Wachstumsschmerzen

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

October 19, 2017

Featuring:
Hans-Georg Gadamer
Marina Abramović
Wesley Clark jr.
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Issue 16 / 2017:
|
October 2017
Lichtblicke für eine verwundete Welt
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Leiden als kultureller Weckruf

Im Schmerz zeigt sich, wo das Leben aus den Fugen gerät. Unsere eigene Verletzlichkeit deutet dabei immer auch auf die größeren Wunden unserer Kultur. Das macht Heilung zu einem Prozess, in dem wir an den Narben der Geschichte reifen können. Dann wird aus Schmerz ein kultureller Wachstumsimpuls.

Für unser Alltagsverständnis ist es ungeheuerlich, im Schmerz eine tiefere Lebenskraft zu erkennen.

Wir erfahren Schmerz als etwas zutiefst Persönliches. Er vibriert in unserem Nervensystem, er erfüllt unser Herz. Er kann so überwältigend sein, dass wir in ihm erstarren. Gleichzeitig scheint in ihm so viel mehr auf als unsere eigene Verletzlichkeit. Der Schmerzmediziner Norbert Kohnen spricht von der »Schmerzlichkeit des gestörten Lebensvollzugs«. Im Schmerz offenbart sich auch, dass unsere Beziehung zum Leben, zur Welt verletzt wird. Körperliche Verletzungen oder Erkrankungen, seelische Verwundungen und emotionale Tiefschläge mögen wir als inneres Geschehen erleben. Was sie aber so schmerzlich sein lässt, ist, dass sie zwischen uns und der Möglichkeit eines gelingenden Lebens stehen. Und dieses Leben ist so viel größer als unser rein persönliches Erleben. Kohnen beobachtete in seinen ethno­medizinischen Studien, dass schamanische Heiler nicht unbedingt die Erkrankungen heilen, an denen ihre Patienten leiden. Sie öffnen mit ihren Ritualen einen kulturellen Raum, in dem der Schmerz zu einer Frage an die Gemeinschaft wird. Wie lässt sich mit dem Schmerz umgehen, der sich durch einen Menschen in diesem Beziehungsfeld zeigt? Es ist eine Frage an die Kultur im Ganzen, sich zu heilen.

Lebenszeichen

Individualistische Kulturen richten ihre Heilungsbemühungen vordergründig auf den einzelnen Menschen und seine Genesung. Es ist eine Verteidigung des Ichs gegen den Schmerz, eine Defensive. Dabei gerät aus der Wahrnehmung, dass im Leiden immer auch eine tiefere Lebenskraft um Ausdruck ringt. »Die eigentliche Dimension des Lebens wird im Schmerz erahnbar. Wir haben ungemeine Kräfte in uns. Die Bewusstwerdung dieser Kräfte aber vollzieht sich über den Schmerz«, betonte der große Philosoph Hans-Georg Gadamer in seinem letzten Vortrag, den er öffentlich hielt. Für viele seiner Zuhörer, allesamt Schmerzmediziner, war dies eine Zumutung, ist es doch ein wesentliches Anliegen der Medizin, den Schmerz zu nehmen. Gadamer lag es fern, provozieren zu wollen. Ihm ging es um das tiefere Verstehen einer Dynamik, die für unser Alltagsverständnis geradezu ungeheuerlich scheint. Was, wenn der Schmerz uns nicht vom Leben abschneidet und auf uns selbst zurückwirft, sondern uns ruft, es in Anerkennung all der Wunden bewusst zu leben und zu gestalten?

Für Gadamer war dies keine rein philosophische Frage. Als junger Mann an Polio erkrankt, war ihm der körperliche Schmerz stets ein enger Vertrauter. Als 22-Jähriger war er für längere Zeit mit schweren Rückenbeschwerden im Krankenhaus ans Bett gefesselt, wohl wissend, dass es für seine Krankheit noch keine Behandlung gab. Und doch hielt er seinen philosophischen Studien die Treue. Das Geistige entfaltete für ihn eine Kraft, die ihn über das eigene Leiden hinauszog. »Es gibt offenbar die Möglichkeit, in den Schmerz einzugreifen, indem man sich dem ganz hingibt, was einen ganz erfüllt«, gab der 100-Jährige seinen Zuhörern zu bedenken, nachdem er, gestützt auf zwei Gehstöcke, schweren Schrittes zum Podium gegangen war. Die tiefere Kraft, die er bezeugte, meint mehr als Selbstverwirklichung oder inneren Frieden zu finden. Die Aussicht, bei Husserl und Heidegger studieren zu können, ließ den jungen Gadamer eine größere Möglichkeit erahnen, der er unbedingt zum Ausdruck verhelfen wollte.

Die Anziehungskraft des Besseren

Diese Veränderungskraft des Schmerzes ist es, die seit jeher Kulturen immer wieder über sich hinauswachsen lässt. Wir haben einen tiefen Sinn dafür, was gut und richtig und dem Leben dienlich ist. Schmerz kann uns die Schönheit dieses Möglichen vergegenwärtigen. Wenn er uns bewegt, bewegt sich etwas Größeres. »Menschliches Bewusstsein kann sich auf vielfältige Weise weiten. Es wächst, wenn wir mehr Empathie und Mitgefühl entwickeln, wenn wir Wissen, Verstehen und Vergebung kultivieren, indem wir einen politischen Willen ausbilden und die Bestimmtheit, soziale und ökologische Gerechtigkeit zu verwirklichen. Bewusstsein wird auch angehoben, wenn Menschen den Raum ihres Selbstinteresses erweitern und ihre Vorstellungen von dem, was ein gutes Leben ausmacht«, so der integrale Philosoph Steve McIntosh. Leiden deutet immer auf unser tiefstes menschliches Wesen und kann uns für diese kulturellen Wachstumskräfte öffnen.

Im Ringen mit dem Schmerzlichen sind wir als Menschheit über die Jahrtausende aufgeblüht. Wie es gewesen sein mag, als Mitglied einer Stammeskultur tagtäglich der Gefahr ausgesetzt zu sein, von feindlichen Stämmen überfallen, beraubt oder gar getötet zu werden, können wir uns heute kaum noch vorstellen. Wie es ist, wenn ein Krieg die Leben von Millionen von Menschen zerstört, wollen wir heute immer weniger hinnehmen. Wir betrachten Leid immer seltener als Schicksalsschlag, dem wir hilflos ausgeliefert sind. Und wir erkennen zunehmend, was wir dazu beitragen können – und müssen –, dass selbst in tiefster Trostlosigkeit die Aussicht auf ein besseres Leben aufzuscheinen vermag.

Und doch ist da auch das Gefühl, in einer Zeit zu leben, die immer neuen Schmerz mit sich bringt. Viele Wunden der Vergangenheit sind noch nicht verheilt. Die hässlichen Spuren der Kolonialgeschichte sind im Fußabdruck heutiger Kämpfe immer noch zu sehen. In unserem Stolz auf zivilisatorische Errungenschaften wie politische Stabilität, Sicherheit und Wohlergehen schwingt auch der Schmerz derer, die für unsere Konsumbedürfnisse am anderen Ende der Welt schuften und mit ihrem Leben bezahlen. Nur wenn uns diese Verletzungen unter die Haut gehen und wir uns von ihnen erschüttern lassen, haben sie die Möglichkeit zu heilen, denn dann kann selbst unermessliches Leid zum Wachstumsschmerz werden.

Geschichte heilen

In Kriegen und kulturellen Konflikten zeigt sich dies besonders deutlich. Traumatisierte Kriegsrückkehrer werden nicht allein von dem Leiden überwältigt, das ihnen im Kampf wiederfahren ist oder das sie im Namen ihrer Nation anderen Menschen zugefügt haben. Sie können auch keinen Frieden finden, weil die Kultur, in die sie zurückkehren, dieses Leiden oft genug bewusst in Kauf nimmt und sich der moralischen und menschlichen Verantwortung dafür entzieht. Für viele amerikanische Veteranen wurde dieser Zynismus überdeutlich spürbar in den Ausschreitungen gegen die indigene Bevölkerung am Standing Rock (siehe evolve 12), wo seit mehr als einem Jahr Tausende Nachfahren der Ureinwohner und Aktivisten versuchen, heiliges Land vor dem Bau einer Ölpipeline zu schützen. Es ist die Neuauflage eines historischen Traumas. Im Versuch, die kulturelle Integrität, die ihnen geblieben ist, zu wahren, wird die indigene Bevölkerung von der Trump-Regierung immer drastischer bekämpft, mit juristischen Winkelzügen und mit Gewalt. Für Wesley Clark jr., der selbst in der Kavallerie gedient hatte, war diese Situation unerträglich. Das Land, für dessen Werte er wie so viele andere gekämpft und mit tiefen Verletzungen bezahlt hatte, verletzte hier vor aller Augen genau diese Werte. Für einen Schmerz wie diesen gibt es kein Heilmittel. Man kann sich ihm nur stellen. Und so reisten Clark und 4.000 Veteranen aus dem ganzen Land zum Standing Rock.

Gemeinsam mit Stammesältesten arrangierte Clark eine Zeremonie des Vergebens. Inmitten der Veteranen und Angehörigen der First Nation, viele unter ihnen von posttraumatischen Belastungsstörungen gezeichnet oder von einer Geschichte, die ihnen über Jahrhunderte tiefe Wunden zugefügt hat, fiel er auf die Knie: »Viele von uns sind aus den Einheiten, die euch über unzählige Jahre verletzt haben. Wir kamen. Wir haben euch bekämpft. Wir haben euer Land genommen. Wir haben euch in so vielerlei Hinsicht Schmerzen zugefügt, aber wir sind gekommen, um zu sagen, dass es uns leid tut. Wir stehen euch zu Diensten und wir bitten um eure Vergebung.« Einstigen Kämpfern rannen Tränen über die Wangen. In vielen Gesichtern und Körpern schien sich etwas von der inneren Erstarrung zu lösen, die eine Kultur der Gewalt und Verleugnung mit sich bringt. »PTBS überschneidet sich so sehr mit den Traumata der Sioux«, bemerkte eine Stammesangehörige sichtlich bewegt. Im gemeinsamen Zulassen und Bezeugen eines Schmerzes, der so präsent und doch auch unaussprechbar ist, ging etwas auf. Menschen berührten sich in ihrem Verletztsein und öffneten eine Tür, hinter der ein heilsameres Morgen erahnbar wurde.

Die Ignoranz hinter der Normalität

Wenn die Verletztlichkeit des Lebens so ungeschminkt zum Ausdruck gebracht wird, gehen Menschen in Resonanz, ungeachtet der eigenen Wunden, die vielleicht nie ganz heilen werden. Solche Momente sind kostbar. Und sie sind selten. In westlichen Wohlstandsgesellschaften ist der Schmerz, den eine Kultur hervorbringt, häufig latenter Natur. Historische Traumata liegen oft so lange zurück, dass sie nicht mehr unmittelbar zu spüren sind. Die Nadelstiche materieller Ungerechtigkeit und sozialer Ausgrenzung schmerzen, aber sie hinterlassen selten sichtbare Narben. Und der Individualismus lässt uns glauben, dass wir allein für das Gelingen unseres Lebens verantwortlich sind. Die Angst vor Arbeitslosigkeit oder Armut, der Schmerz über eine zerbrochene Beziehung oder Verletzungen aus unserer Kindheit können uns dann so vereinnahmen, dass wir uns in uns selbst verhärten. Dann denken wir vielleicht, wir müssten erst die eigenen Verletzungen heilen, bevor wir anderen helfen können. Oder wir stoßen sie sogar zur Seite, weil wir sie als Konkurrenz fürchten. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer beobachtet seit Jahren, wie sich durch »Signalereignisse« wie den 11. September oder die Finanzkrise Ausgrenzung und Vereinzelung beschleunigen. »Dieser Prozess schleicht sich ein und verläuft relativ unbemerkt, weil sich keine protestierenden Kollektive mehr bilden. Vielfach lautet das Motto: Rette sich, wer kann. Dadurch ist das Leben in bestimmten sozialen Gruppen permanent angstdurchsetzt und verätzt«, sagt er.

Im Ringen mit dem Schmerzlichen sind wir als Menschheit über die Jahrtausende immer wieder über uns hinausgewachsen.

Dieser Rückzug ins Private ist fatal, denn er überlässt die de­struktiven Dynamiken einer Kultur sich selbst. Dann werden sie zur Routine. Anfang des Jahrtausends waren Terroranschläge in Europa noch eine Seltenheit, in den letzten fünf Jahren jedoch gab es rund 20 feindliche Attacken in europäischen Städten mit nahezu 500 Toten. Wir beginnen, uns an das scheinbar Unvermeidliche zu gewöhnen. Und statt immer stärkeren Schmerz zu empfinden, flüchten wir in Rationalisierungen. »Gewöhnung bedeutet, dass wir die Größenordnungen sehen. Wir sehen die Gefahr nicht mehr als neu und unbeherrschbar, sondern reihen sie ein in die ›normalen‹ Gefahren. Deshalb ist dieser Gewöhnungseffekt, den wir jetzt überall sehen, etwas Natürliches. Da braucht keiner denken, dass man ein herzloser Mensch sei, wenn man nicht mehr in dem Maße trauert, wie man es vorher getan hat«, erklärt der Angstforscher BorwinBandelow. Es sind gefährliche Gedankengänge, denn sie lassen das Leiden zum Normalzustand werden. Wenn der Schmerz uns aber nicht mehr berührt, wird er zu einer akzeptierten Lebensform. Für eine Kultur besteht dann keinerlei Notwendigkeit mehr, sich in Frage zu stellen und sich offenen Herzens den Verletzungen, die immer wieder geschehen, zuzuwenden. Wollen wir das? Möchten wir so leben?

Eine Tür öffnen

»Wer immer den Weg des geringsten Widerstandes geht, ändert nichts und dreht sich im Kreis. Schmerz ist für mich eine Tür zu einer höheren Bewusstseinsebene, wo das Innere zu leuchten beginnt. Die Befreiung kommt, wenn man sich aufgibt und merkt: Es geht ja doch weiter«, sagt die Künstlerin Marina Abramović. Der schlimmste aller Kriege liegt gut 70 Jahre zurück. Und doch wird, gerade jetzt, an so vielen Orten noch immer gekämpft. Dass wir heute in Deutschland in Frieden leben können, verdanken wir auch jenen, die sich dem Schmerz der Nazi-Zeit bewusst zugewendet haben, die aufgestanden sind für eine bessere Zukunft. Und das, obwohl so viele von ihnen in ihrer Seele zutiefst verwundet waren. Was spüren wir in Anbetracht der Kriegbilder aus Syrien oder wenn wir hören, dass wieder hunderte Menschen auf ihrer Flucht vor Brutalität und Armut im Mittelmeer ertrunken sind? Bedauern wir, dass in unserer Gesellschaft ein sorgenfreies Leben nicht für jeden möglich ist? Ahnen wir, dass der Schmerz der Unsicherheit, den andere erleiden, immer auch unser eigener ist? Mit dem Schmerz zu leben, braucht all unseren Mut, denn es gibt kein Allheilmittel. Wir können uns dem Leid nur öffnen und für all die Verwundungen unserer Zeit transparent werden. Heilung ist kein Weg zurück zu einer verlorenen Gesundheit, sie beginnt mit einem bewussten Schritt durch den Schmerz hindurch.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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