Von der Selbstführung zur Co-Führung

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Interview
Published On:

July 18, 2022

Featuring:
Mounira Latrache
Categories of Inquiry:
Tags
No items found.
Issue:
Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
Explore this Issue

Please become a member to access evolve Magazine articles.

Wie können Teams eine gemeinsame Kreativität entwickeln?

Als Führungskraft in internationalen Konzernen kam Mounira Latrache an einen Punkt, wo sie spürte, ­dass ihr menschliche Werte wie Vertrauen in Unternehmen fehlen. Sie begann damit, Achtsamkeits­übungen anzubieten, und war überrascht, wie sehr sie angenommen wurden und zu mehr Offenheit und Kreativität führten. Mit diesen Erfahrungen berät sie heute Firmen, wobei sie erfahren hat, dass der Weg zu mehr Menschlichkeit in Unternehmen einen tiefgreifenden Wandel erfordert.

evolve: Was verstehst du unter Achtsamkeit?

Mounira Latrache: Es geht um die Fähigkeit, aus einer anderen Perspektive auf Themen zu schauen und unsere innere Welt wahrzunehmen. Die Essenz ist für mich, alles beobachten zu können und dadurch nachzuvollziehen, wie das, was ich im Inneren kreiere, im Außen wirkt. Diese Perspektive ist essenziell, um in unserer Welt etwas zu verändern und nicht immer wieder dasselbe zu kreieren. Für mich ist Achtsamkeit vor allem auch ein Instrument, um von der Selbstführung zur Co-Führung zu kommen.

e: Könntest du den Begriff der Co-Führung noch ein wenig erläutern?

ML: Wenn wir uns nur auf unsere innere Arbeit konzentrieren und sie im Außen nicht anwenden, geschieht keine wirkliche Veränderung. Wir sind soziale Wesen, wir gestalten im Miteinander, durch das Interagieren mit den anderen und die Anwendung im Kollektiv.

Andererseits können wir im Außen nichts kreieren und nicht in gelungene co-kreative Prozesse eintreten, wenn vorab die innere Arbeit nicht geschehen ist. Ohne das eine geht das andere nicht. Erst durch beides zusammen entsteht etwas Neues, das anderen Prinzipien folgt. Beispielsweise spielt hier Macht eine ganz andere Rolle, und das Miteinander ist altruistischer und beruht auf einem gegenseitigen Dienen. Co-Führung bedeutet, gemeinsam etwas zu schaffen, an dem alle beteiligt sind.

e: Du begleitest Unternehmen, die Achtsamkeit in ihr tägliches Arbeitsfeld inte­grieren wollen. Welchen Herausforderungen begegnest du auf dem Weg dorthin?

ML: Eine große Herausforderung, die mir auf dem Weg dorthin oft begegnet, sind die riesigen Kontrollsysteme. Ich spreche von Systemen aus unsichtbaren, unbewussten Absichten wie Macht und Angst. Diese werden oft von einer beinahe toxischen Positivität überdeckt: Alles scheint okay und muss immer positiv sein. Allen Mitarbeitern geht es scheinbar immer gut. Dabei lässt sich die Integration von Achtsamkeit im Arbeitsalltag ganz praktisch daran erkennen, dass Mitarbeiter sich auch mal trauen zu sagen, dass es ihnen heute nicht gut geht. Die Herausforderung liegt im Fehlen einer authentischen Ehrlichkeit, in der unangenehme Dinge benannt werden und Wahrhaftigkeit spürbar ist. Mitarbeiter haben oft Angst zu sagen: »Stopp mal, wir müssen es eigentlich anders machen. Irgendwas läuft hier falsch.«, oder auch zuzugeben, dass ihnen etwas zu viel wird. Verletzlichkeit zu zeigen, wird immer noch als Schwäche angesehen, daher zeigen wir uns gegenseitig nicht, wie es uns eigentlich geht.

Hinzu kommt die Präferenz vieler Unternehmen für schnelle Lösungen. Manche Unternehmen wollen achtsamer sein und dafür einen Workshop in 90 Minuten durchführen. Teilweise verstärkt sich diese Tendenz aktuell sogar noch, da durch die Inflation ein Überlebensinstinkt geweckt wird. Viele haben noch mehr Angst und stellen sich noch stärker die Frage: Wie überleben wir? Für den natürlichen Überlebensmechanismus scheint es kontra-intuitiv zu sein, gerade dann innezuhalten und einen Schritt zurückzutreten, wenn schnell gehandelt werden muss, aber genau dann ist es umso wichtiger.

Mindfulness Session auf der Google Both, beim Tech Open Air Berlin.

e: Wie gehst du in deiner täglichen Arbeit mit derlei Herausforderungen um?

ML: Mit Klarheit und Offenheit. Ich erkläre ganz transparent, dass es mit einem kurzen Workshop nicht getan ist, dass es um einen Prozess geht, der mehrere Jahre dauert und auf den man sich einlassen muss. Es geht nicht darum, dass Mitarbeiter mehr arbeiten können oder nur besser klarkommen, sondern um eine andere Art und Weise des Miteinanders. Damit sich ein Unternehmen wirklich für solch einen Prozess entscheidet, müssen diese Prozesse in die Führungsriegen kommen, also zu den Personen, die strategisch entscheiden, was mit dem Unternehmen passiert. Oft landet das Thema Achtsamkeit bei Human Resources-Verantwortlichen, weil es mit Gesundheit und Stressprävention in Verbindung gebracht wird. Und natürlich ist die Achtsamkeit für solche Themen auch relevant, aber noch viel relevanter in der Unternehmens- und Führungskultur. Es geht nicht nur darum, Mitarbeiter zu unterstützen, die eine schwierige Zeit haben, weil sie zu viel Stress haben. Es geht um eine Weiterentwicklung der Unternehmensstrategie.

e: Woran merkst du den Unterschied, wenn deine Arbeit gelungen ist?

ML: Die Faktoren, an denen sich die Achtsamkeit im Team besonders zeigt, ist der Grad des Vertrauens untereinander. Zeigen sich die Mitarbeiter so, wie sie sind? Haben sie das Gefühl, sie können frei ihre Meinung äußern? Wie wird kommuniziert? Ist Wertschätzung da? Besteht Mut, auch negative Dinge anzusprechen? Durch die Arbeit mit Achtsamkeit ändert sich das Miteinander. Es wird ehrlicher. Achtsamkeit hat in meinem Verständnis immer etwas damit zu tun, dass wir am Ende offener und verbundener mit anderen sind. Die Teams erkennen dann: Das Wir hat immer etwas mit dem Ich zu tun. Wie ich in das Wir ­hineingehe, gestaltet das Wir.

¬ DAS WIR HAT IMMER WAS MIT DEM ICH ZU TUN. ¬

Diese Art der Arbeit benötigt eine tiefe Innenschau, die manchmal durch Achtsamkeit allein nicht erreicht wird. Manchmal braucht es eine Therapie oder Schattenarbeit, also eine tiefere Erforschung, woher Mechanismen wie beispielsweise Kontrolle ursprünglich kommen. Achtsamkeit bedeutet, Verantwortung zu übernehmen und unbewusste Mechanismen im Miteinander und im Einzelnen wahrzunehmen, die das ganze System und das Kollektiv verändern.

e: Vor deiner Selbstständigkeit hast du bei Google als Führungskraft gearbeitet. Wie hat dich dein persönlicher Werdegang zu dem geführt, was du jetzt tust?

ML: Der Kern ist, dass ich mich schon seit jeher frage: Wie können wir anders miteinander sein? Als ich in die Arbeitswelt ­gekommen bin, habe ich relativ schnell gemerkt, dass es sich hier nicht gut anfühlt. Doch mir wurde gesagt, dass das nun mal so sei, und so habe ich begonnen, das Spiel mitzuspielen, bis ich gemerkt habe, dass ich mich selbst nicht mehr mag.

Dann hat mir meine ganz persönliche ­Geschichte geholfen: Als Tochter einer Gastarbeiterfamilie aus Tunesien bin ich zwar in Deutschland geboren und aufgewachsen, doch ich war schon immer zwischen zwei Welten. Ich glaube, so ist damals schon eine Fähigkeit in mir entstanden, die Dinge zu hinterfragen und auszuhalten, nicht ganz in eine Umgebung hineinzupassen. Ich habe überlegt zu kündigen und mich dann dafür entschieden, in der Unternehmenswelt zu bleiben, um herauszufinden, ob es auch andere Wege gibt: ganz individuell und genau da, wo ich bin.

So habe ich ganz praktisch erlebt, dass die erste Veränderung ich selbst bin. Auf einmal war mehr Vertrauen um mich herum, auf einmal hatte ich ganz andere Beziehungen mit Kollegen. Es wurde zu einem Experiment, das ich wiederholt habe, als ich intern den Job gewechselt habe und später Führungskraft wurde. Mit der Zeit habe ich begonnen, einmal am Tag eine zehnminütige Achtsamkeits-Runde zu veranstalten. Das habe ich über ein Jahr lang jeden Tag gemacht. Nach einem Jahr waren 800 Leute dabei, und ich wurde Teil von einem Pilotprogramm, aus dem dann die Non-Profit-Organisation Search Inside Yourself entstanden ist, die mittlerweile achtsamkeits-basierte emotionale Intelligenz zu mehreren 100.000 Mitarbeitern weltweit in verschiedenste Unternehmen gebracht hat.

Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass ich mir im Unternehmensumfeld genug bewiesen habe, dass es möglich ist, selbst der Wandel zu sein und dass ich mit Integrität darüber sprechen kann. Dann habe ich mein eigenes Start-up gegründet, um Organisationen auf dem Weg zu echter Co-Kreativität zu begleiten. Voraussetzung dafür ist, dass wir mit uns selbst im Einklang sind, dass wir eine tiefe Verbundenheit erfahren, dass wir im Miteinander mit anderen Menschen Vertrauen, Wertschätzung, Respekt, Offenheit, Authentizität und Transparenz leben. Denn wo der ganze Mensch gesehen wird, ist wahrhafte Co-Kreation möglich.

Author:
Mike Kauschke
Author:
Julia Wenzel
Share this article: