Von einem, der auszog, Himmel und Erde zu verbinden

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Published On:

April 16, 2020

Featuring:
Willigis Jäger
Enomiya Lassalle
Gertraud Gruber
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Issue:
Ausgabe 26 / 2020
|
April 2020
Menschliche Reife
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Zum Tod des Benediktiner-Paters und Zen-Meisters Willigis Jäger

1945. Der Krieg war zu Ende und es hatte mich als Soldat, leicht verletzt, ins Nirgendwo verschlagen. Ich wollte nur nach Hause und den vorrückenden Russen entkommen. In einer verlassenen Schule fand ich auf einem Pult einen Weltatlas. Vielleicht konnte ich so einen Bahnhof finden. Aber vor mir waren schon andere Soldaten hier gewesen, die sich die besten Seiten herausgerissen hatten. Mithilfe einer Europakarte mit den Bodenschätzen bin ich dann zu einem Bahnhof gelangt. Kaum zu glauben, aber es fuhr ein Zug Richtung Deutschland. Irgendwann blieb der mitten auf der Strecke einfach stehen. Ich sah aus dem Fenster und erkannte die Landschaft. Ich war nur zehn Minuten von zu Hause.« Diese Episode hat mir Willigis Jäger in einem Interview für einen Film über sein Lebenswerk 2010 auf dem Benediktushof erzählt. 1946, mit 25 Jahren, ist er in den Benediktinerorden in Münsterschwarzach eingetreten. Aber er war nicht der Typ, der in der Klause sitzt, um zu beten. Willigis hatte, so habe ich ihn jedenfalls erlebt, ein Talent, für Menschen Räume zu schaffen, in denen sie sich selbst finden konnten. Und zwar im ganz konkreten, realen Sinne wie auch als transzendente Erfahrung. Eine solche Kombination ist sehr selten.

WILLIGIS HATTE EIN TALENT, FÜR MENSCHEN RÄUME ZU SCHAFFEN, IN DENEN SIE SICH SELBST FINDEN KONNTEN.

Willigis Biografie ist eng mit der Situation der katholischen Kirche in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Ihr verdankte er seine Unabhängigkeit, denn als Benediktiner-Pater war er formal nur dem Orden verpflichtet. Seine Tätigkeit für die Caritas führte ihn auch nach Japan, damals noch ein fernes Land. Aber das japanische Zen hatte bereits seine Spuren in Nordamerika und Europa gelegt. Der berühmte Jesuitenpater Enomiya Lassalle hatte als einer der ersten die Zen-Meditation aus der japanischen Tradition mit nach Deutschland gebracht. Die katholische Avantgarde dieser Zeit war fasziniert. Der zunehmende Zerfall kirchlicher Gewissheiten war Humus für viele heimatlos gewordene intellektuelle Katholiken. Die Melange von Zen und Christentum war für sie eine Alternative zur Hippie-Kultur und den revolutionären 68ern.

Auch Willigis hatte in Japan das Zen kennengelernt – und es hat ihn in den Bann gezogen. Zurück in Würzburg scharrten sich in den neunziger Jahren viele von der Kirche Enttäuschte um ihn. Im »Haus Sankt Benedikt« gab er sehr erfolgreich Seminare zu Zazen und christlicher Kontemplation. Allerdings wurde der Systemkonflikt zwischen ihm und der katholischen Kirche immer deutlicher, denn bei ihm suchten viele heimatlos gewordene Katholiken auf der Suche nach der Spiritualität Zuflucht. Die Sache eskalierte schließlich und der Papst ließ Willigis die Ausübung des Priesteramtes verbieten, in den Augen seiner Anhänger geradezu ein Adelsschlag. Der Rauswurf aus dem Seminarhaus der Kirche mobilisierte eine unglaubliche Solidarität unter seinen Anhängern. In dieser Zeit bin ich ihm erstmals persönlich begegnet. Wir überlegten, wie Willigis eine neue Heimat finden könnte. Die Unternehmerin Gertraud Gruber bot ihm an, aus der ehemaligen Klosteranlage in dem kleinen Ort Holzkirchen in der Nähe von Würzburg ein Seminarhaus zu entwickeln. 2003 nahm der Benediktushof dort seinen Betrieb auf und wurde schon sieben Jahre später aufgrund des großen Erfolgs erweitert. Alexander Poraj, einer der von ihm bestimmten Nachfolger in der Zen-Linie, und ich waren zu dieser Zeit gemeinsam mit Willigis zur Klausur auf Teneriffa. Dort entstand auch die Idee, sein Lebenswerk in eine Stiftung zu geben, die West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung.

Seine Nachfolger waren bestimmt, sein Werk in guten Händen – Willigis konnte sich verabschieden. Das tat er auf seine Weise, indem sich sein Geist mehr und mehr aus der Welt zurückzog. Am 21. März 2020, kurz bevor er seinen Vormittags-Tee bekommen hätte, ist er entschlafen. Der Benediktushof, sein Heimathafen, war zu diesem Zeitpunkt auf null gefahren. Das Corona-Virus hatte für eine große Stille gesorgt. Die Welle war in das Meer zurückgekehrt. Lieber Willigis, du warst ein außergewöhnliches spirituelles Glückskind, du hast es geschafft, für viele Menschen Himmel und Erde wieder zu verbinden. Danke.

Author:
Paul Kother
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