst, was ihnen überwältigend erscheint. Und so verlängern sie die Probleme und werden damit gewissermaßen zu Tätern.

Andere wiederum leisten Enormes, um zur »Weltrettung« beizutragen. Mit teils unglaublicher Kraft engagieren sie sich für moralisch »gute« Anliegen, und einige von ihnen verehren wir über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg. Die Welt und die mir bekannten Medien scheinen solche Helden zu lieben und zu fördern. Und auch in meinem Umfeld kenne ich einige solcher wirklich beeindruckenden Retter.

¬ WIE KANN ICH STIMMIG ANTWORTEN AUF DEN ZUSTAND DER WELT? ¬

Alle drei Strategien halte ich in unserer aktuellen Zeit im systemischen Sinne für nicht transformativ. In der Transaktionsanalyse bezeichnet man diese Strukturierung der Welt in Täter, Opfer und Retter nach Stephen Karpman als »Drama-Dreieck«. Die Rollen mögen wechseln, ja sich sogar gegenseitig bedingen und am Leben erhalten. Was bleibt, ist der Kreislauf des Dramas. Zu oft erlebe ich, dass Helden im persönlichen Umgang ganz unausstehliche Menschen sind, vielleicht weil sie so verbissen glauben, »die Welt retten zu müssen«, und dass nicht wenige von ihnen ihren Mitmenschen gegenüber selbst zu Tätern werden. Oder ich muss miterleben, wie sie vor lauter Eifer in einen Burnout steuern und selbst zu Opfern werden und dann die Schuld bei anderen Tätern suchen.

Verantwortung bedeutet für mich, mich von diesen drei Rollen zu emanzipieren, sobald ich sie in meinem Leben identifiziere: Von Ohnmacht zu gelassener Demut: Wie kann ich meine Kleinheit annehmen, ohne mich von der Größe der Herausforderungen lähmen zu lassen? Von Ignoranz zu konstruktiver Selbstkritik: Wie kann ich meine Verstrickung in die bestehenden Strukturen annehmen, ohne sie als unveränderlich zu akzeptieren? Von Heldentum zu gesunder Selbstwirksamkeit: Wie kann ich meine Ressourcen mutig für meine Überzeugungen einsetzen, ohne mich selbst zu überfordern und zu opfern? Ich bin überzeugt: Wenn ich entlang dieser Fragen wachse – egal wie langsam, aber stetig in Bewegung – und mich mit anderen verbinde, die ehrlich einen ähnlichen Weg gehen, dann bin ich Teil eines systemischen Wandels in Richtung einer gesünderen globalen Zukunft.

Die dynamische Mischung aus gelassener Demut, konstruktiver Selbstkritik und gesunder Selbstwirksamkeit möchte ich transformative Verantwortung nennen. Denn mit dieser Haltung antworte ich auf die Herausforderungen der Welt, ohne in meinem eigenen Tun genau diejenigen Muster zu reproduzieren, die die bestehenden Probleme erzeugt haben. Und genau das ist es, was echte Transformation ausmacht.

Author:
Dr. Thomas Bruhn
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