Verbundenheit ist unsere Quelle

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July 16, 2020

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Ausgabe 27 / 2020:
|
July 2020
Schönheit
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Aunkh Chabalalas Weg zur Seele Afrikas

Afrika ist für viele von uns noch immer ein unbekannter Kontinent, und die Weisheitstradition, die sich dort entwickeln konnte, findet im Westen nur sporadisch Anerkennung. Die aktuelle Rassismus-Debatte zeigt, wie getrübt unser westlicher Blick für den Wert anderer kultureller Traditionen ist. Es ist das Herzensanliegen von Aunkh Chabalala, diesem Mangel entgegenzuwirken. Und dieser Mann scheint dafür geradezu prädestiniert, denn er ist tief in der afrikanischen Tradition verwurzelt und hat gleichzeitig den universitären Bildungsweg zum Epidemiologen durchlaufen. Er versucht heute, diese beiden Formen des Wissens und Erkennens zu verbinden. Als ich ihn bei unserem Skype-Gespräch treffe, begegnet mir ein tiefsinniger, leidenschaftlicher Mensch, dessen Würde und Mitgefühl mich berühren.

Das erste Jahrzehnt seines Lebens auf diesem Planeten verbrachte Aunkh im Schoß einer traditionellen Dorfgemeinschaft, die nichts von einer Währung wusste. In seinem Dorf in Südafrika wurden fünf Sprachen gesprochen. Er traf sich mit seinen Freunden auf der Straße, um die Nüsse und Bohnen, die seine Familie geerntet hatte, gegen Kürbisse, Kartoffeln und weitere Waren von anderen Familien des Dorfes einzutauschen. »Das Teilen ging reibungslos«, erzählt er mir. »Jeder wusste, dass in der Erntezeit für jeden gesorgt werden würde.« Aunkh lebt heute wieder in dem Dorf, in dem er geboren wurde, arbeitet aber als Mediziner, Berater im öffentlichen Gesundheitswesen und Experte für indigene Wissenstraditionen im einige Stunden entfernten Kapstadt. Seine Heimat beschreibt er allerdings umfassender: »Der ganze Kontinent ist mein Zuhause, und jeder Afrikaner ist ein Teil meiner Großfamilie«, sagt er mit einem Lächeln. Einen Moment später lacht er und fügt hinzu: »Die Grenzen, die uns die Kolonialherren aufgezwungen haben, kann ich nirgends sehen.«

1970 geboren, hat Aunkh weniger Veränderungen in Südafrika erlebt, als man sich vorstellen würde. Obwohl in den vergangenen Jahrzehnten die Apartheid offiziell abgeschafft wurde, bemerkt Aunkh: »Unser Volk ist immer noch arm. Wir haben immer noch kein Land. Die Wirtschaft dieses Landes besitzen wir immer noch nicht. Es gibt immer noch Rassismus, Ausgrenzung, Hass und Trennung. Wir sind immer noch die ungerechteste Gesellschaft der Welt.« Er macht eine Pause und fügt hinzu: »Veränderung muss sich auf die konkrete Situation beziehen.«

Dieses Bewusstsein wuchs bei Aunkh über viele Jahrzehnte hinweg. Aufgewachsen im Kontext afrikanischer Weisheit, wo es an jeder Ecke einen Geschichtenerzähler oder Bewahrer der Weisheit gab, empfand er von jungen Jahren an eine tiefe Wertschätzung für die Traditionen und Wissenssysteme des afrikanischen Kontinents. Obwohl er eine Missionsschule besuchte, in der er jedes Jahr einen anderen biblischen Namen bekam (»Ich habe jedes Mal den vom vergangenen Jahr vergessen!«), verlor er nicht die Wertschätzung für die Weisheit seines Volkes – wie sollte er auch, wenn seine Mutter eine Medizinfrau und sein Vater ein Freiheitskämpfer war? Aunkh berichtet, seine Mutter habe tatsächlich schon in der Schwangerschaft gespürt, dass er einmal ein Heiler werden würde.

WIR KÖNNEN NICHT ZULASSEN, DASS EIN PAAR WENIGE ALLES HORTEN UND KONTROLLIEREN.

Und Jahrzehnte später erklärt er mir: »Meine Leidenschaft ist die Gesundheit, die Heilung.« Durch eine Reihe von Initiationen, die seiner Aussage nach schon im Mutterleib begannen und ihn zu einem 14-monatigen Einzelstudium bei einem spirituellen Meister führten, war Aunkh eng vertraut mit dem traditionellen Heilwissen, als er 18-jährig in die Stadt zog, um Medizin zu studieren. Hier erwachte sein politisches Engagement, und er schloss sich der Pan-Afrikanischen Bewegung an, wo er systematisch alles lernte, was ihm in der Schule nicht beigebracht worden war: Was ist Apartheid? Warum sind wir in dieser Situation? Warum kämpfen wir, sollten wir kämpfen, wofür kämpfen wir? Wie können wir unseren Geist und den Geist unseres Volkes entkolonialisieren?

In dieser Zeit schöpfte er aus dem Wissen und Vertrauen, das er durch das Aufwachsen in seinem Dorf erfahren hatte: »Diejenigen, die uns unsere Identität nehmen wollen, nehmen uns zunächst unser Gefühl von Zugehörigkeit, unsere Kultur, unsere Tradition«, erzählt er mir. »Dann ist es für sie leichter uns zu kontrollieren, weil sie das kulturelle Gespräch bestimmen und uns erzählen, dass wir unnütz und barbarisch sind.«

Das Wissen um seine Herkunft gab Aunkh die Kraft, fünf schwierige Jahre an der Universität durchzustehen und nach Pretoria zu gehen, um in einem medizinischen Forschungszentrum für Epidemiologie zu arbeiten. Dabei leitete ihn ein tiefes Interesse an der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise. Für ihn gab es keinen Gegensatz zwischen diesem medizinischen Forschen und dem traditionellen Heilen. Um die Verbindung beider Wege des Wissens zu erforschen, leitete er ein Institut, das sich einer »Wissenschaft mit Gesicht« verschrieben hatte. Hier basiert seine Arbeit auf den systematischen Heiltraditionen seines Kontinents. Er beschreibt die Aufgabe des Amen-Ra Instituts als »Wissenschaft, die nicht nur nach neuem Wissen, sondern auch nach neuen Lösungen sucht, um Armut zu lindern und die Menschenwürde wiederherzustellen, indem unser indigenes Weisheitssystem, unsere Biodiversität und unser wissenschaftliches Know-how genutzt werden.«

Trotz zeitlich befristeter Forschungsaufträge in Kenia, Sambia, China und Indien sowie einer Studienzeit in London bleibt Aunkh sehr auf seinen Heimatkontinent Afrika konzentriert. Direkt auf seine Spiritualität angesprochen, beschreibt er eine seit kurzem spürbare Veränderung weg von dem Bestreben nach einem höheren Bewusstsein. »Mein Volk ist hungrig«, sagt er. »Ich kann nicht über theoretische Vorstellungen sprechen – die helfen mir und meinem Volk nicht. Ich muss darüber sprechen, was ich vor Ort erlebe. Mein Volk braucht Freiheit, ökonomische Freiheit, es braucht Essen, es braucht Würde. Das ist meine Spiritualität.«

Vielleicht überrascht es nicht, dass Aunkh aufmerksam beobachtet, wie die Turbulenzen durch die globale COVID-19-Pandemie tiefgreifende Veränderungen verursachen. »Viele Leute sagen: ›Hey, es ist Zeit, dass wir umdenken und unser Handeln verändern.‹ Es gibt für alle genug zum Teilen. Was ist der Nutzen von Profit, wenn er nur mir und meiner Familie zugutekommt? Wie soll ich mich freuen, wenn die anderen leiden? Das verstehe ich nicht.« Während Covid – so mikroskopisch klein das Virus auch sein mag – uns alle dazu drängt unser Leben zu überdenken, fühlt Aunkh einen Wendepunkt kommen. Er bemerkt, dass viele junge Menschen um ihn herum dem Christentum den Rücken kehren, zu ihren eigenen afrikanischen Wurzeln zurückkehren und dabei den Wunsch empfinden, als Volk einen rechtmäßigen Platz am Tisch der Entscheidungsträger zu bekommen. »Viele junge Menschen durchschauen die westlichen Lügen, dass ›man von Afrika nichts erwarten kann‹, dass wir abwarten müssen, bis ein Institut einen Impfstoff produziert, den wir dann zu horrenden Preisen kaufen müssen.« Aunkh lacht, als er das sagt, und breitet die Arme weit aus. »Wir können nicht zulassen, dass ein paar Wenige alles horten und kontrollieren«, sagt er sanft. »Ich bin zuversichtlich, dass die Zeit derer, die diese Trennung aufrechterhalten wollen, abgelaufen ist.«

Als wir uns verabschieden, hat Aunkh eine Frage an mich: »Kennst du Ubuntu? Es ist verbunden mit dem alten Prinzip des Pert em Heru, was bedeutet ›Das Sein werden‹.« Ich nicke und er grinst. Ubuntu bedeutet: »Ich bin, weil du bist« und ist ein traditionelles Wissen um die Verbundenheit allen Lebens, wie es in der afrikanischen Tradition weitergegeben wird: »Wir dachten, dass man uns diese ureigene Ubuntu-Natur genommen hätte, aber Covid zeigt uns, dass sie unser wahres Wesen ist: Wir sind diese Verbundenheit. Und dieses Wissen beschränkt sich nicht auf Afrika, es ist eine Weisheit, die allen Kulturen innewohnt und der ganzen Menschheit zugänglich ist. Aus dieser Quelle können wir gemeinsam die Zukunft formen. Sie ist der Lehm in unseren Händen, und es liegt an uns, was daraus entstehen wird.«

Author:
Miranda Perrone
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