Verstehen im Zwischenraum

Our Emotional Participation in the World
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Article
Published On:

November 6, 2020

Featuring:
Timo Luthmann
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Issue:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
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Dialog als Praxis der Sinnfindung

Wie können wir uns inmitten unterschiedlicher Sichtweisen verständigen und zu neuen Einblicken in ein Thema finden, aber auch in die Möglichkeiten unseres eigenen Menschseins und unseres Zusammenlebens? Die evolve-LIVE! Veranstaltungen sind ein Labor zur Untersuchung auch dieser Frage. Anhand eines Dialog-Tages in München fragt evolve-Redakteur Mike Kauschke nach der Relevanz solcher Begegnungsräume.

Eigentlich haben wir alle nach den wenigen Stunden unseren Standpunkt verändert – hin zu einem größeren Verständnis und einer höheren Wertschätzung.« Das sagte eine der Teilnehmerinnen in der Abschlussrunde unseres evolve LIVE!-Tages zum Thema »Nachhaltiger Aktivismus« in München. An diesem Tag kamen vor Kurzem 20 Menschen zusammen, um mit dem Impulsgeber Timo Luthmann zu erforschen, wie innerer Wandel und das Engagement für eine ökologische, soziale, gerechte Transformation unserer Gesellschaft zusammenwirken können.

Die Teilnehmenden hatten sehr verschiedene Anliegen, Wünsche und Vorerfahrungen zu diesem Thema. Es vereinte sie aber das Interesse, im dialogischen Austausch die Beziehung zwischen Spiritualität und Aktivismus neu zu verstehen. Im Verlauf des Tages kam diese Unterschiedlichkeit der Sichtweisen in einen kreativen Prozess, der uns einen neuen integrativen Blick auf die Verbindung von innerer Bewusstseinsarbeit und Wirken in der Welt eröffnete. Der Dialog ermöglichte, dass diese Verschiedenheit in einem lebendigen, ko-kreativen Ganzen getragen und bewegt wurde, sodass sich eine neue Einsicht in das eigene Leben und gesellschaftliche Zusammenhänge, in die Dynamik von Beziehungen, in die Kraft unseres wirkenden Bewusstseins zeigen konnte. Ausgehend von dieser Erfahrung möchte ich in diesem Text erforschen, inwieweit solch ein Dialog eine sinnbildende Praxis ist, die auch gesellschaftliche Relevanz hat.

Verschiedenheit ins Gespräch bringen

Wir leben in einer Zeit, in der unterschiedliche Lebenshintergründe und Perspektiven auf die Welt zunehmend intensiver aufeinandertreffen. Gerade in Krisenzeiten und angesichts der Komplexität unserer Welt treten diese Unterschiede noch stärker hervor und können zu scheinbar unüberbrückbaren Polarisierungen führen. In einer solchen Zeit braucht es Wege, um im Gespräch über diese Fragmentierung hinauszugehen und zu einer zusammenführenden Verständigung zu finden. Aber wie kann es gelingen, Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit in einen solchen Prozess zu bringen, in dem sich neue Horizonte des Verstehens, der Wertschätzung und Sinnfindung zeigen?

Zu Beginn unseres evolve LIVE!-Tages zeigte sich, mit welch unterschiedlichen Hintergründen die Teilnehmenden die Dynamik zwischen Aktivismus und Spiritualität erfuhren. Einige Menschen sahen sich selbst als sehr aktiv in der Vertiefung des inneren Wandels und wollten herausfinden, was gesellschaftliches Engagement für sie bedeuten kann. Andere empfanden gegenüber Aktivisten eine gewisse Zurückhaltung, weil ihnen diese Welt bisher fremd erschien. Zwei junge Teilnehmer kamen selbst aus dieser Szene und hatten dort auch erlebt, wie schnell Menschen die Grenzen ihrer Kraft erreichen können. Diese erschöpfende Erfahrung im Einsatz für ein Projekt hatten mehrere der Teilnehmenden gemacht, zum Beispiel auch in einem alternativen Wohnprojekt, in dem der gemeinsame Geist verloren zu gehen schien.

Aus diesen unterschiedlichen Erfahrungen bewegte die Teilnehmenden die Frage nach einer neuen Verbindung von Spiritualität und Aktivismus. Es ist immer ein besonderer Moment, zu Beginn diese verschiedenen Stimmen zu hören. Als Moderator und Dialogbegleiter im Prozess dieses Tages fragte ich mich, welche verbindenden und neu entstehenden Antworten wir auf Fragen finden, die mich selbst immer wieder bewegen: Wenn ich einen inneren Weg der Bewusstwerdung gehe, durch Praktiken wie Meditation oder Achtsamkeit, wie antworte ich dann auf eine Welt, in der Leiden existiert und unser Handeln als Menschen auch dem Leben schaden oder es zerstören kann? Oder wenn ich mich engagiere, um auf dieses Leiden, diese Zerstörung zu antworten, wie bewahre ich mir dann die innere Kraft, es nachhaltig zu tun?

Unser Impulsgeber Timo Luthmann sprach darüber, wie er selbst diese beiden Dimensionen in seiner spirituellen Praxis der Meditation und seinem Einsatz für ein effektives Handeln gegen den Klimawandel und aktuell für eine ökologische, pestizidfreie Landwirtschaft verbindet. In seiner langjährigen aktivistischen Tätigkeit beobachtete er aber auch, dass viele Menschen ausbrennen oder nach einiger Zeit den Aktivismus wieder verlassen, weil ihnen die Kräfte ausgehen.

Kraftquellen finden

Nach Timos Impulsvortrag gingen wir mit folgender Frage in den Dialog: Welche Kraftquellen finden wir in uns und im Miteinander im Einsatz für einen sozialen-ökologischen Wandel? Als Antworten fanden wir im Gespräch Übungen wie Meditation, die Begegnung mit der Natur, künstlerische Tätigkeit oder menschliche Begegnung. Diese Erfahrungen geben uns auch deshalb diese Kraft, weil wir sie als zutiefst sinnvoll erleben. Ein junger Aktivist schilderte, wie er die basisdemokratischen Gesprächsformen unter Aktivistinnen als Kraftquelle erlebt. Er findet aber auch eine Kraftquelle darin, zu bestimmten systemischen Anforderungen wie Lohnarbeit und gesellschaftlichen Erwartungen wie Karriere oder finanziellen Erfolg »nein« zu sagen. Viele der älteren Teilnehmenden, die eher aus der Praxis eines spirituellen Weges oder psychologischer Arbeit kamen, äußerten, wie sie dieses »Nein« und die darin liegende Entschlossenheit herausforderte.

Ein anderer Aspekt der inneren Kraftquellen war das Wahrnehmen der eigenen Macht. Timo legte in seinem Impuls einen Schwerpunkt auf die Tatsache, dass wir immer in Machtgefügen leben, die gesellschaftlich vermittelt und mit Sinn aufgeladen werden. Bewusstes, aktives Menschsein bedeutet auch, die Teilnahme an solchen Machtgefügen zu erkennen. Wie ist unser Verhältnis zu Rassismus oder dem Umgang der Geschlechter miteinander? Oft handeln wir hier aus unbewusst übernommenen Sinnbezügen. Ein Durchschauen solcher Muster erfordert aber die Begegnung mit dem anderen, das Verlassen der eigenen Komfortzone.

ZUR WIRKUNG DIESES HERZ-GEISTES GEHÖRT DIE FLEXIBILITÄT, AUF GANZ VERSCHIEDENE SITUATIONEN ANGEMESSEN ANTWORTEN ZU KÖNNEN. 

Macht bedeutet aber auch, dass wir als gestaltende schöpferische Wesen dazu in der Lage sind, uns in die Welt einzubringen, an ihr teilzuhaben. Sich aber selbst dieser schöpferischen Macht bewusst zu werden, ist in sich sinnstiftend, weil es uns aus einer sinnlosen Ohnmacht befreit. Timo beschrieb eindrücklich die Erfahrung, sich gemeinsam mit anderen für eine lebensförderliche Sache einzusetzen. In solch einem Tun handeln wir oft spontan, aufeinander abgestimmt und selbstvergessen, uns erfüllt ein Gefühl der tiefen Sinnhaftigkeit, weil wir in diesem Moment wissen, dass wir das für uns Richtige tun. Wir finden in diesem Moment unseres Lebens den Platz im Ganzen, wo wir so sein und wirken können, dass sich in uns und mit der Situation eine Stimmigkeit zeigt.

Die Konfrontation mit der Macht war für einige Teilnehmende durchaus herausfordernd. Auch für mich selbst. Solche Momente sind für mich aber auch die spannendsten in einem dialogischen Prozess. Vor allem für Menschen, die einem spirituellen Weg folgen, ist das Eingeständnis dieser Macht und der Verantwortung, die darin liegt, im besten Sinne des Wortes ungemütlich. Hier brachte der Dialog mit Timo als Aktivisten, der sich buchstäblich in zivilem Ungehorsam gegen Vorhaben wie den Kohletagebau gewehrt hat, oder auch das Gespräch mit den anderen beiden jungen Aktivisten eine echte Erweiterung des Horizonts. Timo hob immer wieder hervor, wie wichtig für ihn auch die direkte Konfrontation und ein auch körperlicher Einsatz gegen ökologische Zerstörung ist. Er erklärte, dass man diese Form des Widerstands und wirksame Kommunikationsformen und Handlungsstrategien dabei ebenfalls lernen kann. Und er verglich dies damit, wie wir auch eine spirituelle Praxis erlernen können. Diese Sicht war für viele der Teilnehmenden neu und wiederholt erklärten Menschen in der Abschlussrunde, dass sie durch diese Begegnungen des Tages »den Aktivisten in sich« kennengelernt hätten.

Von den Teilnehmenden wurde im Verlauf des Tages auch immer wieder der gemeinsame Dialog selbst als Kraftquelle genannt. Wenn wir uns in der Unterschiedlichkeit der individuellen Erfahrungen auf einen gemeinsamen Raum des Sprechens und Zuhörens, des Wahrnehmens und Erkennens einlassen, entsteht eine Nähe der Begegnung. Sie nährt sich vor allem auch daraus, dass wir bereit sind, vorgefertigte Sichtweisen loszulassen und auf das Andere, das Neue, das Ungewohnte und auch Ungemütliche einzulassen. Im Grunde ist es die Bereitschaft, sich durch den Dialog selbst verwandeln zu lassen, selbst ein Stück neu zu werden.

Echokammern öffnen

Dieser Prozess zeigte sich auch bei einem anderen spannungsreichen Thema des Tages. In der Erfahrung des Dialogs entstand an dem Tag zunehmend ein geschützter, vertrauensvoller Raum. Dazu merkte ein Teilnehmer an, dass es aber auch leicht sei, sich mit Gleichgesinnten in eine Echokammer zu begeben. Darunter leidet aber die Offenheit und Flexibilität, um sich auch immer wieder für neue Begegnungen und Erkenntnisse zu öffnen.

Im Gespräch zeigte sich diese Spannung: Wir brauchen geschützte Räume, um neue Fähigkeiten im Umgang mit uns selbst, mit anderen Menschen und der Welt einzuüben. Gleichzeitig wollen wir uns nicht in die Selbstbezüglichkeit einer bestimmten Gruppe oder Denkweise verengen, in der wir uns nicht mehr anderen Menschen öffnen können.

Aus diesem Spannungsfeld gingen wir am Nachmittag mit der Frage in den Dialog: Wie gehen wir produktiv mit Widersprüchen um und wie finden wir in unterschiedlichen Situationen die richtige Haltung? Schon die Formulierung der Frage empfand ich als sehr schwierig. Wie kann man ein so weites Feld in einige Worte fassen. Auch die Teilnehmenden schienen zunächst etwas überfordert und das machte mich unruhig. Aber die Erfahrung hat mich gelehrt, auch der Kraft eines Beziehungsfeldes, das sich nun schon gebildet hatte, zu vertrauen. Alle hatten solche widersprüchlichen Situationen schon erlebt, wo uns die Sichtweise oder das Handeln eines Menschen zutiefst herausfordern. Timo berichtete uns hier auch von Begegnungen mit Polizisten während aktivistischer Aktionen. Aber auch »harmlosere« Gespräche mit Menschen im privaten oder beruflichen Umfeld können zu einer Herausforderung werden, wenn jemand eine Meinung oder Position vertritt, die meiner eigenen Sicht der Welt widerspricht.

Wir fanden heraus, dass es hier auch die Fähigkeit braucht, solche Widersprüche auszuhalten. In dieser Reflexion zeigte sich auch, wie sehr uns eine spirituelle Praxis dabei helfen kann, diese Widersprüchlichkeit und Komplexität zu tragen, weil sie uns mit einem inneren Grund der Präsenz und Bewusstheit verbindet. Dann kann unser aktives Wirken in der Welt aus einer inneren Verwurzelung und einem tiefen Lebensvertrauen schöpfen. Der Dialog wiederum ermöglicht, dass wir gemeinsam und in der Begegnung solch einen tragenden Grund erfahren können.

Gemeinsam den Herz-Geist erwecken

In der Abschlussrunde des Tages zeigte sich, dass für diesen Umgang mit Widersprüchen eine innere Integration unterstützend ist, die eine Teilnehmerin als »Herz-Geist« bezeichnete. Sie erklärte, dass mit diesem Begriff aus dem Buddhismus ausgesagt wird, wie das Empfinden von Verbundenheit und Mitgefühl mit geistiger Klarheit und Weisheit zusammenkommen kann. Zur Wirkung dieses Herz-Geistes gehört auch die Flexibilität, auf ganz verschiedene Situationen angemessen antworten zu können. Aber nicht aus einem verstandesmäßigen Wissen, sondern aus der Verbundenheit mit dem Leben in seiner Gegenwärtigkeit.

Als sie das sagte, war im Raum die Kraft dieser inneren Integration spürbar, in der die Lebensimpulse, die wir mit Spiritualität und Aktivismus angesprochen hatten, auf neue Weise zusammenfanden.

Mich erfüllte in diesem Moment eine tiefe Dankbarkeit, weil ich spürte, wie das Wesen des Dialoges hier »zu sich kam«. Vielleicht eine etwas merkwürdige Formulierung, aber für mich schien sich hier eine Öffnung und Weitung unseres Verstehens zu vollziehen, die für alle Anwesenden eine existenzielle Kraft entfaltete.

Wir erkannten darin, wie spirituelle Praxis und Aktivismus Aspekte oder Ausdrucksformen einer antwortenden Lebenshaltung sind, in der sich innere Entfaltung oder die Verfeinerung unseres Bewusstseins mit der aktiv-kreativen Gestaltung unserer Welt verbindet. Spirituelle Praxis und Aktivismus sind in diesem Sinne eigentlich Beziehungsformen, die immer schon unser getrenntes Ich-Sein öffnen hin zum Horizont des Du, der Beziehung, der Wechselwirkung, des atmenden Austausches mit der Welt, des Angesprochen-Werdens und Antwortens.

Zum Spüren dieser inneren Integrationskraft kamen wir an diesem Tag durch den Prozess unserer Dialoge in Kleingruppen und in der gesamten Gruppe. In diesem Prozess, in dem wir immer wieder die verschiedenen Sichtweisen in den gemeinsamen Raum einbrachten, konnte sich in diesem Zwischenraum eine Synergie formen, die für jeden von uns nicht nur neue Einsichten brachte, sondern auch Handlungsimpulse. Dieser Prozess hatte für mich auch immer wieder Zeiten der Unsicherheit, wo ich nicht wusste und wissen konnte, wohin sich das Gespräch wenden würde. Aber gerade das ist auch das Beglückende, wenn neue, überraschende Horizonte in den Blick kommen.

WIR FANDEN HERAUS, DASS ES AUCH DIE FÄHIGKEIT BRAUCHT, WIDERSPRÜCHE AUSZUHALTEN.

In der Abschlussrunde erklärten viele der Teilnehmenden, dass ihnen diese Erfahrung auch Inspiration gegeben hat, die eigene Integrationskraft weiter zu erforschen. Für einige lag das Neuland darin, Möglichkeiten des konkreten aktivistischen Handelns zu finden, für andere lag es in der Vertiefung oder Neugestaltung ihrer inneren Praxis und für einige auch in einem weiteren Erforschen des Dialoges. Für mich zeigte sich hier einmal mehr, wie solche dialogischen Prozesse Labore sein können, um herauszufinden, wie wir in einer gesellschaftlichen Atmosphäre der Polarisierung Begegnungsräume gestalten, in denen Verständigung, Verbundenheit, gemeinsame Kreativität und letztlich auch Sinnfindung möglich ist.

Eine solche aus der Erfahrung und der Beziehung erwachsene Form der Sinnfindung ist in einer zunehmend komplexen Welt wie der unseren vonnöten. Für mich war es an diesem Tag augenscheinlich, wie der lebendige Beziehungsraum selbst zu einem Organ der Sinnbildung werden kann. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie, aber auch den vielen anderen Herausforderungen wird klar, dass das denkende Individuum nicht mehr der »Ort« ist, wo solch eine komplexe Dynamik sinngebend erfasst werden kann. Wir können immer nur kleine Teilaspekte des Ganzen erfassen. Das gilt für individuelle Menschen, aber ebenso für einzelne Diszi­plinen des Denkens, Forschens und Handelns, sei es nun die Politik, die Wissenschaft, die Kunst, die Wirtschaft, die Psychologie oder die Spiritualität.

Im Individuellen und im Gesellschaftlichen zeigt sich hier die Notwendigkeit, neue existenzielle Orte der Sinngebung zu finden. Sie liegen, so scheint es, im respektvollen, forschenden Dialog zwischen den Denkwegen und auch in der kreativen Begegnung im Zwischenmenschlichen. Sinngebung ist hier nicht mehr die monolithische Anstrengung eines einzelnen Menschen, einer einzelnen Disziplin, sondern ein mehrperspektivisches, vielschichtiges und integrierendes Auffächern des Sinnhorizonts. Sinn und Bedeutung ergibt sich dann immer wieder neu nur im gemeinsamen Gehen in diesen Horizont hinein. Und dieses Gehen selbst ist sinnerfüllt.

Author:
Mike Kauschke
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